Heute in den Feuilletons

Einschlusslöcher am Gebäudesockel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2012. Die Welt fragt: Gibt es in Deutschland eine Architektur jenseits der Restauration? Telepolis schildert die Risiken von Amazons Kindle: Wer seine Informationsfreiheit nutzt, droht seine Ebooks zu verlieren. Die Zeit stellt in ihrem Dossier fest: Frauen sind die Verliererinnen des arabischen Frühlings. Die FR konstatiert: Helmut Dietls "Zettl" ist ersoffen im guten Willen jener Politik, über die er sich mokieren will. Im Freitag empfiehlt Occupy-Vordenker Mark Greif ziellosen Zorn. Die Jungle World beerdigt den von Greifs Zeitschrift n+1 aufgespießten Hipster.

Freitag, 02.02.2012

Sieben Autoren bekennen kleine (und manchmal gar nicht so kleine) Korruptionsvorfälle im Medien- und Kulturbetrieb. Zum Beispiel Freitag-Kulturchef Michael Angele: "2008 wurde der Moderator Johannes B. Kerner von den Medien kritisiert, weil er für den Börsengang von Air Berlin geworben hatte. Er war damals noch bei den Öffentlich-Rechtlichen angestellt, man sah einen Interessenkonflikt. Kerner zeigte sich uneinsichtig. Aber das ist es nicht, was mich in der jungen Geschichte dieser Fluglinie am meisten empört hat. Am meisten empörte mich, dass Air Berlin rund ein Jahr später den Journalistenrabatt von 50 Prozent auf 25 Prozent herunterstufte. Das können die doch nicht machen!"

Im Interview mit Alexander Schimmelbusch erklärt der Occupy-Vordenker und Herausgeber der hippen Zeitschrift n+1 Mark Greif, wie praktisch es ist, wenn eine politische Bewegung kein Programm hat: "Man würde annehmen, dass man eine Massenbewegung nur dann mobilisieren kann, wenn man klare Forderungen hat, auf die sich alle einigen können, aber hier war genau das Gegenteil der Fall. Es gab genug Leute, die verschiedene Probleme hatten und wütend waren und genau deshalb zusammenfinden konnten, da es eben keine konkreten Formulierungen gab, auf die sich alle einigen mussten."

Jungle World, 02.02.2012

Auch Andreas Hartmann denkt in der Jungle World über den Typus des Hipsters nach, der von der Zeitschrift n+1 nach allen Regeln der Soziologie aufgespießt wurde und alles in allem kaum weniger fade zu schmecken scheint als der einstige Typus des deutschen Popjournalisten: "Der Hipster, wie er sich mittlerweile darstellt, ist nach Lesart der n+1-Autoren ein ignoranter Oberflächensurfer. Er eignet sich nichts mehr an, um ernsthaft damit etwas auszusagen, sondern geht bloß ironisch mit dem Zitat um."
Stichwörter: Hipster, Soziologie

FR/Berliner, 02.02.2012

Recht lakonisch kommentiert Daniel Kothenschulte Helmut Dietls verpatzte Berlin-Satire: "Was hier geschah, wäre fast selbst einen Dietl-Film wert: Da versucht sich ein Regisseur über die Dekadenz der Politik zu amüsieren - und ertrinkt dabei förmlich in den großzügig fließenden Mitteln des staatlichen Filmförderfonds."

Weiteres: Cornelia Geissler stellt das kubanische Ballet Revolucion vor, das auf Tournee nach Deutschland kommt. Nikolaus Bernau empört sich, dass das Rostocker Volkstheater auch nach einem Jahr noch in einem Zelt residieren muss. Außerdem besprochen werden Bennett Millers Baseballdrama "Moneyball", Hans Weingartners Film "Die Summe meiner einzelnen Teile" und ein Konzert der englischen Folkband Bellowhead in Aschaffenburg.

