Heute in den Feuilletons

Was öffentlich ist und was nicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2013. Die FAZ fragt mit Antonio Muñoz Molina nach Spaniens Verantwortung für die Krise. Außerdem skizziert Ernst Elitz die Zukunft des Journalismus mit viel Paywall und Leistungsschutzrecht. Die Guardian-Leser freuen sich zu 64 Prozent über Stephen Hawkings Entscheidung, Israel zu boykottieren. Die SZ bewundert die barocke Hängung in Sanssouci. Die NZZ staunt über südkoreanischen Optimismus. Die Welt beleuchtet das kräftezehrende Metier der Liebesromanautorinnen.

NZZ, 10.05.2013

Andreas Breitenstein schickt einen sehr informativen Text über die beispiellose Erfolgsphase, in der sich Südkorea gerade politisch, wirtschaftlich und Kulturell befindet. Die Konkurrenz zur kleptokratischen Militärdiktatur im Norden dürfte das Land sogar eher beflügeln als aufhalten: "Südkorea ist mit Schwung und Optimismus unterwegs. Einmal pro Jahr zieht sich das Wasser im Frühling bei der südlichen Insel Jindo so weit zurück, dass die Passage zur Nachbarinsel begehbar wird. Die Menschen scheinen dann über Wasser zu gehen. Dass das 'Wirtschaftswunder vom Han Fluss' hier seine natürliche Bestätigung erfährt, mag man als Sinnbild sehen. Die Südkoreaner können gar nicht genug Stärke tanken für den Kraftakt der Wiedervereinigung, der ihnen vielleicht schneller bevorsteht, als sie es sich ausdenken mögen."

Weiteres: Marion Löhndorf berichtet, wie die britische Kulturministerin Maria Miller mit neuen Sparbeschlüssen das Kulturestablishment schockierte: "Kultur solle sich als Exportartikel bewähren, zur Imagepflege und Stärkung der Marke England beitragen und den Tourismus ankurbeln." Besprochen werden Werner Düggelins Inszenierung von Jon Fosses "Schönes" am Schauspielhaus Zürich und Joe Dalys südafrikanischer Comic "Doppeltes Glück mit dem roten Affen" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und als "Gegengift zum überproduzierten Pop" empfiehlt Jonathan Fischer die "beseelte Räudigkeit" der wiederentdeckten Gospelveteranen The Relatives. Hier ihr ziemlich funkiges "Let the Light Shine":


Spiegel Online, 10.05.2013

Google stellt sich viel zu wenig der Diskussion über Google Glass, findet Sascha Lobo in seiner Kolumne. Mit der Brille assoziiert sei "das Gefühl der Unentrinnbarkeit für jeden, der einem Glass-Nutzer gegenübersteht. Die Kamera in der Brille kann Fotos per Augenzwinkern machen, die Aufzeichnung eines Videos ist ebenso simpel und kaum bemerkbar möglich... Besonders in Verbindung mit anderen, längst bekannten Technologien wie der Gesichtserkennung per Software ergibt sich eine Stunde Null der digitalen Öffentlichkeit: Was öffentlich ist und was nicht, wird zukünftig in jeder Situation neu verhandelt, bis die entsprechenden Konventionen und Selbstverständlichkeiten entstanden sind."

TAZ, 10.05.2013

Elias Kreuzmair unterhält sich mit Ezra Koenig, Gitarrist und Sänger der New Yorker Indie-Rock-Band Vampire Weekend, über ihr neues Album „"Modern Vampires of the City“". Koenig definiert im Gespräch auch seine Version von Erwachsensein: „Für mich heißt erwachsen zu sein nicht, intelligent zu sein. Es heißt nicht, erfahren zu sein. Es ist eine gespielte Ernsthaftigkeit. Vor allem für Musiker ist das gefährlich: Man fängt an, sich professionell aufzuführen, ist völlig von sich eingenommen. Musik ist mein Hobby, eine Leidenschaft und nichts, was ich als Job machen kann. Für uns bedeutet, nicht erwachsen werden zu wollen, verspielt zu bleiben

Besprochen werden Park Chan-Wooks Psycho-Thriller „Stoker“, das neue Album „"Songs Cycled“" des kalifornischen Komponisten Van Dyke Parks und Erich Kästners Texte über die Bücherverbrennung vor 80 Jahren. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und Tom.

