Heute in den Feuilletons

Das ist kein Theater

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2009. Die Verfilmung von Marcel Reich-Ranickis Leben findet höfliche Aufnahme. Die taz zürnt dem Zorn. Nachtkritik und SZ schreiben Kritiken der Hauptversammlung von Daimler. Die Zeit erklärt Open Access. Die Blogs bringen Eric Schmidts Rede an die Zeitungen: Google ist die einzige Lösung. Die Zeitungen sehen das laut FTD aber ganz anders.

Welt, 09.04.2009

Eckhard Fuhr schickt eine freundliche Besprechung der Verfilmung von Marcel Reich-Ranickis Memoiren, die am Karfreitag auf Arte läuft. Auch die Arbeit der Schauspieler Katharina Schüttler und Matthias Schweighöfer lobt er. Nur eins hat ihn gestört: "Schweighöfer verzichtet glücklicherweise darauf, das allbekannte Lispeln seiner Figur zu imitieren. Seine Maskenbildner haben eine beträchtliche Ähnlichkeit mit Fotos des jungen Reich erzeugt. Aber doch fällt es schwer, den kühlen und konzentrierten, in jeder Situation selbstbeherrschten jungen Mann mit dem rumpelstilzchenhaften Temperamentsbolzen in Verbindung zu bringen, als der der Reich-Ranicki unserer Tage sich geriert, sobald die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf ihn gerichtet sind."

Weitere Artikel: Ulrich Weinzierl gratuliert Claudio Magris zum Siebzigsten. Matthias Heine mokiert sich in der Leitglosse über die x-te Neuedition der Beatles-Alben. Gerd Lüdemann, Professor für die Geschichte des frühen Christentums, macht darauf aufmerksam, dass nicht die Juden, sondern die Römer Jesus den Prozess gemacht haben. Rüdiger Sturm unterhält sich mit dem Regisseur Paul Verhoeven, der ein Buch über den historischen Jesus geschrieben hat. Gerhard Midding gratuliert Max von Sydow zum Achtzigsten.

Besprochen wird Jan Schüttes Film "Bis später, Max" nach Erzählungen von Isaac B. Singer. Und Christina Bylow porträtiert den Hauptdarsteller des Films, den Wiener Komödianten Otto Tausig.

NZZ, 09.04.2009

Philipp Meier hat im Zürcher Museum Rietberg eine Ausstellung des chinesischen Malers und Exzentrikers Luo Ping (1733-1799) besucht, die zum ersten Mal überhaupt Werke des Malers zeigt und durch seine unterschiedlichen Lebensstationen führt. Vor allem hat es ihm Pings wohl berühmtestes Werk angetan, eine fünfundzwanzig Meter lange Querrolle mit dem Titel "Geisterbelustigung": "Stets hat der Künstler diese Rolle mit sich geführt, sozusagen als seine Visitenkarte, und sämtliche berühmten Männer seiner Zeit haben darauf einen Kommentar angebracht. Die acht Darstellungen von Geistern, Kobolden und Gespenstern sollen auf Augenzeugenschaft beruhen, denn der mit jadegrünen Augen ausgestattete Luo Ping hatte angeblich die Gabe, Geister zu sehen."

Weiteres: So "fabelhaft" wie Marcel Reich-Ranicki selbst fand Joachim Güntner die verfilmte Biografie des Literaturkritikers nicht. Mit Unbehagen sieht er, dass MRR quasi immun wird: "Begrüßen aber kann man eine Entwicklung, die allfällige Kritik an Reich-Ranicki auf Bösartigkeit reduziert, wohl kaum."

Besprochen werden Filme, darunter der Liebesfilm "Last Chance Harvey", die Familiengeschichte "Maman est chez le coiffeur" von Lea Pool, und Bücher, darunter ein Bildband über Sophia Loren, ein Portfolio zum Leben von Frank Lloyd Wright, Daniel Schwartz' Reisebericht "Schnee in Samarkand" und eine Publikation zu 200 Jahren Münchner Kunstakademie.