Welt, 02.02.2012

Reichlich mutlos ist der Preis des Deutschen Architektur Museums für die beste deutsche Architektur in den letzten Jahren, findet Sarah Elsing. Meistens geht er an Rekonstruktionen, wie jetzt an das von Diener & Diener renovierte Naturkundemuseum in Berlin: "Wieder lobt die Jury die sichtbar gelassenen Bruchstellen zwischen Alt und Neu. Wieder heißt es, die Architekten setzten mit ihrem 'Mut zur Wunde' neue Maßstäbe und gäben der Diskussion um Wiederaufbau und Denkmalpflege neue Denkanstöße. Wieder zeigt der Katalog Einschlusslöcher am Gebäudesockel. Alles wie im vergangenen Jahr."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr schreibt ein kleines Porträt des Chefs des Naturkundemuseums, Johannes Vogel (mehr hier). Kai-Hinrich Renner empfiehlt die neue Talkshow des ehemaligen ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender auf n-tv. Besprochen werden Filme, darunter die John Le Carre-Verfilmung "Dame, König, As, Spion" (mehr hier).

Aus den Blogs, 02.02.2012

"Adieu, Kindle!" Die Abschottung nationaler Märkte wird jenseits protektionistischer Gedankenexperimente (etwa im Perlentaucher hier) bei Amazon schon von alleine praktiziert, erzählt Peter Köllner in Telepolis. Er hat sich mit seinem Kindle vom amerikanischen auf das spanische Amazon umregistriert und verlor darauf hin alle seine Abonnements amerikanischer Periodika. eine Beschwerde per Mail half überhaupt nichts: "Die Antwort war höflich, aber leider keine Hilfe. Daraufhin erläuterte ich in einer Rückantwort noch einmal etwas eindringlicher, dass eine solche Beschneidung meines Zugangs zu weltweit vorhandenen Informationsquellen für mich überhaupt nicht akzeptabel ist. Schließlich setzt sich im worst case dieses Geschäftsgebaren durch und am Ende wird es unmöglich sein, irgendwelche Bücher zu kaufen, die außerhalb der eigenen Landesgrenzen auf den Markt kommen - die Horrorvorstellung einer intellektuell parzellierten Welt, in der es womöglich ein ernstes Vergehen sein wird, Bücher zu schmuggeln."

Gideon Boss wundert sich in seinem Blog in der Welt, dass man in Deutschland einerseits von Marcel Reich-Ranickis Rede zum Holocaust-Gedenktag so ehrlich ergriffen ist, während man sich mit krassen Antisemiten in anderen Teilen der Welt friedvoll arrangiert: "Da erinnert der Mufti von Jerusalem an die Pflicht, alle Juden zu töten und die palästinensische Gesellschaft nimmt es offensichtlich zustimmend zu Kenntnis. Jedenfalls gab es keine Proteste und keine Demonstrationen gegen diesen Aufruf zum Völkermord. Stattdessen werden im Fernsehen die Mörder der Familie Fogel, die einem Säugling die Kehle durchschnitten, als Helden gefeiert. Anscheinend hat sich das antifaschistische Deutschland aber entschlossen, nur zu verhindern, dass sich die Geschichte im eigenen Land wiederholt. Wenn anderswo jemand davon träumt, die Juden zu vernichten, ist das eine andere Sache..."

TAZ, 02.02.2012

Als "größtes Aktienmarktdebüt aller Zeiten" bezeichnet Falk Lüke den angekündigten Börsengang von Facebook. "Doch Facebook hat einen großen Nachteil: Es hat nur ein einziges Produkt - sich selbst. Während Google, Apple und Microsoft mit einem ganzen Portfolio von Seiten, Hard- und Software in verschiedenen Segmenten unterwegs sind, muss Facebook darauf vertrauen, dass die Nutzer nicht weglaufen - beispielsweise zur Konkurrenz Googles Plus oder zum nicht börsennotierten Twitter."

Beate Seel unterhält sich mit dem jungen ägyptische Dokumentarfilmer Osama El-Wardani, der ein revolutionäres Roadmovie über Libyen - "Tahrir - Ben Ghazi" - gedreht hat und derzeit an einem neuen Film über ägyptische Frauen und ihre Hoffnungen arbeitet.

