Heute in den Feuilletons

Wo genau ist eigentlich die Panik?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2010. FR und taz kritisieren die immer neuen Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen. "Sicherheitsbehörden genießen inzwischen eine falsche, nahezu absolute Autorität", schreibt Peter Schneider in der FR. Die Vergütungsregeln für freie Journalisten sorgen in den Blogs weiterhin für Aufruhr - ein Aufruf fordert jetzt die Gewerkschaften zu einer breiteren Diskussion auf. Liberation bringt Videos und Le Monde bringt Bilder zum Tod von Eric Rohmer. In der SZ beklagt der Historiker Aram Mattioli die neue Salonfähigkeit des Faschismus unter Berlusconi.

FR, 12.01.2010

Der Autor Peter Schneider fordert beim Thema Flugsicherheit mehr Transparenz, mehr Aufklärung und weniger widersprüchliche Informationen (etwa über die in Europa und den USA unterschiedlich gehandhabten Schuhkontrollen): "Eine rückhaltlose Auskunft würde mit der jahrelangen Praxis der Sicherheitsbehörden brechen, Fluggäste mit dem Verweis auf eine ständig drohende überwältigende Gefahr als Unmündige zu behandeln, die in Belangen ihrer eigenen Sicherheit nichts zu fragen und gefälligst zu gehorchen haben. Sicherheitsbehörden genießen inzwischen eine falsche, nahezu absolute Autorität - entsprechend unverschämt ist denn auch der Ton vieler Beamter. Eigentlich sollten fliegende Bürger, zu deren Wohl die Sicherheitsmaßnahmen dienen, ein Wörtchen dabei mitzureden haben, wie viele ihrer Rechte sie zugunsten ihrer Sicherheit aufzugeben gewillt sind."

Sehr begeistert ist Hans-Klaus Jungheinrich, dass in Frankfurt mit "The Tempest" endlich einmal eine Oper des britischen Komponisten Thomas Ades aufgeführt wurde: "Unbefangen betrachtet, ist Ades' Oper ein prachtvolles Meisterwerk und eine höchst ambitionierte Shakespeare-Neuinterpretation... Ruhe, Beschaulichkeit, Opulenz haben neben gekonntem Furor und effektvoller Chaosmusik ihren Platz."

Besprochen werden Stephan Seidels Stück "Das Gähnen der Leere" in Wiesbaden, Simon Stephens Stück "Steilwand" in Frankfurt, ein Konzert des Pianisten Amir Tebenikhin und eine neue Ausgabe von Virginia Woolfs "Nacht und Tag".

Aus den Blogs, 12.01.2010

Matthias Spielkamp erklärt in seinem Immateriblog, warum er er die gerade ausgehandelten "Vergütungsregeln" für freie Journalisten (Zementierung der Misere) für absurd hält und er einen Aufruf an die Journalistengewerkschaften zur breiten Diskussion der Regeln unterschreibt, "Wären die vereinbarten Honorare Mindesthonorare, wäre das alles noch etwas anders zu beurteilen. Das sind sie aber nicht. Und so tun sie nichts anderes, als festzuschreiben, dass es angemessen ist, dass Journalisten, die als Freiberufler für Tageszeitungen arbeiten, nicht angemessen bezahlt werden müssen. Diese Vereinbarung ist eine Farce und ein Schlag ins Gesicht der Freiberufler."

Traurige Geschichten aus der Welt des Copyrights erzählt Cory Doctorow in seinem Blog BoingBoing: "The British lawyer who married the widow of Tintin creator Herge has successfully sued Bob Garcia ("a detective novelist, jazz musician and Tintin aficionado") for £ 35,000 for printing five short essays in appreciation of Tintin, two of which were illustrated with brief clips from the comic. The essays were distributed for free, and the two pamphlets with Tintin illustrations were printed about 500 times each."

