Heute in den Feuilletons

Ein echter Dudler

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2009. Wieso haben wir immer alles falsch gemacht? fragt der Schriftsteller Wang Xiaoshan in der taz. Warum haben Jürgen Boos und Gottfried Honnefelder bei der Eröffnung der Buchmesse nicht nach dem inhaftierten Autor Liu Xiaobo gefragt, will die Welt wissen. Die Mona Lisa ist keine Lisa, behauptet in der SZ der Historiker Roberto Zapperi. Etwas peinlich findet die Autorin Jagoda Marinic die Reaktion der New York Times auf Herta Müllers Nobelpreis. Die NZZ besucht das neue Grimm-Zentrum in Berlin.

TAZ, 15.10.2009

Der Pekinger Autor Wang Xiaoshan kommentiert den Auftakt der Frankfurter Buchmesse eher unglücklich. Er hatte sich tatsächlich mehr Dialog erhofft: "Wahrscheinlich ist den Deutschen gar nicht so ganz klar, mit welcher Tragödie sich die Chinesen herumschlagen: Deutschland hat jeweils mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Fehler gemacht. China hingegen trifft seit 150 Jahren nahezu bei allen wichtigen Fragen die falschen Entscheidungen. Die Chinesen brauchen nicht Sympathie oder Mitgefühl, was sie wirklich brauchen ist Hilfe zur Reflexion: Warum ist das passiert, wieso war alles immer falsch?"

Das Rededuell zwischen Angela Merkel (hier) und Chinas Vizepräsident Xi Jinping (hier) fasst Georg Blume zusammen: "Es ging eigentlich um nichts, nur um Bücher und die politische Ehre."

Weiteres: Im Gespräch mit Anke Leweke erklärt Regisseur Park Chan-wook das Prinzip seines Films "Durst": "Weil ich den Akzent auf den moralischen Verfall meines Helden gelegt habe, wird dem Genre alles Fantastische genommen. Ich finde, dass es deshalb ein sehr realistischer Vampirfilm geworden ist, der existenzielle Fragen aufwirft." Besprochen werden auch Yazujiro Ozu wieder in die Kinos kommender Klassiker "Reise nach Tokio" und Sergej Eisensteins "Que viva Mexico!" auf DVD.

Und Tom.

NZZ, 15.10.2009

Jürgen Tietz kann sich nicht satt sehen am neuen Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Berliner Humboldt-Universität, das vom Schweizer Architekten Max Dudler entworfen wurde. Er lobt den kantigen und kubischen Bau als "echten Dudler"; allerdings nicht ohne der architektonischen Nachbarschaft des Neubaus einen Seitenhieb zu verpassen: "Wie anders gibt sich da die geschmäcklerische Neubebauung an der nahen Kreuzung von der Friedrichstraße zu den Linden, wo der letzte innerstädtische Platzraum gerade dem Diktat des 'Planwerks Innenstadt' geopfert wurde. Vor lauter Abgetreppe und Rumgesimse an der Fassade entsteht dort anstelle architektonischer Klarheit eine banale Puppenstubenatmosphäre."

Weiteres: Ronald D. Gerste beleuchtet schlaglichtartig das Werk des Karikaturisten Herbert Lawrence Block anlässlich einer Ausstellung in der Library of Congress in Washington. Joachim Güntner besuchte auf der Buchmesse ein Forum über funktionale Analphabeten und erzählt, wie unnatürlich die Kulturtechnik Lesen doch eigentlich ist.

Auf der Filmseite mag Alexandra Stäheli Sam Mendes' kleine Komödie "Away We Go" ganz gerne, gerade auch weil er nicht so "diskursschwer" ist. Geri Krebs bewundert den Minimalismus in Adrian Biniez' Erstlingswerk "Gigante".

