Heute in den Feuilletons

Künftig wird erst diskutiert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2012. In der taz erinnert sich Najem Wali an die erste Begegnung mit der Folter: Das war, als der Arzt ihm die Vorhaut abschnippelte. Es gibt keine empirischen Beweise für eine Traumatisierung durch Beschneidung, versichert der Theologe Thomas Lentes in der FR. In Wired erinnert Clay Shirky an das Versagen der Medienindustrie nach dem Internetcrash vor zehn Jahren. In der FAZ spricht Karl Heinz Bohrer über seine Jugend in den Dreißigern. Die SZ macht sich Sorgen um die Berliner Gemäldegalerie. Und in der NYRB beschwört Tim Parks den Geist Hamlets in der Literatur des letzten Jahrhunderts. 

TAZ, 04.07.2012

Der Schriftsteller Najem Wali erinnert sich in einem bestürzenden Text an seine Beschneidung mit zwölf Jahren als einen Akt purer Grausamkeit, der ihm ein für allemal die Religionen vergällte: "Ich musste beschnitten werden. Es gab keinen Ausweg. An jenem Abend fragte ich meinen Vater, ob der Arzt mich betäuben würde, und er antwortete, dass dies selbstverständlich sei. Doch der Arzt betäubte mich nicht. Ich erinnerte mich noch heute an die Szene: Als ich auf dem Bett lag, ergriff mein Vater mich bei den Armen, ein Kumpel meines Vater bei den Beinen, und dann begann auch schon die Schere des Arztes an meiner Vorhaut herumzuschnippeln. Die Küsse meines Vaters waren der einzige Trost. Aber nein, es war keine Beschneidung, es war meine erste Begegnung mit der Folter." (An der Kette des Arztes sah er dann auch noch den ans Kreuz genagelten Christus baumeln.)

Weiteres: Maik Nolte stellt den jungen niederländisch-israelischen Theatermacher Ilay den Boer vor, der in seinen Performances Antisemitismus und Nahost-Konflikt mit persönlicher Selbsterkundung verbindet. Dirk Knipphals hat sich mit mittlerer Begeisterung den "potlatschartig mit Einfällen um sich werfenden" vierten "Ice Age"-Film angesehen.

Und Tom.

FR/Berliner, 04.07.2012

Heute wird das europäische Parlament über das Acta-Abkommen abstimmen und es wahrscheinlich ablehnen, berichten Jonas Rest und Peter Riesbeck. Es ist das erste Mal, dass die Internetgeneration durch ihren Protest ein so wichtige Projekt verhinderte, so die Autoren weiter, die die niederländische Europaparlamentarierin Sophie in't Veld zitieren: "Die Zeit von Geheimverhandlungen ist vorbei. Künftig wird erst diskutiert, dann erteilt das Parlament ein Verhandlungsmandat und dann wird erst ein Vertrag gemacht."

Jahrtausendelang beschnitten die Menschen Säuglinge, banden den Mädchen die Füße oder verlängerten Ohrlappen, schreibt der Theologe Thomas Lentes und wirbt so um Verständnis für diese Sitten: "Wer dies heute leichtfertig als archaische Körperverstümmelung und Verletzung abtut, legt sich über die eigenen Kulturmarken schlicht keine Rechenschaft ab." Das Argument bleibender gesundheitlicher Nachteile oder der Traumatisierung will Lentes nicht gelten lassen: "Weil genau diese offenbar empirisch eben nicht in einer Weise nachweisbar sind, dass sie für das Verbot der religiösen Beschneidung taugen!"

Außerdem in der FR: ein Interview mit Deep Purple-Legende Ritchie Blackmore.

Aus den Blogs, 04.07.2012

Tim Parks hörte kürzlich eine Radiosendung zu der Frage, wer die unvergesslichste Figur in der Literatur des 20. Jahrhunderts ist. Leopold Bloom? Jay Gatsby? Jeeves? Parks ist das eigentlich egal, erklärt er im Blog der New York Review of Books, "but now suddenly it occurs to me that by far the main protagonist of twentieth century literature must be the chattering mind, which usually means the mind that can't make up its mind, the mind postponing action in indecision and, if we're lucky, poetry. There were plenty of forewarnings. Hamlet is the most notable. [...] Tristram Shandy is another forerunner, too aware of his narrative performance to narrate anything coherent, let alone act. Both Hamlet and Tristram are characters who didn't reach the height of their popularity until the twentieth century. We had become like them."

