Heute in den Feuilletons

Celan gilt als die blaue Mauritius

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2009. Mit Claude Levi-Strauss starb der Mann, der uns die Struktur gab, meint die SZ. Auch die anderen Zeitungen würdigen den Anthropologen. Richard Wagner rückt in der NZZ den Rand ins Zentrum. In der FR erklärt der Ostberliner Autor Reinhard Jirgl, was die Wende wirklich war: die "beamtische, teils feindliche Übernahme eines Betriebs namens DDR". In der taz verficht Daniel Goldhagen noch einmal seinen Interventionismus.

NZZ, 04.11.2009

Der in Berlin lebende rumäniendeutsche Autor Richard Wagner lotet die Paradoxien des Minderheitenschriftstellers aus, der vom Rand einer Kultur auf deren Zentrum blickt. "Dem Anspruch des Randes auf Normalität, seiner Sehnsucht danach, begegnen die Abwehrkräfte der Mitte mit seiner Mythisierung. Paul Celans Satz von der Landschaft, in der Menschen und Bücher lebten, hat ein Nachleben im Baedeker gefunden. So wird der Rand zum Markenzeichen Czernowitz. Man betrachtet ihn wie eine seltene Briefmarke, deren Schönheit und Bedeutung nun auf ihn, den literarischen Rand, übertragen werden. Celan gilt bis heute als die blaue Mauritius der Sammlung, mit Herta Müller ist eine Nobelpreisträgerin dazugekommen."

Weitere Artikel: Beatrix Langner berichtet gerührt von der Peter-Rühmkorf-Tagung in Rendsburg. Alfred Zimmerlin schickt einen Tourbericht zur Konzertreihe des Tonhalle-Orchesters Zürich in Deutschland. In der Rubrik "Im Bild" erzählt die Künstlerin Kveta Pacovska, wie sie ihren Bildband "Hänsel und Gretel" gemacht hat.

Besprochen werden Bücher, darunter Ursular Frickers Roman "Das letzte Bild", Mark Edmundsons Freud-Biografie sowie einige Kinder- und Jugendbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 04.11.2009

Zum Mauerfall gibt der Schriftsteller Reinhard Jirgl im Interview mit Nicole Henneberg zu Protokoll: "Vor allem war es keine Revolution. Die heroische Rhetorik jener Wochen war in typischer DDR-Manier mit einem christlichen Unterton verquickt, hatte einen Sakristei-Geruch. Das ist mir sehr zuwider. Heute noch sind die Leute ja auf diese angeblich "friedliche Revolution" stolz. Das ist idiotisch. Es war kein Staatsstreich und keine Revolution, es war die beamtische, teils feindliche Übernahme eines Betriebs namens DDR, der ökonomisch, militärisch und moralisch bankrott war. Die in diesen Bereichen etwas solventere Firma BRD hat das übernommen und sich, wie bei allen Fabrikübernahmen, damit verändert."

Martina Meister schreibt den Nachruf auf den großen Claude Levi-Strauss: "Dabei verwahrte er sich stets dagegen, gemeinsam mit Lacan, Foucault und Althusser in einem Atemzug genannt zu werden. Allen war lediglich gemein, dass man ihnen mehr oder weniger diffus die Dekonstruktion der Geschichte und den Tod des Subjektes anlastete. Aufgrund der strukturalen Gemeinsamkeiten, die er in den unterschiedlichsten Zivilisationen ausmachte, begriff Levi-Strauss das Subjekt schlicht als 'Ort eines anonymen Denkens'. Etwas spöttisch bezeichnete er es sogar als 'verwöhntes Kind der Philosophie', das viel zu lange die Bühne des Denkens besetzt gehalten und jede ernste Arbeit verhindert habe."

Weiteres: In Times mager durchsteht Arno Widmann seine erste schlaflose Nacht. Besprochen werden Sebastian Nüblings Inszenierung von Gogols "Revisor" in Zürich, eine Lesung von Ror Wolf in Frankfurt und Kwame Appiahs Schrift "Ethische Experimente" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 04.11.2009