Buchbesprechungen gibt es heute zu Michael Hampes Glücksphilosophie "Das vollkommene Leben" und Eveline Haslers Erzählung "Engel im zweiten Lehrjahr" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 15.10.2009

Nach Michael Hanekes palmenprämiertem Film "Das weiße Band" musste Daniel Kothenschulte erst einmal tief durchatmen: "Der eigentliche Schrecken dieses Films ist weniger dieses Geschehen als die Hermetik seiner Inszenierung, die jede positive Regung aus dem Spiel verdammt. 'Immer wenn ich eine Szene etwas länger ausgespielt habe, um eine leichtere Regung hinein zu bringen, die die Amerikaner relief nennen, schnitt Haneke es hinterher wieder weg', erklärte der Schauspieler Burkhart Klaußner in Köln durchaus bewundernd das Haneke-Prinzip."

Weiteres: In Times mager lernt Arno Widmann dank eines Kalenders aus dem Verlag der Weltreligionen die "Lust, sich in seiner Wesenheit zu erholen" kennen. Autor Thomas Klupp erzählt zur Buchmesse Franziska Schubert von seinen nächtlichen Schreibgewohnheiten.

Besprochen werden der Horrorfilm "Durst" des koreanischen Regisseurs Park Chan-Wok, der auch in einem kurzen Interview mit Daniel Kothenschulte über seinen Fim spricht, die Ausstellung "Alexander der Große und die Öffnung der Welt" in Mannheim, zwei Ausstellungen zu Indien in Wien und Klosterneuburg, Yang Xianhuis Erinnerungsband "Die Rechtsabweichler von Jiabiangou" und Hans Blumenbergs Geistesgeschichte der Technik (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 15.10.2009

Die Autorin Jagoda Marinic macht sich in ihrem Blog Gedanken über die recht ignorante Reaktion der New York Times auf Herta Müller ("Herta WHO"?): "Dass Deutschland keine große Rolle spielt auf dem US-Markt, das wissen wir längst, aber Rumänien? Wie ist es möglich, dass Herta Müller trotz der Anwärterschaft auf den Nobelpreis bis jetzt überhaupt nicht bemerkt worden war? Schließlich hat der Verleger beste Kontakte in die USA, verlegt hierzulande seinerseits Nobelpreisanwärter aus den Staaten, denen er Ruhm, Ehre und eine große Lesergemeinde verschafft hat. Die Berge Philip-Roth-Bücher dürften selbst weniger erlesenen Buchhändlern in Deutschland ein Begriff sein."

Welt, 15.10.2009

Dass sich die Politiker bei der Eröffnung der Buchmesse diplomatisch verhielten, findet Uwe Wittstock in Ordnung. "Das ist ihre Aufgabe. Buchmessen-Direktor Juergen Boos und Börsenverein-Chef Honnefelder taten es ihnen gleich. Ist das ihre Aufgabe? Zu den besten Traditionen der Literatur gehört es, den Einzelnen gegen die Zumutungen der Politik zu verteidigen. In China wird Liu Xiaobo, der Ex-Präsident des unabhängigen chinesischen PEN und Bürgerrechtler, seit Monaten in Haft gehalten. Er hat ein Anrecht darauf, vom Literaturbetrieb nicht vergessen zu werden. Nach seinem Schicksal zum Beispiel müssen die chinesischen Machthaber in Frankfurt im Namen der Literatur gefragt werden. Hätte es dafür eine bessere Gelegenheit als die Eröffnungsveranstaltung gegeben? Doch Liu Xiaobos Name fiel nicht."

Ebenfalls auf den Forumsseiten spricht Franz Häuser, Rektor in Leipzig, im Interview über die unglückliche "Studieren in Fernost"-Kampagne, mit der Studenten an ostdeutsche Universitäten gelockt werden sollen, die Vorteile der Bologna-Beschlüsse und Exzellenz-Universitäten.

Im Kulturteil äußert Gerhard Charles Rump seine Zweifel, ob ein Fingerabdruck beweisen kann, dass die "Bella Principessa", die lange für ein deutsches Bild des 19. Jahrhunderts gehalten wurde, wirklich von Leonardo ist. Nach den Reden zur Eröffnung der Buchmesse hofft auch Eckhard Fuhr, nun genug Diplomatisches gehört zu haben. In der Leitglosse kommentiert Gerhard Gnauck den Artikel in der Rzeczpospolita, der den Nobelpreis für Herta Müller bedauerte. Georg Girardet, Koordinator der Leipziger Demokratiekonferenz, spricht im Interview über die Bedeutung der Montagsdemonstrationen 1989. Gerhard Gnauck erinnert an den vor 50 Jahren in München vom KGB ermordeten ukrainischen Politiker Stepan Bandera, vom dem die Nazis sich einiges erhofft hatten.

