Heute in den Feuilletons

Hier demonstriert das ägyptische Volk

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2011. Für die Welt berichtet Hamed Abdel-Samad direkt aus der Demo in Kairo. In der FAZ fordert er den Westen auf, Mubarak fallen zu lassen. Die New York Times schreibt über die wichtige Rolle von Al Dschasira in den arabischen Unruhen.  In der NZZ erklärt die weißrussische Reporterin Swetlana Alexijewitsch, warum ihr Land keine Nation ist. In der SZ beschreibt Joachim Kaiser, wie Christian Thielemann das Horn zu überwältigender Klage animierte.Die Bild-Zeitung nennt die Namen von Marcus Hellwig und Jens Koch.

Welt, 31.01.2011

In der Welt am Sonntag berichtet der Politologe Hamed Abdel-Samad aus Kairo über die Demonstration am Freitag. Er immer mittendrin: "Am frühen Abend zogen sich plötzlich die Polizeieinheiten zurück. Man spekulierte, ob die Munition ausgegangen war. Bald erreichte uns die Nachricht, Präsident Mubarak habe der Armee befohlen, die Sicherheit im Land wiederherzustellen. Die Reaktionen unter den Demonstranten waren unterschiedlich. Manche riefen: 'Die Polizei prügelt uns, komm Armee und schütze uns.' Die ägyptischen Streitkräfte genießen im Gegensatz zur Polizei hohes Ansehen in der Bevölkerung. Demonstranten begrüßten Armeesoldaten mit Militärsalut und spendeten Applaus."

Im Interview mit Andreas Rosenfelder erzählt der inzwischen emeritierte Medientheoretiker Friedrich Kittler, wie er seine berühmten "Aufschreibesysteme" geschrieben hat: "Es ist immer schwer, den ersten Satz zu finden. Und bei den 'Aufschreibesystemen', wo es um die Wurst ging, nämlich um meinen Beruf, da war es am allerschwersten. Also habe ich mir einen Joint gedreht und das erste Kapitel, das von Goethes 'Faust' handelt, leicht bekifft geschrieben. Mein Vater hatte mich zum Vorführkind erzogen, deshalb kannte ich den 'Faust' schon als Kind auswendig, ich musste also nicht bei Goethe nachschlagen. Für die späteren Kapitel musste ich blättern, das ging nur nüchtern."

Für das Montagsfeuilleton hat Henryk Broder in Berlin die Massenpredigt des dubiosen Rabbiners Michael Laitman angehört, der zu der Sorte Gurus gehört, die auch von Madonna angestaunt werden. Manuel Brug mokiert sich über empörte Äußerungen der Ballettszene zu dem Film "Black Swan". Richard Kämmerlings verfolgte in Hildesheim ein Symposion zur Arbeit von Lektoren. Richard Herzinger hat sich in einem Weddinger Kino das türkische Machwerk "Tal der Wölfe" angesehen, das zum Glück nur spärlich besucht war. Hannes Stein liest Brian Whitakers Buch "What's Really Wrong with the Middle East".

NZZ, 31.01.2011

"Für die Menschen auf dem Dorf bedeutet die Freiheit Wurst", erklärt die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch im Interview mit Barbara Lehmann den Erfolg des Systems Lukaschenko, der das Volk besteche und die Opposition knebele: "Ich habe ein Haus auf dem Land. Da lebe ich unter Bauern. Unter ihnen gilt nicht Verstand als Vorzug, sondern Gewitztheit. Lukaschenko erfüllt das ideal. Er fährt los - und einigt sich mit Russland. Er trickst den Westen aus. 'Das soll ihm erst mal einer nachmachen!', sagen sich die Leute. Eine nationale Idee besitzt nur ein kleiner Teil der Elite. Wir sind keine Nation, wir haben keine nationalen Mythen. Niemand spricht weißrussisch. Die Elite, die ohnehin polnisch war, hat Stalin vernichtet."

Weitere Artikel: Angesichts der Aufregung um die Erziehungstaktiken der sinoamerikanischen Juristin Amy Chua ("Die Mutter des Erfolgs") betont die Publizistin Wei Zhang, dass fortschrittliche Eltern in China nichts lieber täten als das traditonelle Erziehungsmodell zu überwinden: "Das 'Ich' des Kindes steht in China nicht gleichermaßen im Zentrum wie im Westen. Man feiert daher auch keine Kindergeburtstage, sondern erinnert im Gegenteil das Kind daran, welchen Schmerz es der Mutter bei der Geburt verursacht hat." Andrea Köhler fasst die Debatte um Chuas Bestseller in den USA zusammen.

Hans Bernhard Schmid schreibt zum Tod des amerikanischen Soziologen Daniel Bell. Besprochen wird eine Auführung von Massenets "Manon" am Theater St. Gallen.

