Heute in den Feuilletons

Dieser Zipfel Optimismus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2009. Während die Polen den russischen Bären piesackten, war den Deutschen in Ost und West immer ganz bange, wirft Andrzej Stasiuk uns in der Welt vor. Die FR auskultiert die Wähler vom Kollwitzmarkt und stößt auf ein leise pochendes soziales Herz. Jeff Jarvis diagnositiziert: Twitter ist für das Web, was das Web für die Medien ist. Die SZ plädiert für den lange verkannten Künstler Gustav Metzger. In der FAZ erhält Claude Levi-Strauss ein dreiseitiges Staatsbegräbnis

Welt, 05.11.2009

Gerhard Gnauck unterhält sich mit Andrzej Stasiuk über den Mauerfall, der ihn seinerzeit (er lebte in der allertiefsten polnischen Provinz) nicht die Bohne interessierte. Heute bekennt Stasiuk seine posthume Sympathie für die DDR - in Grenzen, denn er wirft ihren Insassen auch vor, seit 1953 nicht mehr aufgemuckt zu haben: "Die in der Bundesrepublik haben ihnen in dieser Stille getreulich sekundiert. Und die einen wie die anderen lauschten ängstlich, ob der Bär im Osten nicht auf diese schrecklichen, dummen Polen zornig wird. Nicht genug, dass die Polen den Bären quälten und reizten, ihn psychisch fertig machten - dafür mussten sie auch noch diese feigen Belehrungen aus dem Westen anhören. Die Polen haben also einen gewissen Groll. Wir haben uns nie mit dem Kommunismus abgefunden, wir haben auf den Barrikaden gekämpft, Blut vergossen, einen Untergrundstaat geschaffen wie im Zweiten Weltkrieg, und die Sieger waren am Ende die Deutschen."

Weitere Artikel: Sascha Lehnartz trägt französische Reaktionen auf den Tod Claude Levi-Strauss' zusammen. Thomas Kielinger bewundert in der Leitglosse das virtuose Zeremoniell, mit dem man sich in der Londoner St. Margaret's Church nochmals von Ralf Dahrendorf verabschiedete. Michael Pilz bereitet uns innerlich auf die traditionellen MTV Videoawards vor.

Besprochen werden Filme, darunter Steven Soderberghs "Informant" mit Matt Damon und die Ausstellung "Taswir - Islamische Bilderwelten ud die Moderne" in Berlin.

FR, 05.11.2009

Franz Sommerfeld umarmt die neuen Sozialliberalen, womit er junge FDP-Wähler meint, "durchaus sozial eingestellte Pragmatiker, wenig ideologisch gesteuert und natürlich ökologisch verantwortungsbewusst". Außerdem nennen sie die Unterschicht wieder Unterschicht (und am Samstag treffen sie sich alle auf dem Kollwitzmarkt).

Weiteres: Hans-Jürgen Linke verteidigt in Times mager die Unübersichtlichkeit in alter und neuer Form. Noch einmal abgedruckt wird Martina Meisters Nachruf auf Claude Levi-Strauss, der es gestern nur in einen Teil der Auflage geschafft hatte.
 
Besprochen werden die 71. Verfilmung von Dickens' Weihnachtsgeschichte in 3D, Ken Loachs Fußballer-Märchen "Looking for Eric", Steven Soderberghs Thriller "Der Informant!", Alan Pauls' Roman "Die Vergangenheit" und Silvia Bovenschens Mordgeschichte "Wer weiß was?" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 05.11.2009

Auf den Tagsthemenseiten würdigt Cord Riechelmann den verstorbenen Begründer der strukturalen Anthropologie Claude Levi-Strauss, dessen "literarisch einmalige" Beschreibungen und Analysen des mythischen Indianerwissens vor allem eines eingeführt hätten: einen Blick auf die Leidensfähigkeit der Kreatur. "Wir werden, hat er in einem späten Interview einmal gesagt, zu bulimischen Konsumenten, die ihre Grundlagen buchstäblich selbst wegessen. Das klang düster, wurde von Levi-Strauss aber mit dem kleinen Zusatz serviert, das nur der Pessimismus überhaupt ein bisschen Optimismus rechtfertigen kann. Dieser Zipfel Optimismus folgte für ihn aus seiner strukturalen Methode, die es ermöglicht, die Struktur als ein Reservoir oder Repertoire zu erkennen, worin alles, das Heiße und das Kalte, das Rohe und das Gekochte, das Schlechte und das Gute, virtuell nebeneinander existiert."

Im Kulturteil bilanziert Cristina Nord das Wiener Filmfestival Viennale, auf dem sie besonders das Filmprogramm zu Ehren des philippinischen Regisseurs Lino Brocka sehenswert fand. Sarah-Antonia Brugner erklärt die Hintergründe der Studentenproteste in Wien, mit denen sich nun Künstler solidarisch erklärten.

Besprochen werden das Projekt "Ich Cyborg!?" von Jugendlichen und Schauspielern am Theater Freiburg, Steven Soderberghs neuer Film "Der Informant!", Claudia Llosas Berlinale-Gewinner "Eine Perle Ewigkeit" und Robert Zemeckis? Verfilmung von Charles Dickens' "Weihnachtsgeschichte".