Claude Levi-Strauss lesen lohnt sich immer noch, meint Wolf Lepenies im Nachruf auf den vor vier Tagen gestorbenen Anthropologen. "Fachethnologen haben die Stimmigkeit der Mythen-Deutungen von Levi-Strauss in Zweifel gezogen. Der ästhetische Reiz seiner Bücher wurde dadurch nicht geringer. Sie verselbständigten sich ihrem Autor gegenüber in einer Weise, die das Kennzeichen des Kunstwerkes ausmacht. Levi-Strauss selbst hat seine 'Schubladenmythen' mit der literarischen Gattung des Fortsetzungsromans verglichen. Er hatte mit den 'Traurigen Tropen' keinesfalls Abschied von der Literatur genommen. Der Ethno-Romancier wurde zum Kriminalautor der Mythenwelt. Die Analysen, mit denen die verborgenen Beziehungen zwischen Mythen aufgedeckt wurden, die beim ersten Verhör angeblich nichts miteinander zu tun hatten, gewannen die kalte Strenge eines lückenlosen Indizienbeweises. Kapitelüberschriften lauteten: 'Das Geheimnis der zerstückelten Frau' und 'Am Ort des Verbrechens'."

Weiteres: Hannes Stein hat Philip Roths "Die Demütigung" gelesen, den zweiten Kurzroman aus einer geplanten Serie von fünf. Wieland Freund empfiehlt in der Leitglosse Vätern das Lesen und Vorlesen. Michael Pilz bereitet uns auf das Comeback von Marius Müller-Westernhagen und Gunter Gabriel vor. Besprochen wird Stefan Herheims Inszenierung des "Rosenkavaliers" in Stuttgart.

Aus den Blogs, 04.11.2009

FAZ-Net-Ökonom Holger Schmidt liest in seinem Blog eine Studie über das Internetverhalten der Deutschen: "Das Empfinden des Internet als unverzichtbare Informationsquelle hat in diesem Jahr besonders bei jungen und alten Menschen stark zugenommen: In der Gruppe der 14 bis 19 Jahre alten Befragten stimmte die Hälfte dieser Aussage zu, rund 7 Prozentpunkte mehr als vor einem Jahr. In der Gruppe der Menschen zwischen 50 und 64 Jahren möchten inzwischen 30 Prozent nicht mehr auf das Internet als tägliche Informationsquelle verzichten, was einem Sprung von fast 6 Prozentpunkten innerhalb eines Jahres und fast einer Verdopplung gegenüber dem Jahr 2004 entspricht."

Ohne große Beteiligung der Öffentlichkeit (vor allem der Presse!) wird international über das Copyrightabkommen "Anti-Counterfeiting Trade Agreement" (ACTA) verhandelt. Ein streng geheimes US-Dokument wurde jetzt an die Netzöffentlichkeit gespült, berichtet Jolie O'Dell im ReadWriteWeb: "Ein von den Vereinigten Staaten verfasstes Kapitel würde Internet Service Provider verpflichten, den 'user generated content' zu kontrollieren, Urheberrechtsverletzern das Internet abzuschalten und Inhalt zu entfernen, der der Urheberrechtsverletzung beschuldigt wird, ohne jeden Beweis, dass tatsächlich eine Verletzung stattgefunden hat. Das Kapitel verbietet auch jede Umgehung von Kopierschutz, selbst wenn es sich um eigene Werke handelt." Eine knappe Zusammenfassung mit weiterführendem Link findet man auch bei BoingBoing.

(Via 3quarksdaily): Ein arte-Porträt Claude Levi-Strauss'. Youtube-Nutzer sind gerade eifrig dabei, englische Untertitel zur französischsprachigen Sendung zu erstellen und suchen noch Mitstreiter:



TAZ, 04.11.2009

Im Interview mit Cigdem Aykol und Klaus Hillenbrand fordert der Politologe Daniel Jonah Goldhagen auf tazzwei mehr Interventionsmöglichkeiten für Staaten, um Völkermorde zu stoppen. Vor allem die staatliche Souveränität nennt er einen "Freibrief für Massenmörder": "Dieses Prinzip ist beinahe sakrosankt und gibt Staatsführern, die für einen Völkermord innerhalb ihres Landes verantwortlich sind, nahezu eine vollständige Immunität. Sie können damit rechnen, straflos in ihrem Tun fortzufahren... Was können wir also tun, um eine Souveränität zu erlangen, die nicht als ein Eigentum von Staaten, sondern als ein Eigentum von Völkern fungiert? Der Souverän sollte das Volk sein, und wenn es von der eigenen Regierung verfolgt wird, dann sollte Souveränität nicht diese Regierungen schützen, sondern tatsächlich das Volk."

