Heute in den Feuilletons

Aufdringlich selbstbewusste Attitüde

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2011. In der Welt spricht der Sozialphilosoph Kenichi Mishima über die politische Blockade in Japan nach dem Tsunami. 3Quarksdaily verleiht Top Quarks und Strange Quarks an Wissenschaftsblogs. Die SZ findet Tilman Jens' Buch über die Odenwaldschule apologetisch. Die taz interviewt den Soziologen Cesar Rendueles über die Proteste in Spanien. Boingboing kompiliert die herzlichsten Schmähungen von Autoren für Autoren.

Welt, 21.06.2011

Uwe Schmitt unterhält sich mit dem Sozialphilosophen und Habermas-Übersetzer Kenichi Mishima, der sehr konkret über die japanischen Zustände nach dem Tsunami und Fukushima spricht: "Seit dem 11. März ist kein einziges Gesetzeswerk für den Wiederaufbau im Parlament durchgekommen, weil im Oberhaus die Opposition alles blockiert. Sie möchte mit dieser Methode Neuwahlen erzwingen und an die Macht kommen. Zugleich kann es sich die Regierungspartei nicht erlauben, die Opposition wegen ihrer bisherigen Atompolitik zu kritisieren, aus Furcht vor der weiteren Blockade durch Opposition. Die Nation hat diese Politik satt."

Weitere Artikel: Hannes Stein macht klar, dass er nicht allzuviel von Timothy Leary hält, dessen Nachlass jetzt an die New York Public Library geht. Andreas Rosenfelder erinnert an Marshall McLuhan, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Dankwart Guratzsch begutachtet wohlwollend den (hoffentlich soliden) Entwurf des Darmstädter Büros Waechter + Waechter für das Stadtarchiv in Köln. Berthold Seewald erzählt die Urgeschichte der griechischen Uneinigkeit im 19. Jahrhundert, die 1831 in dem Mord an Ioannis Kapodistrias kulminierte.

Besprochen werden Karin Henkels "Macbeth"-Inszenierung in München und eine CPE-Bach-CD des Cembalisten Andreas Staier.

NZZ, 21.06.2011

Auf der Medienseite fassen Martina Leonarz, Werner A. Meier und Gabriele Siegert die vom Schweizerischen Bundesamt für Kommunikation in Auftrag gegebenen Studien zur Zukunft der Medien zusammen, die vor allem bei den Regionalzeitungen eine sinkende Sachkompetenz und zunehmende Medienkonzentration, Arbeitsdruck und Selbstreferenzialität feststellten. Die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen findet man hier.

Im Feuilleton berichtet Marion Löhndorf von zwei neuen Museumsbauten David Chipperfields in der britischen Provinz: der Turner Contemporary in Margate und des Hepworth Museum Wakefield. Besprochen werden Stefan Kaegis bei den Wiener Festwochen gezeigtes Stück "Bodenprobe Kasachstan", eine Aufführung von Leos Janaceks "Katja Kabanova" an der Wiener Staatsoper, eine Ausstellung zu Richard Buckminster Fullers Architekturvisionen im Marta Herford, Armin Sensers "Shakespeare"-Roman in Versen, Karl Ove Knausgards Kindheitsroman "Sterben" und Emile Ciorans Texte "Über Deutschland" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 21.06.2011

Raul Zelik interviewt den Soziologen Cesar Rendueles über die Proteste in Spanien. Eigentlich ist er ganz begeistert von so viel demokratischer Leidenschaft, aber an der Integration der Immigranten kann man noch arbeiten: "Die Abwesenheit der Immigranten ist natürlich symptomatisch für den Zustand der spanischen Gesellschaft. Die Repression gegen Einwanderer hat ein solches Ausmaß erreicht, dass Immigranten schlicht und einfach Angst haben, zu den Versammlungsorten zu gehen. Ihre Abwesenheit hat aber auch mit uns zu tun. Die Einwanderer haben eigene soziale und Kommunikationsnetze, und wir haben in den vergangenen Jahren wenig dafür getan, um Verbindungen aufzubauen."

Weiteres: Jan Süselbeck fragt, was man heute noch vernünftigerweise mit Kleists dschihadistischem Splatterdrama "Hermannschlacht" anfangen kann. Besprochen werden Schweizer Ausstellungen zur zeitgenössischen chinesischen Kunst in Luzern und Winterthur sowie eine Schau mit Zeichnungen und Collagen von Rosemarie Trockel im Bonner Kunstmuseum.

Und noch Tom.

Weitere Medien, 21.06.2011

Vor zwei Jahren wurde Neda bei den iranischen Demonstrationen erschossen. Hier ein HBO-Dokumentarfilm über ihre kurzes Leben und ihren Tod.


Stichwörter: HBO

Aus den Blogs, 21.06.2011

(via BoingBoing) Emily Temple hat die schlimmsten Schmähungen zusammengestellt, die Autoren über andere Autoren je ausgesprochen haben. Beispiel? Friedrich Nietzsche on Dante Alighieri: "A hyena that wrote poetry on tombs." Virginia Woolf on Aldous Huxley: "All raw, uncooked, protesting." Charles Baudelaire on Voltaire: "I grow bored in France - and the main reason is that everybody here resembles Voltaire?the king of nincompoops, the prince of the superficial, the anti-artist, the spokesman of janitresses, the Father Gigone of the editors of Siecle."