Zeit, 09.04.2009

Diesen Artikel auf der Wissen-Seite der Zeit haben wir gestern übersehen. Christoph Drösser erklärt den Unterzeichnern des "Heidelberger Appells" geduldig, was es mit Open Access auf sich hat. Und "wenn man den Kampfbegriff der Enteignung schon in den Mund nimmt, dann sollte man ihn eher auf die bisherige Form des wissenschaftlichen Publizierens anwenden. Die lässt den Autoren zwar ihr Urheberrecht - das kann ihnen in unserem Rechtssystem ohnehin niemand nehmen -, aber alle Rechte der Verwertung seines geistigen Eigentums tritt der Autor an einen Verlag ab - und das meistens, ohne dass er am Erlös aus dem Verkauf seiner Texte beteiligt wird. Und just diese Knebelung soll dank Open Access gelockert werden."

Aus den Blogs, 09.04.2009

Henryk Broder erzählt noch mal, warum die Juden Pessach feiern: "Es ist wie immer: Wir ziehen aus Ägypten los, um die nächsten 40 Jahre durch die Wüste zu wandern. Eigentlich wollte Moses sein Volk nach Kanada führen, weil er aber ein Stotterer war, kam er über Ka...Ka...Ka nicht hinaus. Und schon waren die Israeliten auf dem Weg nach Kana'an. Das war der Beginn des Nahostkonflikts."

Poynter hat die Rede mitgeschrieben, die Googles Eric Schmidt bei der Konferenz der Newspaper Association of America hielt. Hier ein Absatz, der auf die Vorwürfe gegen Google News antwortet: "When I listen to the radio I hear roughly the same headlines that I get on Google News. So I'm not sure that it's a new form, it's a transmitted form. My general answer to this question has to do with getting people to take the next step. If you see a headline what I want you to do is I want you to think, 'Oh that's interesting, I want to know more,' and then based on that I want you to click to the newspaper Web site or to Wikipedia or to wherever. ... we think we can build a business -- again, with you guys -- with significant advertising resources, where the advertising is targeted to the content. To me that's the only solution we've come up with to this problem."

Jeff Jarvis hat eine eigene kleine Rede vorbereitet, die er den Zeitungen gern gehalten hätte: "You blew it. Your Google snits don't even address your far more profound problem: the vast majority of your potential audience who never come to your sites, the young people who will never read your newspapers. You all remember the quote from a college student in The New York Times a year ago, the one that has kept you up at night. Let’s say it together: 'If the news is that important, it will find me.' What are you doing to take your news to her? You still expect her to come to you - to your website or to the newsstand - just because of the magnetic pull of your old brand. But she won't, and you know it. You lost an entire generation. You lost the future of news."

Dirk Platte, Justiziar des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger, möchte laut Financial Times gern das Urheberrecht verändern, um die Zeitungen im Netz etwa vor Online-Pressespiegeln zu schützen. Jetzt liegt das Urheberrecht beim Autor, der wiederum den Zeitungen ein Verwertungsrecht einräumt. "'Einfacher wäre es, wenn der Verlag ein originäres Leistungsschutzrecht hätte. Das kennen wir etwa aus der Musikindustrie', so VDZ-Justiziar Platte. 'Der Autor hielte dann das Recht am einzelnen Beitrag, der Verwerter am gesamten Werk, also etwa einer Zeitschrift.'"

nachtkritik, 09.04.2009

Elena Philipp hat es in die Hauptversammlung von Daimler-Benz geschafft, für die sich das Theaterkollektiv Rimini Protokoll Aktien hat übertragen lassen, um sich und rund 200 Besuchern Zugang zu dieser "Inszenierung der Macht" zu verschaffen: "Im Showroom glitzern die Karossen, drum herum frühstücken die Kleinaktionäre, bis das Programm im Saal beginnt. Anzugträger, ältere Ehepaare, Hostessen im Konzern-Blau-Weiß. An verschiedenen Stationen dieser sozialen Installation kann man Textbausteine abrufen: 'Könnten Sie mir das neue Hybrid-Auto vorstellen?', 'Seit wann veröffentlicht Daimler einen Nachhaltigkeitsbericht?'. Die Darsteller haben ihre Rolle als Autoverkäufer oder Hostess mal besser, mal schlechter drauf. Die Aktion im Foyer ist nicht leicht zu überschauen, Scheinwerfer blenden, verwirrende Treppenkonstruktionen leiten in den Saal. Auf der Bühne setzen sich Vorstand und Aufsichtsrat, alphabetisch hinter Pulten aufgereiht. Darunter eine einzige Frau. Das Bühnenbild: Auf Bildschirmwirksamkeit getrimmt, weiße Kanten leuchten auf den Monitoren daimlerblau."