Bild, 31.01.2011

Bild nennt die Namen der beiden iranischen Staatsgeiseln und Bild am Sonntag-Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch:


TAZ, 31.01.2011

In geradezu ungläubigem Staunen berichtet Karim El-Gawhary von den Demonstrationen in Kairos Straßen: "Sie haben keinerlei politische Führung, aber sie besprechen von Minute zu Minute, wie es weitergehen soll. Es ist, als würde das Wort Volksaufstand an den Ufern des Nils neu erfunden, der ägyptische Aufstand hat nicht einen, sondern viele Köpfe."

Im Interview mit Reiner Wandler rät die junge tunesische Oppositionelle Nibras Hadhili den Ägyptern zur Entschlossenheit: "Es ist wichtig, für ein einziges Ziel einzutreten, nämlich für den Sturz der Diktatur. Alle Anstrengungen müssen diesem Ziel gelten. Andere Forderungen haben in einer solchen Bewegung erst einmal nichts verloren. Nur so können alle Strömungen, ohne Ausnahme, an den Protesten teilnehmen. Die Bewegung darf sich nicht spalten lassen."

Außerdem ist heute Gabriele-Goettle-Tag. Sie erzählt, wie aus Otto Teufel, einem braven Ingenieur und Familienvater (und Bruder von Fritz Teufel) "eine Art Staatsfeind wurde, ein unerbittlicher Verfechter bürgerlicher Rechte und radikaler Ankläger politischer Willkür." Er führt einen Kampf gegen das Rentensystem.

Und Tom.

Weitere Medien, 31.01.2011

Die ägyptische Regierung hat den arabischen Fernsehsender Al Dschasira verboten. Denn Al Dschasira hat einen wesentlichen Anteil daran, dass der Funke von Tunesien in andere arabische Länder übergesprungen ist, schreiben in der NYT Robert F. Worth und David D. Kirkpatrick. "Al Jazeera has been widely hailed for helping enable the revolt in Tunisia with its galvanizing early reports, even as Western-aligned political factions in Lebanon and the West Bank attacked and burned the channel?s offices and vans this week, accusing it of incitement against them. In many ways, it is Al Jazeera's moment - not only because of the role it has played, but also because the channel has helped to shape a narrative of popular rage against oppressive American-backed Arab governments (and against Israel) ever since its founding 15 years ago. That narrative has long been implicit in the channel?s heavy emphasis on Arab suffering and political crisis, its screaming-match talk shows, even its sensational news banners and swelling orchestral accompaniments."

Berliner Zeitung, 31.01.2011

Aus Anlass der arabischen Unruhen bringt der aktuelle Spiegel den Titel "Warum Deutschland eine Frauenquote braucht". Auch im Spiegel hapert's mit den Frauen, bemerkt Ulrike Simon dazu (und erwähnt fairer Weise, dass auch die Autorinnen des Spiegel-Titels dieses Thema ncht verschweigen). Spiegel-interne Bekenntnisse zur Gleichstellung bringen da nichts: "Eine interne Statistik belegt ..: Zwar sind die Hälfte der Mitarbeiter im Spiegel-Verlag Frauen. Doch nur 23,5 Prozent von ihnen bekleiden Führungspositionen. Bei den schreibenden Redakteuren sind es sogar nur 12,9 Prozent."

Tagesspiegel, 31.01.2011

Magdalena Marsovszky interviewt den Politologen Samuel Salzborn zum ungarischen Mediengesetz: "Die Entwicklung ist dabei ohne Zweifel autoritär. Wir machen in Europa unter der EU-Ratspräsidentschaft von Ungarn einen Entwicklungsprozess durch, bei dem es fraglich ist, ob Ungarn überhaupt legitimerweise weiterhin Mitglied der Europäischen Union sein sollte."

Aus den Blogs, 31.01.2011

Hingewiesen sei unbedingt auf das Live-Blog aus Tunesien bei der Jungle World. Bernd Beier und Thomas von der Osten-Sacken berichten: "Heute ist der Führer der islamistischen Nadha Partei aus seinem Londoner Exil nach Tunis zurückgekehrt. Ein Chomenei-Empfang war das wahrhaft nicht. Seine Anhänger haben offenbar eimerweise Kreide gefressen: Supporters crowding the arrivals area of the airport held up banners reading: 'No to extremism, yes to
moderate Islam!' and 'No fear of Islam!' Viele Frauen hatten auf Facebook angekündigt, ihn im Bikini empfangen zu wollen: Le leader pourrait d?ailleurs bien être accueilli a l?aeroport par un groupe de Tunisiennes en bikini et en mini-jupes. L?idee circule depuis plusieurs jours sur les reseaux sociaux. Sur Facebook, un groupe est même intitule 'Toutes les Tunisiennes en bikini pour accueillir Ghannouchi a l?aeroport'. Ob sie das wirklich getan haben, ist zur Zeit noch unklar, leider haben wir es nicht geschafft an den Flughafen zu fahren."

Toptweet:



Stichwörter: Bikini, Facebook, Meme, Tunesien

FR, 31.01.2011

Die FR veröffentlicht auf drei Seiten einen Auszug aus Peter Michalziks kommender Kleist-Biografie. Und Christian Thomas hat zugehört, als Neo Rauch in Frankfurt über Gustave Courbet sprach.