Welt, 12.01.2010

Hendrik Werner berichtet über die Versuche, mit europäischer Phantasie und Bürokratie Google Konkurrenz zu machen. Hanns-Georg Rodek gratuliert der Schauspielerin Luise Rainer, die heute hundert geworden ist. In der Leitglosse berichtet Michael Borgstede über einen Skandal in Ägypten: Dort hat eine junge Journalistin das Recht muslimischer Frauen auf vier Ehemänner eingefordert. Dieter Wedel, dessen Film "Gier" im Januar im Fernsehen läuft, erzählt im Interview, dass auch er auf einen Vermögensberater reingefallen ist: Den Schweizer Markus Künzle und seinen deutschen Partner Reinhold Ender, "die Firma heißt MBA und die Bank Clariden Leu". Das MoMA darf drei Grosz-Bilder behalten, die von den Erben zurückgefordert worden waren, meldet bai. Stefan Keim stellt das Programm der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 vor. Besprochen wird die Aufführung von Thomas Ades Oper "Der Sturm" in Frankfurt.

TAZ, 12.01.2010

Während Politiker den neuesten Attentatsversuch von Detroit dazu nutzen, die Sicherheitsmaßnahmen weiter zu schrauben, reagiert die angeblich so bedrohte Bevölkerung gelassen, konstatiert Robert Misik: "Wo genau ist eigentlich die Panik? Wer steigt denn bibbernd ins Flugzeug? Wer fühlt sich wirklich unsicher, wenn er einen Bahnhof betritt? Wer bettelt denn darum, den Sicherheitsbehörden alle Bürgerrechte auszuliefern, vermeintlicher Sicherheit wegen?"

Weitere Artikel: Markus Wanzeck resümiert einen Streit um die Umbenennung des Karl-Marx-Platzes in Jena. Besprochen werden das neue Tocotronic-Album und die neue Platte der Fehlfarben und Bücher, darunter ein nur auf englisch erschienener Essayband über Michael Jackson.

Und Tom.

NZZ, 12.01.2010

Beatrix Langner ist aufgefallen, dass der Sport manchmal genauso gute Zeilen produziert wie die Lyrik. Und: "Zarte Empathie und kluge Defensivtaktik sind Tugenden, die den Poeten genauso gut kleiden wie den Fußballtrainer." Brigitte Kramer berichtet, mit welchem kulturellen Programm Spaniens Regierung in die EU-Präsidentschaft geht.

Besprochen werden eine Ausstellung von Judith Albert und Valerie Favre im Kunstmuseum Luzern, Henry Purcells Barockoper "Dido and Aeneas" in Neville Tranters Puppentheater in Bern, Leonid Dobycins lange verkannter Roman "Die Stadt N." und ZZ Packers Erzählband "Kaffee trinken anderswo", hier eine Leseprobe (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 12.01.2010

Bevor er zum Kino ging, nannte sich Eric Rohmer Jean-Marie Maurice Scherer. Er war Französischlehrer und unterhielt einen Kinoclub im Quartier Latin", schreibt die Pariser Zeitung Liberation, die im Netz ein paar Rohmer Videos präsentiert.

Und Le Monde bringt eine sehr schöne Bilderstrecke:





Stichwörter: Rohmer, Eric

FAZ, 12.01.2010

Für recht ärgerlich hält Jürg Altwegg das Trara, das die Zeit und ihr Autor Christian Welzbacher um eine nicht korrekte Aussage Claude Lanzmanns in seiner Autobiografie veranstalten: "Halten wir also nochmals fest: Edwin Redslob wurde nicht wegen Lanzmanns Artikel in der Berliner Zeitung entlassen, voila! Ehrlich gesagt, schmälert der Fehler in keiner Weise unsere Begeisterung für dieses Buch. 'Mit sprachlicher Wucht' (Welzbacher) erzählt Lanzmann sein Leben und präsentiert seine besten Anekdoten. Er ist eitel, manchmal unausstehlich, schwierig, cholerisch, schwerhörig, von sich eingenommen. Aber Memoiren sind keine quellenselbstkritische Gattung, und dass Lanzmann flunkert, überhöht, stilisiert, dramatisiert, gehört zum Charme seiner Erzählungen. Und ist jedem Leser bewusst."