Bei 3quarksdaily hat Lisa Randall, Professorin für theoretische Physik in Havard, die Gewinner des Wissenschaftspreises 2011 ausgesucht, der an Blogger vergeben wird: "All the finalists to this year?s competition were really good -- so good in fact that judging was a challenge. So I tried to focus my judging on one of the major purposes of blogs - to give the news that more traditional sources are not necessarily providing. Yes blogging might get to some issues faster, but one of the real values of blogging is that there can be slightly longer and more in-depth reporting by people who are more knowledgeable and won't shy away from actual science." Der Top Quark geht an SciCurious (Serotonin and Sexual Preference: Is It Really That Simple?), der Strange Quark an Anne Jefferson (Levees and the Illusion of Flood Control) und den Charm Quark teilen sich Sean Carroll (The Fine Structure Constant is Probably Constant) und Ethan Siegel (Where Is Everybody?)

FR, 21.06.2011

Auf der Medienseite spricht die Bloggerin Lina Ben Mhenni im Interview über den Stand der Meinungsfreiheit in Tunesien. Karl Grobe erinnert an den deutschen Überfall der Sowjetunion vor 70 Jahren. Harry Nutt berichtet über den teils erfreulichen, teils unerfreulichen Umgang deutscher Museen und Versicherer mit dem japanischen Reaktorunfall. Axel Veiel schreibt zum 100. Geburtstag des Gallimard-Verlags.

Besprochen werden die Doppelausstellung Constantin Brancusi/Richard Serra in der Fondation Beyeler in Riehen und Bücher, darunter Will Eisners Comic "New York" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 21.06.2011

Mit einiger Skepsis betrachtet Eva Berendsen die aus vielen verschiedenen Interessen gespeiste Um-Inszenierung des Frauenfußballs. Der Imagewandel, der der Werbeindustrie und drum auch dem DFB sehr zupass komme, habe nämlich seine alles andere als emanzipatorischen Seiten: "Frauenfußball ist kein Nischensport mehr, sondern spiegelt die Gesellschaft. Trotzdem bleibt ein gewisses Unbehagen angesichts der aufgehübschten Frisuren, der taillierten Trikots und der aufdringlich selbstbewussten Attitüde. Der neue Frauenfußball erscheint zeitgeistig, aber seine Verfechter bedienen sich zugleich hemmungslos altbekannter Weiblichkeitsbilder."

Weitere Artikel: Geradezu sensationell findet es Oliver G. Hamm, dass in der Türkei mit dem Gefängnis "Ulucanlar" erstmals ein finsterer Ort der Geschichte zum Museum umgewidmet - und damit ausdrücklich nicht wie üblich verdrängt und verleugnet wird. Dirk Schümer bilanziert recht summarisch und schnippisch die Wiener Festwochen. Gundula Werger besucht die letzten Wohnungen Ingeborg Bachmanns in Rom. In der Glosse macht sich Lorenz Jäger, auf der lange vergeblichen Suche nach der freundlicheren Spätfassung von Gottfried Kellers "Grünem Heinrich", Gedanken über die vermeintliche Authentizität des Düsteren. In deutschen Zeitschriften liest Ingeborg Harms unter anderem über den Ursprung der Ökonomie aus der Haushaltsführung.

Besprochen werden das Schönberg- und Beethoven-Konzert, mit dem sich Sylvain Cambreling vom SWR-Sinfonieorchester verabschiedete, eine konzertante Aufführung von Benjamin Brittens Oper "The Rape of Lucretia" beim Aldeburgh Festival, und Bücher, darunter Sarah Gliddens Comic "Israel verstehen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 21.06.2011

Heinz-Elmar Tenorth hat Tilman Jens' Buch über die Odenwaldschule unter dem Reformpädagogen und Knabenliebhaber Gerold Becker gelesen - und findet es apologetisch: "Die Analyse des Autors überzeugt nicht: 'Was haben wir gewusst damals, geahnt zumindest?' fragt Jens; er weiß: '... wir hatten keine Begrifflichkeit für das, was geschah'; er räumt ein: 'Zugegeben: ich bin befangen' - aber wenn es zum Thema kommt, argumentiert er doch nur mit Geschichten, mit Biografisierung und dem Einzelfall, ohne analytische Distanz und Selbstkritik, immer bereit zum Mitleid für Gerold Becker und emphatischen Bekenntnissen zur Schule."

Weitere Artikel: Andreas Zielcke erzählt im Aufmacher die komplizierte Geschichte der altägyptischen Sammlung an der Uni Leipzig, die nun möglicherweise der Jewish Claims Conference zurückerstattet und wieder abgekauft werden muss. Egbert Tholl stellt Martin Kusejs Pläne für das Bayerische Staatsschauspiel vor. Gottfried Knapp schreibt den Nachruf auf den Bildhauer Rudolf Wachter. Volker Breidecker verfolgte auf Schloss Solitude eine Tagung über das Schwellenjahr 1973. Bernd Dörries schildert Turbulenzen am Bonner Beethovenhaus.

Besprochen werden Ulrich Köhlers Film "Schlafkrankheit", eine Ausstellung der Malerin Marieta Chirulescu im Kunstverein Nürnberg, die Ausstellung "Serious Games" in Darmstadt, ein Spektakel von Rene Pollesch an der Berliner Volksbühne und Bücher, darunter Joanna Bators viel gefeierter Roman "'Sandberg"'.