Außerdem im Blog der NYRB: Margaret K. Koerner hat den südafrikanischen Künstler William Kentridge und den amerikanischen Wissenschaftshistoriker Peter Galison auf der Documenta getroffen, wo Kentridge sein Werk "The Refusal of Time" zeigte: "The work is, in part, the result of an extended series of discussions between Kentridge and Galison about the history of the control of world time, relativity, black holes, and string theory. In the installation, five films are projected on three walls of an industrial space near the Kassel train station. A large wooden structure with moving parts - it resembles something like an accordion and an oil rig combined - occupies the center of the room; this is the 'breathing machine (elephant).'" In einem langen Gespräch mit Kentridge und Galison erfährt sie, worum es dabei geht: "We were both fascinated by this late nineteenth-century moment when technologies wore their functions on their sleeve, so to speak; they hadn't sunk their structure into chips and black boxes."

Und: Michael Chabon macht sich einen Reim auf "Finnegan's Wake".

Welt, 04.07.2012

Manuel Brug hat Verständnis für John Neumeiers Protest gegen Kürzungen bei Oper und Ballett in Hamburg, während gleichzeitig "das anmaßend neureiche Musikmillionengrab" Elbphilharmonie entsteht. Alan Posener bietet sechs mögliche Erklärungen dafür an, dass "nicht mehr ganz junge Männer in Schlips und Anzug" in der U-Bahn keiner älteren Dame mehr den Sitzplatz freimachen.

Besprochen werden Robert Weides Dokumentarfilm über Woody Allen für die Fernsehserie "American Masters", der Tjulpanow-Bericht, in dem Sergei Tjulpanow Moskau 1948 über seine Geheimdiensttägigkeit in Deutschland berichtete, Calixto Bieitos Stuttgarter Inszenierung von Rameaus Ballettoper "Platée" und die Fernsehserie "Lilyhammer", die vom norwegischen Fernsehen und dem Videostreamingdienst Netflix produziert wurde (und die in Deutschland nicht zu sehen ist, weil man Netflix in Deutschland - natürlich - nicht nutzen kann).

Aus den Blogs, 04.07.2012

(Via Matthias Rascher) Flavorwire stellt die beste Architektur in Regenbogenfarben vor:



Open Culture hat zwei Werbevideos für die amerikanische Fluglinie Braniff International Airways aus den sechziger Jahren gefunden. Motto: "When you got it, flaunt it!" (Etwa: "Wenn du es hast, zeig es!" Im ersten Video sagt das Andy Warhol, nachdem er Boxer Sonny Liston die Schönheit von Campbell-Dosen erklärt hat, im zweiten ruft es Salvador Dali!





Stichwörter: Dali, Salvador, Warhol, Andy

NZZ, 04.07.2012

Roman Hollenstein hofft auf eine behutsame Sanierung des von Arne Jacobsen und Otto Weitling entworfenen Mainzer Rathauses, das von einigen vielleicht als Beamtengefängnis verspottet werde, tatsächlich aber ein dem "Bürgersinn und Bürgerstolz" verpflichtetes Meisterwerk der Nachkriegsmoderne sei. Kristina Bergmann stellt den ägyptischen Künstler Khaled Hafez vor. Marion Löhndorf berichtet von der Einweihung eines ästhetische nicht ganz unumstrittenen Denkmals für Englands Bombenflieger, bei der aber auch die Opfer des Bombardements bedacht wurden.

Besprochen werden die Helmut-Newton-Retrospektive im Pariser Grand Palais (die Marc Zitzmann als "Allerwelts-Überblick" abfertigt), Christopher B. Krebs' Tacitus-Studie "Ein gefährliches Buch" und Iva Procházkovás Jugendroman "Orangentage" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 04.07.2012

Das Higgs Boson existiert, meldet der Stern. "Versehentlich stellte das Forschungszentrum [Cern] am Dienstag kurzzeitig ein Video ins Internet, in dem die Beobachtung eines neuen Teilchens - mutmaßlich des sogenannten 'Gottesteilchens' - bestätigt wird. 'Wir haben ein neues Teilchen beobachtet', sagt Cern-Sprecher Joe Incandela in dem Video, das die US-Zeitschrift Science News zuerst entdeckte."