Über Netzpolitk sind wir noch auf Hannes Kochs gestrige Geschichte über den NDR gestoßen, der Daimler dafür angeprangert hatte, von Bewerbern Bluttests zu nehmen, diese Praxis selbst betreibt: "Der NDR bestätigte, dass allen Bewerbern, die einen Arbeitsvertrag erhalten sollen, Blut abgenommen werde."

Hier Tom.

SZ, 05.11.2009

Mit großer Verspätung werde der in Deutschland 1926 geborene, heute in London lebende Künstler Gustav Metzger in seiner, so Catrin Lorch, kaum zu überschätzenden Bedeutung entdeckt. Lorch schreibt über mehrere Ausstellungen, darunter eine in der renommierten Serpentine Gallery: "Jetzt taucht aus Modellen, Skizzen, Entwürfen und Manifesten ein Werk auf, dessen Monumentalität und ungebrochene Radikalität nicht karg und konzeptuell wirken, sondern reich, plastisch, schön. Wie das Projekt 'Stockholm June 1972', das - als Entwurf - immerhin im Katalog der legendären Documenta von Harald Szeemann im Jahr 1972 abgebildet war. 120 Autos sollten um einen quadratischen Plastikkubus geparkt werden, diesen während der Laufzeit der Ausstellung mit ihren Abgasen füllen, bis er opak wird, matt, silbergrau. Erst im vergangenen Jahr stellte die Sharja-Biennale das Material bereit, auch wenn die zweite Phase weiterhin aussteht ('Die Wagen werden in das Zelt gebracht, wo sie explodieren')."

Weitere Artikel: Henning Klüver erklärt, dass das in Italien allgegenwärtige Kreuz und Kruzifix einfach zur "Alltagskultur" gehören. Thomas Steinfeld hat die spannende Biografie der frühen Ingmar-Bergman-Geliebten und als Agentin des schwedischen Geheimdienst tätigen Karin Lannby gelesen. Über seinen jüngsten Film "Der Informant!" unterhält sich Susan Vahabzadeh mit dem US-Regisseur Steven Soderbergh (besprochen wird der Film, recht knapp, auch, von Fritz Göttler). Jürgen Müller analysiert Caravaggios "Bacchus"-Gemälde. Johannes Boie sammelt internationale Reaktionen zum Tod von Claude Levi-Strauss. Einen Nachruf auf den Cellisten Jörg Eggebrecht hat Wolfgang Schreiber verfasst.

Besprochen werden Inszenierungen von Tom Lanoyes "Atropa" und Elfriede Jelineks "Die Kontrakte des Kaufmanns" am Staatstheater Nürnberg, Robert Zemeckis' digitale Version von "Charles Dickens' Weihnachtsgeschichte", James Bennings neuer, in Duisburg uraufgeführter Film "Ruhr" und Bücher, darunter Max Frischs wiederveröffentlichte Bergerzählung "Antwort aus der Stille" aus dem Jahr 1937 (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 05.11.2009

Das FAZ-Gegenstück eines Staatsbegräbnisses erhält der im Alter von 100 Jahren verstorbene Ethnologe und Strukturalismus-Mitbegründer Claude Levi-Strauss. Das Titelfoto und dann ganze drei Feuilletonseiten sind ihm gewidmet. Henning Ritter schreibt den großen Nachruf und würdigt nicht zuletzt den Denker als Kulturpessimisten: "Die letzten Blicke, die der hochbetagte Anthropologe auf das Schicksal der Menschheit warf, sind zwar frei von jeder Larmoyanz, aber doch von einem unüberbietbaren Pessimismus... Da die kulturelle und die biologische Evolution nicht zu trennen seien, sei der Rückweg in die Vergangenheit unmöglich. Auf der Bahn, die die Menschen eingeschlagen hätten, ergäben sich aber so große Spannungen, dass die Intoleranz, die sich morgen durchzusetzen drohe, der ethnischen Unterschiede nicht mehr als eines Vorwandes bedürfen werde." In einem weiteren Artikel erklärt Jürgen Kaube, was den interdisziplinären Reiz von Levi-Strauss' Theorien ausmachte.

Abgedruckt werden ein kurzer Text von Levi-Strauss über die Unterschiede der englischen und der französischen Küche, einer über Edouard Manets "Olympia"-Gemälde und ein Interview, das Jürg Altwegg vor zwanzig Jahren mit ihm geführt hat. Gesammelt werden überdies Reaktionen aus aller Welt.

Weitere Artikel: Gina Thomas berichtet über eine Londoner Trauerfeier für Ralf Dahrendorf. In der Glosse erklärt Jörg Thomann, warum in Karlsruhe in diesem Semester von Sloterdijks Philosophie erst mal nur das Bauchmuskeltraining bleibt. Andreas Kilb schildert den "Abgrund", an dem sich die "kommunale Kulturpolitik" in Deutschland befindet. In Kassel versucht man sich derzeit, informiert Jan Brachmann, an der Rehabilitierung des lange als zu süßlich und glatt verschrienen Komponisten Louis Spohr. Rüdiger Suchsland besucht die Hofer Filmtage. Jordan Mejias liest in amerikanischen Zeitschriften Aufsätze zum Stand der Dinge beim Fernsehen, Zeitung und Buch.