Ansonsten werden Filme besprochen: die Carre-Verfilmung "Dame, König, As, Spion" von Tomas Alfredson, in dem Gary Oldman als Hauptfigur George Smiley "Erich Honecker als dem Playboy-Klischee des Pulp-Roman-Spions" gleicht, Bennett Millers Sportfilm "Moneyball" mit Brad Pitt, in dem es um Statistik als Strategie im Baseball geht, Hans Weingartners teils "grobe", teils "irritierend zärtliche" Psychostudie "Die Summe meiner einzelnen Teile", die DVD von "Hollywood Fling - Diary of a Serial Killer" von Eckhart Schmidt, einem Protagonisten des Neuen Deutschen Films, außerdem eine Besprechung von Judith Vanistendaels Comic "Kafka für Afrikaner".

Und Tom.

Tagesspiegel, 02.02.2012

Entschlossen papieren verteidigt Sozialphilosoph Axel Honneth im Gespräch mit Angelika Brauer sozialdemokratische Prinzipien gegen den wilden Denker Peter Sloterdijk: "Die mit dem Steuerstaat verknüpfte Idee sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung halte ich nicht für einen Mythos, sondern für ein bewährtes, wenn auch sicher noch nicht hinreichend praktiziertes Prinzip moderner Gesellschaften. Dahinter steht die Einsicht, dass der Reichtum, über den einige Wenige verfügen, sich nicht nur den Anstrengungen dieser Wenigen verdankt, sondern gesellschaftlicher Vorleistungen und einem kulturellen Milieu, für das wir alle zuständig sind."

Außerdem Heiner Geißler geißelt die Siegessäule als das dümmste Monument der Republik.

SZ, 02.02.2012

Ein "furchtbar manieriertes Machwerk" nennt Bernd Graff Ansgar Hevelings vor kurzem ins Gesicht der Netzkultur geschlagenen Fehdehandschuh. Reinhard Brembeck kommt bei dem Vergleich zwischen Deutschlands beiden derzeit vielversprechendsten Tenören Klaus Florian Vogt und Jonas Kaufman zu dem Ergebnis, dass beide "noch einen weiten Weg bis zur Vollendung vor sich" haben. Franziska Augstein stellt das neue Internetportal Futur Zwei vor, das die Vereinbarkeit von "Ökonomie, menschenwürdigen Arbeitsverhältnissen und Ökologie" vermitteln will. Martin Krumbholz spricht mit Klaus Weise, dem Intendanten des Theaters Bonn, über die von Kürzungen betroffene, kulturelle Lage der früheren Haupstadt. Geburtstagsgrüße zum je Siebzigsten gehen an die Musiker James Blood Ulmer und Graham Nash.

Besprochen werden viele Kinofilme, nämlich Hans Weingartners neue Sozialkritik "Die Summe meiner einzelnen Teile", Bennett Millers Baseballfilm "Moneyball", Tomas Alfredsons Kalter-Kriegsfilm "Dame König As Spion" sowie der britische Jugendfilm "Sex on the Beach", Dieter Gliesings Inszenierung von Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht" am Wiener Burgtheater, eine Ausstellung mit Fotografien von Ursula Schulz-Domburg im Museum Bochum, eine Ausstellung mit von Architekten entworfenen Möbeln im Museum für Angewandte Kunst Köln und Bücher, darunter die Ottfried Dascher verfasste Biografie des Kunstvermittlers Alfred Flechtheim (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 02.02.2012

Im Medienteil schreibt Jordan Mejias, wie es Stephen Colbert im US-Wahlkampf einmal mehr mit satirischen Mitteln gelingt, aufklärerisch zu wirken. Aktuell vermittelt er seinen Zuschauern, wie das Super PAC funktioniert, das die unbegrenzte, öffentlich schwer nachvollziehbare Akquise von Firmengeldern für den Wahlkampf gestattet. "Colberts Super PAC wirft aber auch ein unvorteilhaftes Licht auf die amerikanischen Nachrichtenmedien. Die meiste Zeit und die wichtigsten Ressourcen verschwenden sie für Berichte, die nur darauf aus sind, den Verlauf des Rennens zu protokollieren. (...) [Colbert] führt vor, wie Geld den eigentlichen Wettbewerb um Ideen verzerrt, wie heutzutage Milliardensummen nötig werden, um den Gegner zu übertönen, wie damit Richtlinien locker zu umgehen und Gesetze auszuhöhlen sind, kurz, wie die Demokratie zu untergraben ist."