Welt, 10.05.2013

Henriette Kuhrt schickt einen Bericht über das Jahrestreffen der vom Feuilleton gesnobbten Liebesromanautorinnen. Drei Bücher schreiben manche im Jahr, da braucht man Metier: "Recherchieren, Charaktere und Dramaturgie entwickeln, schreiben und dabei immer unterhaltsam sein, immer auf die ganz großen Gefühle abzielen - so leicht, wie sich ein Frauenroman liest, ist er eben nicht geschrieben. 'Der Erfolg von 'Shades of Grey'', sagt ein Delia -Mitglied, 'war kein Zufallstreffer einer unbedarften Hausfrau, die mal einen S/M-Roman ins Netz gestellt hat. Die Autorin hat vorher jahrelang als Redakteurin beim BBC gearbeitet, die war ganz bestimmt nicht so naiv, wie sie im Nachhinein tut.'"

Eckhard Fuhr wandert angeregt durch die Dessauer Ausstellung über eine Bauhaus-Schau in Kalkutta vor 90 Jahren: "Man vergisst leicht, dass das frühe Bauhaus eher zurück als nach vorne schaute und in der Ganzheitlichkeit des Handwerks Heilung von den Gebrechen der Moderne suchte. Ähnliches dachte und tat man in Tagores Reformuniversität, nur dass hier eher die ländlich-bäuerliche Kultur als das städtische Handwerk zum Kraftquell kultureller Erneuerung erklärt wurde."

Weitere Artikel: Der Düsseldorfer "Tannhäuser" mit SS-Schergen und allem Pipapo wurde nach der ersten Aufführung wieder abgesetzt, weil er laut Theaterleitung "für zahlreiche Besucher sowohl psychisch als auch physisch zu einer offenbar so starken Belastung geführt hat", dass sie türenknallend das Theater verließen, meldet Manuel Brug, der die Absetzung ziemlich feige findet. Stefan Keim berichtet über die intrigenreiche Suche nach einem neuen Schauspiel-Chef für Düsseldorf. Andreas Rosenfelder erinnert an die Bücherverbrennung der Nazis vor achtzig Jahren.

Und Gerhard Midding erinnert an den erste Fantômas-Film von Louis Feuillade vor 100 Jahren: "Er war ein Delinquent auf der Höhe seiner Zeit, der sich den technischen Fortschritt zum Verbündeten zu machen wusste. In dieser Gestalt trafen Faszination und Unbehagen an der atemlosen Beschleunigung des modernen Lebens aufeinander. Seine Fluchtautos waren stets eine Spur schneller als die Dienstfahrzeuge der Polizei." Hier die zweite Episode, ebenfalls noch von 1913, "Juve contre Fantômas":



Besprochen wird Mark-Anthony Turnages Oper "Anna Nicole" am Theater Dortmund.

Aus den Blogs, 10.05.2013

Bei Markus Trapp finden wir die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Claus Peymann und Piratin Marina Weisband vom 08. Mai über Theater und Netz, das im Rahmen dieser Konferenz geführt wurde:



Schlusspunkt der re:publica war ein Videointerview mit Ai Weiwei (etwa ab Minute 3.30'):


Weitere Medien, 10.05.2013

Der Guardian ist ganz aus dem Häuschen über die Entscheidung des berühmten Physikers Stephen Hawking, eine Einladung nach Israel auszuschlagen und sich der Boykott-Bewegung gegen das Land anzuschließen. Der palästinensische Aktivist Ali Abunimah bezeichnet diese Entscheidung auf den Comment is free-Seiten der Zeitung als Wendepunkt. Der Guardian hat dann auch gleich eine Abstimmung unter seinen Lesern veranstaltet, in der 64 Prozent Hawkings Schritt gutheißen - und der Artikel dazu hat über 1700 Kommentare.
Stichwörter: Guardian, Hawking, Stephen, Israel

SZ, 10.05.2013

Begeistert begeht Gustav Seibt die Jubiläumsausstellung der Bildergalerie Friedrichs des Großen in Sanssouci, einem der letzten Orte, in denen Bilder noch in original barocker Manier dicht an dicht und einander überlappend aufgehängt sind: "Die Aufgabe für den Betrachter, der sich heute in einem Museum Schritt für Schritt historisch genau situierten Kunstwerkindividuen zuwendet, war bei solcher barocker Hängung ganz anders und möglicherweise komplexer, weil die Eindrücke viel polyphoner auf ihn einstürmten."