Im Feuilleton: Christiane Müller-Lobeck meldet Verwerfungen in der linken Kulturszene über das Anti-Gentrifizierungsmanifest "Not in our Name" von Ted Gaier, Peter Lohmeyer und Melissa Logan. Besprochen werden eine Retrospektive auf den Bauhaus-Fotografen Laszlo Moholy-Nagy in der Frankfurter Schirn, Ken Loachs neuer Film "Looking for Eric" und die Choreografie "Lutz Förster" auf dem Hamburger Tanzkongress.

Und Tom.

FAZ, 04.11.2009

Die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn gibt ein fiktives Gespräch mit Dr. Dr. h. c. mult. Johannes Haarer wieder, dem Mann, der im späten 21. Jahrhundert die Kindheit abgeschafft hat. Regina Mönch besucht mehr als nur eine "Mauer-Ausstellung" in Berlin. In der Glosse schildert Jürg Altwegg, wie in der Schweiz der Bestattungstourismus blüht, weil die Asche der Toten hier, anders als in Deutschland, auch in der Natur begraben werden darf. Martin Otto erläutert, warum Matthias Platzecks Linkspartei-SS-Kurt-Schumacher-Vergleich (mehr hier) ein historischer Missgriff ist. Florian Balke war dabei, als in Frankfurt die ersten beiden Bände einer Ror-Wolf-Werkausgabe der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Paul Ingendaay schreibt zum Tod des spanischen Schriftstellers und Intellektuellen Francisco Ayala. Auf der Geisteswissenschaften-Seite referiert und kommentiert Lorenz Jäger einen Aufsatz, in dem Wolfgang Kraushaar die "Selbststilisierung" Hanz Magnus Enzensbergers als bloß "teilnehmender Beobacher" von 1968 auseinandernimmt (in der Zeitschrift Mittelweg 36, Heft 5). Nur online: Jürg Altweggs Nachruf auf Claude Levi-Strauss.

Besprochen werden Frank Abts Uraufführung seines eigenen Stücks "Superstars" in Bochum, die Inszenierung von Berlioz' Oper "Les Troyens" durch La Fura dels Baus in Valencia, die Gegenreformations-Kunst-Ausstellung "The Sacred Made Real" in der Londoner National Gallery, Steven Soderberghs Komödie "The Informant!" und Bücher, darunter Axel Schildts und Detlef Siegfrieds "Deutsche Kulturgeschichte" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 04.11.2009

"Er hat dem Jahrhundert den Begriff gegeben, auf den es immer zurückgreifen konnte, wenn die Komplexität der Wirklichkeit es verschreckte, die Struktur", schreibt Fritz Göttler zum Tod von Claude Levi-Strauss.

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld verteidigt Hannah Arendt gegen Vorwürfe (mehr hier), sie habe auf antisemitischen Denkern aufgebaut und er begründet, warum er auch der Formel von der "Banalität des Bösen" nach wie vor zustimmt: "Ihr Erkenntniswert ist gering, ihr Potenzial als Veranschaulichung eines historischen Problems aber nach wie vor beträchtlich." Andrian Kreye schreibt nach den jüngsten Äußerungen des neuen Verteidigungsministers zu Guttenberg über die Frage, ob wir es in Afghanistan mit Krieg zu tun haben und was es rechtlich damit auf sich hat. Sonja Zekri schildert das Entsetzen an der Petersburger Universität, nachdem die Leitung den "Befehl 1689/1" herumschickte: Von nun an sollen die Forscher ihre Arbeiten kontrollieren lassen, bevor sie im Ausland publiziert werden. Volker Breidecker schreibt zum Tod der italienischen Lyrikerin Alda Merini. Claus Biegert schreibt über die beschönigende Sprache der deutschen Atomindustrie, die seit sechzig Jahren Lobgbyarbeit betreibt. Und Tobias Lehmkuhl schreibt den Nachruf auf den spanischen Autor Francisco Ayala, der im Alter von 103 Jahren gestorben ist (hier eine Leseprobe im Perlentaucher).

Besprochen werden "Les Troyens" von Berlioz unter Valery Gergiev und La Fura dels Baus in Valencia, der Film "Eine Perle Ewigkeit" (mehr hier) der Peruanerin Claudia Llosa über die bleibenden Traumata des Bürgerkriegs mit dem "Leuchtenden Pfad" (der bei der Berlinale den Goldenen Bären bekam) und Slavoj Zizeks neues Buch "Auf verlorenem Posten" ("Im Kern ist das Buch ein dementsprechend beinhartes, sogar gewaltbereites Plädoyer gegen jede Spielart des demokratischen Liberalismus und für eine zweite Chance des autoritären Kommunismus", diagnostiziert Jens Christian Rabe).