(Via Dirk von Gehlen) Im Interview mit Wired lässt Clay Shirky noch einmal die Reaktion der traditionellen Kulturindustrien auf den Internetcrash vor zehn Jahren Revue passieren: "At the end of the first boom, a bunch of media companies said, 'phew, we thought that internet thing was going to be a big deal, but now we see that it was just a tulip bubble, everybody back as you were.' And there was a moment there where the music industry, the newspaper industry, the movie industry, television, whatever could have said, 'you know what, we are going to take the fact that our competitors have been financially weakened for a moment and we are going to build what they were going to build. We're going to build the jukebox in the sky, we are going to build the news websites they were building and so forth.' But they largely didn't. They largely said, 'Oh thank god, the orphanage is safe, the 20th century business model will continue unmolested.' And both Google AdWords and Napster happened during the recession."

SZ, 04.07.2012

Stephan Speicher erläutert die Hintergründe und Absichten der zuletzt (etwa hier) kontrovers diskutierten Pläne, in Berlin die Alten Meister aus der Gemäldegalerie zu entfernen, um sie in einem eventuell irgendwann existierenden Neubau zu zeigen. Einiges an dem Projekt findet er nicht völlig unvernünftig, allein der Umfang lässt ihn sorgenvoll in die Zukunft blicken: "Richtiger wäre es, erst die neue Gemäldegalerie zu bauen und dann die Gemäldegalerie am Kulturforum umzurüsten. Verfährt man umgekehrt, so besteht die Gefahr, dass ein Schritt gemacht wird, für den nächsten aber die Kräfte fehlen. Ob den Abgeordneten, als sie den Nachtragshaushalt beschlossen, klar war, dass damit ein Neubau verbunden ist, dessen Kosten die Stiftung auf 150 Millionen Euro taxiert?"

Außerdem: Joseph Hanimann durchleuchtet den französischen Buchmarkt und stellt fest, dass dessen jährliches Wachstum um drei Prozent trotz E-Book "im Wesentlichen (...) von den gedruckten Büchern" komme. Jan Kedves ist ganz aus dem Häuschen: SynthPop-Urvater Giorgio Moroder ist Gast beim Filmfest in München und legt auch noch für sechs Minuten als DJ auf. Peter Laudenbach erläutert die Kontroversen um Enrico Lübbes Berufung zum Intendant des Centraltheaters in Leipzig. Online schreibt Eva-Elisabeth Fischer zum Tod der österreichischen Chanson-Sängerin Margot Werner. Die ganze zweie Seite des Feuilletons ist dem 100. Geburtstag von Dirigent Sergiu Celibidache gewidmet, den Dieter Henrich ausführlich würdigt. Tim Neshitov erinnert sich, wie der Jubilar 1985 die Gasteig-Philharmonie eröffnete, während sich Egbert Tholl eine Ausstellung mit dessen Fotos in der Münchner Philharmonie angesehen hat. Bei Youtube dirigiert er mit verschmitztem Lächeln Ravels Bolero:



Besprochen werden David Cronenbergs gleichnamige Verfilmung von Don DeLillos Roman "Cosmopolis" und Alfred Dürs Buch "Unerhörter Mut" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 04.07.2012

Stephan Schlak hat bereits Karl Heinz Bohrers stark erwarteten Erinnerungsband "Granatsplitter" über seine Kindheit und Jugend in den dreißiger, vierzigen und frühen fünfziger Jahren gelesen: "Mir lag daran, diese Welt von damals als eine sehr fremde zu schildern", sagt Bohrer dazu im Gespräch mit Schlak, "ich musste mich enorm konzentrieren, weil die Erinnerungsmomente nicht einfach abrufbar waren, sondern in der Konzentration als vage Bilder erschienen."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko findet die Unesco ganz schön lächerlich, die stolz 29 weitere Denkmäler ins Weltkulturerbe einreiht, während Islamisten Timbuktu zerstören, ohne dass von der Organisation ein Wörtchen des Protests zu hören ist. Jan Wiele wirft einen Blick auf das kommende Wettlesen in Klagenfurt und fragt, was der Bachmann-Preis noch mit seiner Namenspatronin zu tun habe. Dieter Bartetzko berichtet über den Kauf eine Rousseu-Büste von Jean-Antoine Houdon durch das Frankfurter Liebieghaus. Gina Thomas blickt auf einige britische Opernereignisse des Sommers.

Besprochen werden die neue "Ice Age"-Folge und Bücher, darunter Michal Hvoreckys Roman "Tod auf der Donau" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).