Weiteres aus dem Feuilleton: Edo Reents freut sich sehr über die aufgetauchten Tonaufnahmen Bismarcks (hier zum Anhören), noch bemerkenswerter findet er aber die Tonaufnahmen Graf Helmuth von Moltkes, der beim Sprechen in Edisons Fonografenapparatur gleich in medientheoretisches Räsonieren verfällt. Hannah Lühmann war in Berlin bei der Vorstellung des neuen Internetportals Futur Zwei des Kulturwissenschaftlers Harald Welzer. In gekürzter Übersetzung abgedruckt wird Harlan Jacobsons Abschlussbericht vom Sundance Filmfestival, dessen englisches Original hier zu lesen ist. Ebenso übersetzt ist Evgenys Morozovs Kolumne mit Ratschlägen gegen Verschwörungstheoretiker im Netz. Lucas Müller gibt Gelehrtes über Rügens Kreidefelsen zum Besten (und mahnt Küstenwanderer der eigenen Gesundheit wegen zum andächtigen Abstand). Gemeldet wird, dass die FAZ-Literatuchefin Felicitas von Lovenberg in die Jury für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels aufgenommen wurde.

Besprochen werden neue Schallplatten von Rez Abbasi und dem John McLaughlin Trio, Robert Lepages millionenschwere "Ring"-Vollendung an der New Yorker Met, die Jordan Meijas keineswegs so revolutionär wie annonciert fand, Dieter Giesings "Endstation Sehnsucht"-Inszenierung am Wiener Burgtheater und Bücher, darunter neue über Karl Valentin (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 02.02.2012

Julia Gerlach und Michael Thumann haben sich in Kairo auf die Suche nach der Frau begeben, die vor gut sechs Wochen auf dem Tahrir-Platz so brutal von Polizisten verprügelt wurde. "Das ist Ägypten ein Jahr nach der Revolution: Schläge und Demütigungen, Aufstand der Frauen und Erniedrigung durch gewalttätige Männer. Am Jahrestag der Revolution in der vergangenen Woche standen wieder Tausende Frauen auf dem Tahrir-Platz und riefen nach Freiheit. Tausende riefen im Internet zum Widerstand auf. Doch für die viele Kommentatoren im Westen haben die Frauen die Revolution längst verloren: 98 Prozent der Abgeordneten im neu gewählten Parlament sind Männer, nur zwei Prozent Frauen. Die Schläger vom Tahrir Platz stehen nicht vor Gericht. Das Mädchen mit dem blauen BH ist spurlos verschwunden, und niemand auf der Welt weiß, ob sie überhaupt noch lebt." (Hier das Video)

Im Feuilleton müssen Christine Lemke-Matwey und Claus Spahn feststellen, dass die Lage im Bayreuther Festspielhaus im Winter wesentlich trostloser erscheint als zum Saisonstart: "Schwierige Arbeitsbedingungen, fehlendes Geld, Ärger mit der Gewerkschaft und den Rechnungshöfen, untreue Sponsoren, enttäuschte Künstler, frustrierte Mitarbeiter" (Und wir dachten schon, es wäre etwas Ernstes!)

Weiteres: Ronald Düker trifft Ägyptens Großschauspieler Omar Sharif, der immerhin von seiner Hotelsuite aus der Jugend auf dem Tahrir-Platz zuwinkte ("Er sei sich aber nicht sicher, ob man ihn dort auch gesehen habe."). Hanno Rauterberg trifft Claes Oldenburg, dem das Wiener Mumok und das Kölner Museum Ludwig Ausstellungen widmen. Der Regisseur Benjamin Korn fragt, warum die Deutschen Moliere so viel weniger schätzen als Shakespeare: "Vergießt man beim Lachen weniger kostbare Tränen als beim Weinen?" Moritz von Uslar sammelt im Einstein Unter den Linden Reaktionen auf Helmut Dietls Berlin-Satire "Zettl", Junge Union und Bildzeitung zumindest geben sich begeistert.

Besprochen werden Tomas Alfredsons Le-Carre-Verfilmung "Dame, König, As, Spoion", Jennifer Egans Short Stories "Der größere Teil der Welt" und Amitai Etzionis "Vom Empire zur Gemeinschaft" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).