FR, 09.04.2009

Judith von Sternburg nimmt für Times Mager Uwe Tellkamps "Turm" mit in den Frisörsalon. Daniel Kothenschulte gratuliert dem Fernsehmacher Wolfgang Menge zum 85. Arno Widmann gratuliert Claudio Magris zum Siebzigsten.

Besprochen werden Andy Fickmans Fantasyfilm "Die Jagd zum magischen Berg", die Ikea-Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne, Dror Zahavis Fernsehfilm über die Autobiografie Marcel Reich-Ranickis, Alexander Adolphs Film "So glücklich war ich noch nie", ein Liederabend mit Miah Persson in der Frankfurter Oper, zwei Stücke von David Mamet in den Bochumer Kammerspielen, eine CD der dänischen Sängerin Tina Dico, Alex Proyas' Science-Fiction-Film "Knowing" und Bücher, darunter drei neu übersetzte Romane von Saul Bellow und Kathrin Schmidts Roman "Du stirbst nicht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 09.04.2009

Robert Misik erkundet Geschichte und Anatomie eines Gefühls, das Bankern und Managern derzeit in Form von Volkszorn entgegenschlägt - ein produktiver, aber - in diesem Fall - planloser Affekt der Schlechtweggekommenen: "Zorn ist unterkomplex. Deshalb ist die sprachlose Zornigkeit derer, die zum 'kleinen Mann' kleingemacht sind, auch der Humus aller Populismen. Für die Boulevardmedien ist das Zornschüren nichts weiter als eine Geschäftsidee. Zorn ohne Idee sucht sich darum die falschen Adressaten."

Weiteres: Andreas Busche zeichnet die Entwicklung des 3D-Kinos nach, das durch digitale Projektionstechnik inzwischen ein neues Level erreicht hat und vor allem in Animationsfilmen Ernst machen will. Besprochen werden der Thriller "Bedingungslos - Just another Love Story" von Ole Bornedal und die DVD von Eric Rohmers Verfilmung des Schäferromans "Les Amours d'Astree et de Celadon" aus dem 17. Jahrhundert.

Auf der Meinungsseite erklärt John C. Hulsman, weshalb Barack Obamas Europareise reines "Trara" gewesen sei: "Alle lieben ihn, aber keiner tut, was er sagt."

Hier
Tom.

SZ, 09.04.2009

Gelungen findet Peter Laudenbach den Versuch der Postdramatiker von Rimini Protokoll, die Daimler-Hauptversammlung in eher feindlicher Absicht fürs Theater zu übernehmen. Zweihundert Neu-Aktionäre waren als ganz legal eingeschleuste Besucher vor Ort: "Geradezu rührend ist es, wie sich der Aufsichtsratsvorsitzende Manfred Bischoff in seiner Begrüßungsrede dieser Rimini-Zweckentfremdung zu entziehen versucht: 'Das ist kein Theater und kein Schauspiel!', ruft er ins Auditorium. Ein paar Sätze später lädt er die Aktionäre dann prompt zum 'Dialog'ein. Der Deutsche Bühnenverein mit seinem ewigen Werbespruch 'Theater muss sein' darf sich bestätigt fühlen: Es gibt in der Gesellschaft des Spektakels offenbar kein Entrinnen vor der Theatralisierung der Öffentlichkeit."