Besprochen werden Park Chan-wooks Vampirfilm "Durst" (Hanns-Georg Rodek hat hier verstanden, welche Verwandschaft zwischen Vampir und katholischem Priester herrscht: "um das ewige Leben geht es. Die katholische Kirche verspricht es. Der Vampir hat es."), Sam Mendes' Film "Away we go" (daneben erklärt Mendes im Interview, wie man umweltschonend dreht) und Mika Kaurismäkis Film über den Schlagzeuger Billy Cobham "Sonic Mirror".

Zeit, 15.10.2009

Im Interview mit Ulrich Greiner spricht Nobelpreisträgerin Herta Müller über die frühe Verfolgung, den Zorn auf die Diktaturen und die Gefühle der Ohnmacht: "Ich habe mir nie vorgenommen zu schreiben. Ich habe damit angefangen, als ich mit nicht anders zu helfen wusste, als die Schikanen gegen mich immer unerträglicher wurden. Mein Vater starb damals, und ich wusste nicht mehr, wo ich stehe und wer ich eigentlich bin. Als ich zum Staatsfeind gemacht worden war..."

Iris Radisch, die vor einem Monat noch den Roman "Atemschaukel" verrissen hatte ("von peinigender Parfümiertheit") lobt nun Müllers "Schmerzenspoetik". Und Wolfgang Büscher begibt sich auf Spurensuche nach Rumänien in Müllers Geburtsort Nitzkydorf: "Ein Siedlerdorf in der Puszta, in der Prärie des Ostens, streng rechtwinklig entworfen, die Häuser durchnummeriert von 1 bis 473."

Weitere Artikel: Gero von Randow nimmt eher unaufgeregt die neuen französischen Bücher über Deutschland zur Kenntnis: "Die Emulsion aus Nazidreck und Teutonentum bleibt dick wie Mayonnaise." Katja Nicodemus warnt, dass Park Chan-wooks Vampirfilm "Durst" die Liebe in ein noch blutigeres Schlachtfeld verwandelt als Lars von Triers "Antichrist": "Schlimmste Zumutung ist eine Tonspur, die unerbittlich jedes Spritzen und Schmatzen, Schneiden, Sägen, Wirbelbrechen und Gliederzerquetschen registriert." Als Autorin "barock wuchernder Romane" schätzt Helmut Böttiger Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt. Der Frankfurter Philosoph Christoph Menke schaltet sich in Streit zwischen Axel Honneth und Peter Sloterdijk ein. Und der Soziologe Wolfgang Engler spricht im Interview mit Alexander Cammann über den Umstand, dass Schwarzgelb immerhin von einer ostdeutschen Frau und einem schwulen Mann geführt wird, was sich leider nicht in einem politischen Nonkonformismus niederschlage (während bei der Linken zwei ausgewachsene Alphatiere das Sagen haben). Benedikt Erenz besichtigt die Ausstellung zu Alex Katz im Museum Kurhaus in Kleve. Christian Schüle stellt das Franz Radziwill Haus in Dangast vor.

Besprochen werden unter anderem Botho Strauß' neues Buch "Vom Aufenthalt" und Daniel Goldhagens Geschichte der Völkermorde "Schlimmer als Krieg" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Auf der Meinungsseite fordert der britische Theoretiker John Gray eine Freigabe der Drogen. Im Wissensteil erklärt Christoph Drösser, warum Neue Musik anstrengend ist. Für das Magazin hat Günter Wallraff wieder recherchiert - diesmal als Schwarzer maskiert.