Außerdem: Bastian Obermayer entnimmt Polizeiakten, dass die umstrittene Patriotenband Frei.Wild von der Naziband Stahlgewitter wegen eines angeblich abgekupferten Gitarrenriffs belangt wird. Karin Steinberger kann gut damit leben, dass Disney in der aktuellen Tierdoku "Schimpansen" entgegen aller Promo, die unverfälschte Geschichte eines Schimpansenbabys zu erzählen, eine aufgehübschte Variante präsentiert, in der das Baby am Ende nicht, wie in der Realität, starb: "Versteht jeder, dass man keinen von Maden durchbohrten Schimpansenbabykadaver als letzte Einstellung präsentieren kann." Erik Hersmann erklärt Niklas Hofmann, dass Afrika in Sachen Internet in den vergangenen Jahren enorm aufgeholt hat. Abgedruckt wird ein Auszug aus David Remnicks bald erscheinendem Buch über Bruce Springsteen. Tobias Kniebe verabschiedet sich vom Stopmotiontrick-Meister Ray Harryhausen. Hier spricht er darüber, wie er seine legendäre Skelette auf Sindbad hetzte:



Besprochen werden Bücher, darunter Hartmut Köhlers neue Übersetzung von Dantes "Göttlicher Komödie", vor der Burkhard Müller in die Knie geht (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 10.05.2013

Spanien bleibt auch in der Krise selbstzufrieden und macht lieber Angela Merkel fürs eigene Debakel verantwortlich, schreibt Paul Ingendaay und kann zum Glück berichten, dass nun einige Autoren dagegen aufbegehren und den Blick zurücklenken, zum Beispiel der Romancier Antonio Muñoz Molina, der in dem aufsehenerregenden Essay "Todo lo que era sólido" (Alles, was einmal fest war) beklagt, das die spanische Demokratie nach Franco es versäumt habe, die Strukturen des Landes zu demokratieren. Sein Buch "wirft der Linken vor, nur das Etikett ausgetauscht, aber ähnlich autoritäre Machtstrukturen geschaffen zu haben wie die diskreditierte Franco-Rechte; es diagnostiziert einen aufgeblähten Parteienstaat, der nur dem Machterhalt der eigenen Leute diene; es beklagt Verschwendungssucht, Umweltzerstörung, Großsprecherei und einen eklatanten Mangel an Bildung - das große Versäumnis der letzten dreißig Jahre."

Ja, was denn nun, fragt man sich nach Ernst Elitzs langem Text im Medienteil zur Diskussion über die Zukunft des Journalismus im Digitalzeitalter, in dem dieser einmal mehr das Märchen von den Zeitungen erzählt, die ihre Inhalte komplett und kostenfrei online zur Verfügung stellen. Erst ruft er seinen Kollegen ein beherztes "Rein in die Zukunft" entgegen: "Medien mit eingebauter Verspätung verpassen den Anschluss. Sie fahren Museumsbahn." Doch bremst ein umgehendes Lob des Printprivilegs diese Euphorie umgehend aus: "Diese besonderen Texte der Printausgabe dürfen nicht gleichzeitig ins Netz gestellt werden. Print braucht Exklusivität. Das Gedruckte muss sich stilistisch abheben von dem durch das Tempo der Ereignisse diktierten Online-Stil." Und finanziert werden soll dieser Zukunftsjournalismus durch Leistungsschutzabgabe, während eine Paywall für die Websites öffentlich-rechtlicher Sender den Markt frei halten soll. Im Klartext: Elitz plädiert für eine Zukunft verriegelter Öffentlichkeitsinseln.

Außerdem: Der Autor Doron Rabinovici erinnert sich an Robert Jungk, dessen Antiatom-Texte ihn zum eigenen Schreiben anregten. Hubert Spiegel porträtiert den umstrittenen kosovarischen Politiker Ramush Haradinaj, der hofft, als Ministerpräsident in seinem Land alles in Ordnung zu bringen: Er "spricht, als wolle er nicht Ministerpräsident sondern erster Mechaniker seines Landes werden." Patrick Bahners resümiert das PEN World Voices Literaturfestival, dessen Themenschwerpunkt um das Thema Zensur kreiste. Die französischen Intellektuellen sind enttäuscht über den ausbleibenden "Dialog von Geist und Macht" nach Hollandes Wahlsieg, berichtet Jürg Altwegg. Jürgen Dollase genießt im französischen Restaurant "Le Georges" ein von Laurent Clement zubereitetes Tournedos Rossini, das "aus einer anderen Welt zu stammen" scheint. Dietmar Dath schreibt den Nachruf auf den Trickfilmer Ray Harryhausen.

Besprochen werden neue CDs, darunter Stefan Kaminskis Ein-Mann-Interpretation (einige Eindrücke) des "Rings des Nibelungen", Werner Düggelins Inszenierung von Jon Fosses "Schönes" am Schauspielhaus Zürich, Michael Mayers Film "Out in the Dark" und Bücher, darunter Magnus Florins Roman "Der Garten" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).