Weitere Artikel: Zwei Texte zum bevorstehenden Karfreitag auf der ersten Feuilleton-Seite: Der Staatsrechtler Horst Dreier führt aus, wie sich der Theologe Joseph Ratzinger an Hans Kelsens wertrelativistischer Deutung des Karfreitagsgeschehens störte. Reinhard J. Brembeck erklärt, was Georg Philipp Telemanns "Brockes-Passion" und die Weltfinanzkrise mit Jesu Tod zu tun haben. Volker Breidecker gratuliert dem Schriftsteller Claudio Magris zum siebzigsten Geburtstag.

Auf der Kinoseite berichtet Fritz Göttler von einer Begegnung mit dem Filmemacher Werner Schroeter. Susan Vahabzadeh erklärt, dass die Börse wenig Vertrauen in den neuen Disney/Pixar-Film "Up" (der immerhin das Festival von Cannes eröffnen wird) zeigt. Gottfried Knapp gratuliert dem Schauspieler Max von Sydow zum Achtzigsten.

Besprochen werden die in der Hamburger Kunsthalle gezeigte Ausstellung "Edgar Degas. Intimität und Pose", Ole Bornedals Film "Bedingungslos", die Doku "Henners Traum", auf der Medienseite die Verfilmung von Marcel Reich-Ranickis Autobiografie "Mein Leben" ("kein richtig schlechter Film und auch kein wirklich guter" meint Claudia Tieschky) und Bücher, darunter Sarah Kuttners Roman "Mängelexemplar" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 09.04.2009

Nach Frank Schirrmachers engagierter FAS-Büro-Berichterstattung heute in der Wochentags-FAZ ein Interview zur Verfilmung von Marcel Reich-Ranickis "Mein Leben". Zur Seite springt im Interview dem Verfilmten der Literaturwissenschaftler Peter von Matt, der als Filmkritiker dies zu sagen hat: "Erst einmal sind es sehr gute Schauspieler. Und dann ist der Film ganz einfach geführt und vermeidet eigentlich alle die Fehler, die ich gefürchtet hatte, nämlich eine Psychologisierung im Sinne eines Spielfilms und dann eine Dramatisierung der Ereignisse, die ja am gewaltigsten wirken dadurch, dass sie nur in der größtmöglichen Einfachheit vorgeführt werden. Dass das möglich ist, zeigt, dass hinter diesem Film ein großes Sensorium steht."

Weitere Artikel: Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat einen Vorschlag zur affirmative action in der Familienpolitik: "Bei der Besetzung von Arbeitsplätzen sollte bei gleich qualifizierten Bewerbern Vorrang für Eltern und für Menschen gelten, die familiale Leistungen wie Pflegedienste erbringen." In der Glosse schildert Christian Wildhagen, wie es kam, dass in New York demnächst ein per YouTube gecastetes "Online-Sinfonieorchester" auftreten wird. Raphael Gross ist nach den vielen Klischees in Bernhard Schlinks "Vorleser" und auch den nicht ganz so vielen in der Filmversion gar nicht wohl. Viele italienische Baudenkmäler im Erdbebengebiet haben die Katastrophe halbwegs gut überstanden, weiß Dirk Schümer zu berichten. Oliver Tolmein ist entsetzt, dass der Gesundheitsausschuss der EU von der "Ausmerzung" seltener Erbkrankheiten durch Auswahl "gesunder Embryos vor der Implantation" spricht. Uwe Ebbinghaus freut sich auf die zu Ostern gezeigte norwegische Privatdetektiv-Miniserie "Der Wolf".

Auf der Kinoseite schildert Peter Körte, wie sich die Krise in Hollywood breitmacht. Bert Rebhandl berichtet von einer schon etwas länger zurückliegenden Wiener Retrospektive zum italienischen Kino der sechziger Jahre. Andreas Kilb gratuliert knapp Max von Sydow zum Achtzigsten. Auf der Medienseite informiert Mark Siemons, dass in China jetzt, wie schon länger erwartet, private Verlage legalisiert werden.

Besprochen werden die Ausstellung "Reisen. Ein Jahrhundert in Bewegung", mit der das neue Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts in Baden-Baden eröffnet wird, Alexander Adolphs Film "So glücklich war ich noch nie", das Wii-Computerspiel "Deadly Creatures" und Bücher, darunter Claudio Magris' Reisebilder "Ein Nilpferd in Lund" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).