Besprochen werden der türkische Propagandafilm "Tal der Wölfe. Palästina" (eine der Hauptrollen, den sadistischen israelischen Offzier Moshe, spielt übrigens Erdal Besikcioglu, der gefeierte Hauptdarsteller des türkischen Berlinale-Gewinnerfilms "Bal") und Angelika Overaths Tagebuch "Alle Farben des Schnees" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 31.01.2011

Nachdem Joachim Kaiser zusammen mit Christian Thielemann Alle Neune von Beethoven im Fernsehen vorstellte, bespricht er nun (vielleicht nicht ganz unvoreingenommen?) alle Viere von Brahms, die Thielemann in Baden-Baden gab, in rührend altkritikerlicher Prosa: "Immerhin, wie er auch am Ende der Durchführung nach dem 'Agitato'-Aufruhr das Horn zu überwältigender Klage animierte (Takt 101 ff.), ein solcher Interpretationshöhepunkt schuf eine unvergessliche Einsicht." Welche genau erfahren wir hoffentlich bald im Fernsehen!

Weitere Artikel: Joseph Hanimann resümiert den seit einigen Wochen schwelenden Streit, ob Frankreich dem krassen Antisemiten Celine zum fünfzigsten Todestag die Ehre erweisen soll. Stephan Speicher erzählt wie die durch einen Bombenangriff zersplitterten Großskulpturen vom Tell Halaf in jährelanger Kleinstarbeit wieder zusammengesetzt wurden - nun sind sie in Berlin ausgestellt. Niklas Hofmann geht der im Netz diskutierten Frage nach, inwieweit das Internet bei den Revolten in Tunesien und Ägypten eine Rolle spielte. Hannah Beitzer berichtet über üble Korruption an russischen Universitäten. Susanne Gmür gratuliert dem Theologen und Lyriker Kurt Marti zum Neunzigsten. Jens Malte Fischer würdigt die verstorbene Sopranistin Margaret Price. Christoph Schroeder verfolgte eine Tagung über die Arbeit von Lektoren in Hildesheim. Gemeldet wird, dass sich Orhan Pamuk auf dem Literaturfestival von Jaipur über die Dominanz des Englischen als Literatursprache beschwerte. Abgedruckt wird auf der Literaturseite außerdem Tilman Spenglers Laudatio auf Günter Herburger zur Verleihung des Literaturpreises "Von Autoren für Autoren".

Besprochen werden neue DVDs und die "Ratten" und "Cyrano de Bergerac" in Bochum.

FAZ, 31.01.2011

Der ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad ist nach Ausbruch der Revolte sofort nach Kairo gereist und hat mit den Demonstranten gekämpft. Für falsch hält er im Gespräch mit Felicitas von Lovenberg die Idee, dass nur Hosni Mubarak die Stabilität des Landes gewährleisten könne und dass unter Umständen die Islamisten an seine Stelle treten könnten: "Ich befand mich mitten in der Demonstration, als ein Anhänger der Muslim-Bruderschaft religiöse Parolen zu rufen begann. Die Umstehenden haben ihn zum Schweigen gebracht und zu ihm gesagt: Keine islamischen Rufe! Hier demonstriert das ägyptische Volk und nicht eine islamische Sekte. Auch daran sieht man, dass eine neue Generation herangewachsen ist, die nicht den Islamisten zuzurechnen ist."

Weitere Artikel: Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, schildert, wie die ägyptische Regierung beinahe auf einen Schlag sämtliche Internet- und Mobilfunkverbindungen des Landes kappen konnte (bei io9 erklärt Annalee Newitz, ob dies - zumindest technisch - auch in Amerika möglich wäre). In der Glosse findet Dirk Schümer allerlei italienische Schizophrenien nachgerade beruhigend, weil das Durcheinander einer möglichen Diktatur doch im Weg steht. Martin Otto hat ein 1932 erschienenes Buch des Titels "Volkstod" von einem heute vergessenen Autor namens Reinhold Lotze ausgegraben und zieht Parallelen zu Thilo Sarrazins Bestseller. Nicht zuletzt der Streit um eine überklebte Pfeife auf einem Jacques-Tati-Plakat sorgte für Debatten über eine "kulturelle Ausnahme" beim Rauchverbot in Frankreich - jetzt stellt sich, wie Jürg Altwegg berichtet, allerdings heraus, dass es sich bei der Überklebung wohl um einen Gag der Werbeindustrie gehandelt hat. "Klarer denken" mit Rolf Dobelli lehrt diesmal, bloß nichts nur deshalb zu kaufen, weil einem der Verkäufer sympathisch ist. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod der Sopranistin Margaret Price

Besprochen werden Philipp Himmelmanns "Cosi fan tutte"-Inszenierung in Baden-Baden und Bücher, darunter gleich zwei Studien zur Frage der Zeit (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).