SZ, 15.10.2009

Na sowas. Die "Mona Lisa" ist gar keine Lisa, sondern eine Pacifica, erklärt im Interview (und im nächsten Jahr auch in einem Buch) der Historiker Roberto Zapperi. Im Irrtum befangen waren bislang alle, weil sie Vasaris Künstler-Viten zu sehr glaubten. Anders Zapperi: "Es gibt eine Quelle, die fast immer ignoriert wird, aber das Wertvollste ist, was wir besitzen: ein Augenzeugenbericht aus der Werkstatt Leonardos. Der Kardinal Luigi d'Aragona besuchte mit seinem Sekretär in Clos Luce Leonardo. Er kannte ihn aus Rom, wo der Kardinal lebte, als der Künstler in Diensten von Giuliano de' Medici stand, dem Bruder des Papstes. In Frankreich traf der Kardinal Giulianos Witwe, danach fuhr er zu Leonardo. Der zeigte ihm viele Manuskripte und nur drei Gemälde. Eines davon ist das Bild, das heute im Louvre hängt. Leonardo sagte, er habe es für Giuliano de' Medici, den Prächtigen gemalt. Diese Aussage schrieb der Sekretär des Kardinals auf."

Weitere Artikel: Rainer Gansera unterhält sich mit Regisseur Michael Haneke über dessen Film "Das weiße Band". Von der Buchmesseneröffnung berichtet Alex Rühle. Jochen Rack erklärt, was mit dem Ehrenmal der Bundeswehr nicht stimmt - vor allem, dass man die Namen der Toten kaum und wenn doch, dann jeweils nur sehr kurz lesen kann. Egbert Tholl besucht Chorleiter Joshard Daus bei den Proben in Benediktbeuern. Auf die Claire-Denis-Filmreihe im Münchner Filmmuseum stimmt Fritz Göttler ein. Göttler gratuliert auch dem ehemaligen Filmmuseum-Chef und "Filmkritik"-Gründer Enno Patalas zum Achtzigsten. Andrian Kreye schreibt zum Tod des Schauspielers und Sängers Al Martino.

Besprochen werden die erste Wiener Tanznacht, die Ausstellung "Dubai Düsseldorf" im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Park Chan-Wooks Film "Durst" und Bücher, darunter Sven Hillenkamps Essay "Das Ende der Liebe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 15.10.2009

In den Buchmessen-Notizen geht es unter anderem um Günter Wallraff in Schwarz, Hans Küng und die Freimaurer und viel Chinesisches. Darüber, dass eine für lächerliche 19.000 Dollar erworbene Kreidezeichnung nun unter dringendem Verdacht steht, von Leonardo zu stammen, berichtet Gina Thomas - den Wert der Zeichnung lässt das übrigens auf geschätzte 100 Millionen Pfund steigen. In der Glosse geht es um den sozusagen umgekehrten Fall des Verdachts, dass das beliebte Beethoven-Stück "Für Elise" vielleicht für Elise, aber eher nicht von Beethoven ist. Martin Otto hat den Heidelberger Kunstrechtstag besucht, auf dem es unter anderem um Comics ging und Damien Hirst. Niklas Maak erklärt, wie es kommt, dass ein abgerissenes chinesisches Haus als Kunstwerk von Thomas Demand in der Schweiz bald wiederaufersteht. Arnold Bartetzky hat sich die neue Leipziger Shopping-Mall "Centrum-Galerie" - Nachfolgerin des berühmten DDR-"Centrum" - angesehen. Von einer Berliner Veranstaltung zum Gedenken an Günter Gaus, der dieser Tage seinen 80. Geburtstag gefeiert hätte, berichtet Regina Mönch. Edo Reents schreibt zum Tod des Sängers und Schauspielers Al Martino. Auf der Kinoseite unterhält sich Rüdiger Suchsland mit Filmregisseur Michael Haneke.

Besprochen werden die Brüsseler Uraufführung von Karlheinz Stockhausens nachgelassener "12. Stunde" aus seinem "Klang"-Zyklus, die CD-Einspielung sämtlicher Beethoven-Symphonien der Bremer Kammerphilharmonie unter Paavo Järvi, Park Chan-Wooks Vampirfilm "Durst" und Bücher, darunter Dorothea Dieckmanns Roman "Termini" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).