Besprochen werden Sebastian Nüblings Züricher Inszenierung von Nikolai Gogols "Revisor", eine Harun-Farocki-Ausstellung im Museum Ludwig in Köln, das Solodebüt "Phrazes for the Young" des Strokes-Manns Julian Casablancas, Ken Loachs Komödie "Looking for Eric" und Bücher, darunter allerlei zu Friedrich Schillers 250. Geburtstag (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 05.11.2009

Jeff Jarvis zerbricht sich den Kopf über jüngste Entwicklungen im Netz: "Twitter is to web pages what web pages are to old media."
Stichwörter: Jarvis, Jeff

Zeit, 05.11.2009

Die Zeit druckt das Manifest "Not in our name, Marke Hamburg!", in dem sich Hamburgs Künstler, die bereits das Hamburger Gängeviertel besetzt haben, verbitten, von der Stadt in ihren Werbefeldzügen als "kreative Klasse" vereinnahmt zu werden: "Wir wollen weder dabei helfen, den Kiez als 'bunten, frechen, vielseitigen Stadtteil' zu "positionieren", noch denken wir bei Hamburg an 'Wasser, Weltoffenheit, Internationalität', oder was euch sonst noch an 'Erfolgsbausteinen der Marke Hamburg' einfällt. Wir denken an andere Sachen. An über eine Million leerstehender Büroquadratmeter zum Beispiel und daran, dass ihr die Elbe trotzdem immer weiter zubauen lasst mit Premium-Glaszähnen... Wir glauben: Eure 'wachsende Stadt' ist in Wahrheit die segregierte Stadt, wie im 19. Jahrhundert: Die Promenaden den Gutsituierten, dem Pöbel die Mietskasernen außerhalb."

Weiteres: Erst kam es uns vor wie ein Deja-vu, aber die Doppelseite zum Mauerfall ist doch nicht ganz die gleiche wie die vom 8. Oktober, nur fast: Ingo Schulze und einige Zeit-Redakteure gedenken der Novemberdemos und des Mauerfalls, wobei Alexander Cammann die "bloßen Rituale des Gedenkens" beklagt, angesichts des "erhabensten und glücklichsten Moment der deutschen Demokratiegeschichte". Thomas Groß zeichnet das Bild vom neuen Robbie Williams als "eine Art Kuschel-Robbie, der sich auf seine Kernzielgruppe zurückbesonnen hat, Frauen Anfang dreißig". Constantin von Barloewen schreibt den Nachruf auf den großen Claude Levi-Strauss. Viel Baskenmütze, Baguette und Händchenhalten an der Seine, ansonsten die "Methode Johannes Kerner" erkennt Katja Nicodemus im ARD-Biopic "Romy".

Besprochen werden "Don Giovanni" an der Bayerischen Staatsoper und "Der Rosenkavalier" an der Stuttgarter Staatsoper, Juan Goytisolos Marx-Saga (in dem Marx seine Niederlage gegenüber dem Wortführer der kapitalistischen Gegeninternationale, dem Bürgermeistervorfahr Ferdinand von Beust, eingesteht), Ken Loachs Film "Looking for Eric", und auf den Literaturseiten Neuerscheinungen zu Schiller und Ernst Blochs wiederaufgelegtes "Prinzip Hoffnung" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 05.11.2009

Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, wendet Levi-Strauss' strukturale Methode auf dessen eigenes Leben an und sucht nach den Levi-Straussschen Universalien. Dass der sich vermutlich gegen eine Ausstellung seiner Person gewehrt hätte, macht Thomä allerdings auch klar: "Nambikwara, Tupi-Kawahib, Bororo, Caduveo, Tlinkit, Jibaro, Tupi, Mbaya-Guaicuru: Das Leben dieser Indianervölker weckt doch allemal mehr Neugier als das Leben des Ethnologen, der es geschildert hat. Dazu kommt noch, dass Levi-Strauss selbst seiner Biographie, seiner 'persönlichen Identität' und seinen 'Gemütsverfassungen' nie 'viel Bedeutung' beimaß; die Idee des 'Ich' mit der damit einhergehenden 'Illusion der Freiheit' lehnte er prinzipiell ab."

Weiteres: Kersten Knipp schreibt zum Tod des spanischen Schriftstellers und Essayisten Francisco Ayala (hier eine Leseprobe).

Auf der Filmseite begeistert sich Susanne Ostwald für den Animationsfilm "Mary und Max" von Regisseur Adam Elliot, einen Streifen aus der "Knetgummi-Welt", den sie tragisch und absurd komisch findet. Durchgefallen ist dagegen Steven Soderberghs "The Informant!" bei Alexandra Stäheli.

Besprochen werden das Tanztheaterstück "Memoires d'Oubliettes" des Choreographen am Jiri Kylian am Nederlands Dans Theater und Alan Pauls spanischer Roman "Die Vergangenheit" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).