Weitere Artikel: Der Politologe Emmanuel Todd erklärt, warum er immer schon recht hatte mit seiner Behauptung, dass der Freihandel an sein Ende geraten muss. Die jüngsten Umbaumaßnahmen bei der Pariser Bibliotheque Nationale erläutert Sabine Frommel. In der Glosse geht es um die rasante Zivilisierung, die der Neanderthaler von wissenschaftlicher Seite in den letzten Jahren erfahren hat. Gina Thomas hat das weitgehend aus Tagebucheinträgen bestehende "berührende" Buch gelesen, das Antonia Fraser ihrem verstorbenen Mann, dem Literaturnobelpreisträger Harold Pinter gewidmet hat. Hannelore Schlaffer denkt nach über den "Trupp" als sich ausbreitende Form des menschlichen Gruppenauftritts. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Dirigenten Otmar Suitner. Auf der Medienseite macht Jochen Staadt darauf aufmerksam, dass Johannes Mario Simmel, anders als von der taz behauptet, keineswegs auf die der taz von Stephan Heym untergejubelten Aids-Verschwörungstheorie reingefallen war. (In der letzten Wochenendausgabe hatten Jan Feddersen und Wolfgang Gast den Fall aufgerollt.)

Besprochen werden die von Keith Warner inszenierte deutsche Erstaufführung von Thomas Ades' Shakespeare-Oper "Der Sturm" in Frankfurt, und Bücher, darunter Kurt Kreilers Beweisführungsversuch "Der Mann, der Shakespeare erfand" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 12.01.2010

Gunnar Herrmann interpretiert die Ergebnisse eine Umfrage unter Künstlern in Dänemark, von denen viele bekannten, Rücksicht auf religiöse Gefühle zu nehmen. Das darf man aber nicht falsch interpretieren, meint Herrmann: "So ein Verhalten wird heute zwar als Selbstzensur bezeichnet, früher aber nannte man es Taktgefühl."

Unter Berlusconi ist der italienische Faschismus wieder salonfähig geworden, schreibt der der Historiker Aram Mattioli, der demnächst bei Schöningh ein Buch zum Thema vorlegt: "Im Unterschied zu anderen westeuropäischen Ländern werden revisionistische Thesen in Italien nicht allein von Ewiggestrigen und den typischen Rechtsextremisten vorgetragen, sondern oft auch von bürgerlichen Honoratioren. Spitzenpolitiker, die der Mussolini-Diktatur positive Seiten abgewinnen; Straßen, die nach 'Helden' des Regimes benannt werden oder 'gute Faschisten', die als Filmhelden in die Wohnstuben der Fernsehnation flimmern, gehören seit 1994 ebenso zum Alltag der Zweiten Republik wie Gesetzesinitiativen, die Mussolinis letztes Aufgebot und die Kollaborateure von Sala den Kämpfern der Resistenza gleichstellen wollen."

Weitere Artikel: Fritz Göttler schreibt den Nachruf auf Eric Rohmer. Thomas Steinfeld macht sich kulturkritische Gedanken zum reichlich gehypeten Tief "Daisy". Marten Rolff gratuliert der Schauspielerin Luise Rainer zum Hundertsten.

Besprochen werden zwei Surrealismus-Ausstellungen in Ludwigshafen, Paul Weitz' Film "Mitternachtszirkus" (mehr hier) und Bücher, darunter die kritische Ausgabe von Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" ("Wir sehen einen brillanten Feuilletonisten bei der Arbeit, der alles aufsaugt, was ihm zufliegt, egal woher", schreibt Gustav Seibt).