Heute in den Feuilletons

Das Recht, den Turm zu besteigen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2013. Im NYRblog fürchtet Tim Parks, dass sich Italien von Silvio Berlusconi erpressen lässt. David Carr fragt sich in der New York Times, warum Edward Snowden oder Julian Assange ausgerechnet von Journalisten oft so gnadenlos angegriffen werden. Die NZZ besucht die Insel Samos und trifft auf neueste Kunst und Emigranten. Die Ausstellung über die Völkerschlacht im Deutschen Historischen Museum findet die Gnade der SZ so wenig wie die der FAZ. In der FAZ besingt György Konrád seine Stadt Budapest.

Weitere Medien, 27.08.2013

David Carr fragt sich in der New York Times, warum Edward Snowden oder Julian Assange ausgerechnet von Journalisten oft so gnadenlos angegriffen werden - und hat eine klare Antwort: "The larger sense I get from the criticism directed at Mr. Assange and Mr. Greenwald is one of distaste - that they aren't what we think of as real journalists. Instead, they represent an emerging Fifth Estate composed of leakers, activists and bloggers who threaten those of us in traditional media. They are, as one says, not like us." Und weiter: "If the revelations about the N.S.A. surveillance were broken by Time, CNN or The New York Times, executives there would already be building new shelves to hold all the Pulitzer Prizes and Peabodies they expected. Same with the 2010 WikiLeaks video of the Apache helicopter attack."

TAZ, 27.08.2013

Als "Monument des Behagens" beschreibt Eberhard Geisler die neue Goethe-Biografie von Rüdiger Safranski: "Safranski scheint vom Gedanken eines gemeisterten, gut eingerichteten Lebens derart angetan, dass er selbst eine Prosa sucht, die niemals in Stocken gerät, die gleichmäßig, Satz für Satz, fließt und sich nacherzählend am Glück der hergestellten Gegenwart labt. Will er bei einem Glas Wein gelesen werden, vorm beständig knisternden Kamin?"

Ob man nun Roma oder Zigeuner sagt, findet Flavia Constantin völlig unwichtig. Die Frage ist, wie können Roma in den Mehrheitsgesellschaften ankommen. Zum Beispiel, indem man die Frauen unterstützt, meint sie, die selbst an einem Journalismustraining der Romedia-Stiftung teilnimmt: "Dass dieses Konzept funktioniert, erlebe ich jeden Tag im Workshop. Mariana, mit der ich gemeinsam aus Bukarest nach Berlin geflogen bin, hat Rumänien vorher noch nie verlassen. Mit 12 Jahren brach sie die Schule ab, mit 15 bekam sie ihr erstes Kind. Jetzt ist sie 23, lebt in einem winzigen Dorf ohne Stromversorgung und versucht alles, um ihre beiden Kinder irgendwie durchzubringen. In den ersten Tagen des Workshops war sie sehr unsicher. Mittlerweile hält sie alles, was ihr über den Weg läuft, mit der Kamera fest und ist wahnsinnig neugierig auf die Welt."

Weitere Artikel: Isolde Charim glaubt, dass nicht mehr Transparenz, sondern mehr Eigensinn gegen die Verselbständigung der Exekutive hilft. Maryam Schumacher sichtet die ersten französischen Comics zu Francois Hollande als Präsidenten. Franziska Buhre bespricht eine Choreografie zu Glenn Goulds "The Goldlandbergs". Catarina von Wedemeyer liest die neue Ausgabe der Zeitschrift Zenith, die sich den Möglichkeiten eines kurdischen Staates widmet.

Und Tom.

Welt, 27.08.2013

Thomas Hahn bewundert die Aussicht vom seit 490 Jahren erstmals öffentlich zugänglichen La Tour Saint-Jacques in Paris: "Das Recht, den Turm heute zu besteigen, erkämpfte Rémi Rivière. Er hat einige Erfahrung darin, sich mit der allmächtigen Pariser Stadtverwaltung anzulegen. Zuerst erstritt er das Recht, den letzten mittelalterlichen Turm von Paris, la Tour Jean Sans Peur (Johann Ohnefurcht) für Besucher zu öffnen. Sein nächstes Ziel sind die zwei Colonnes du Trône, die Türmchen an der Place de la Nation. Denn was mit Steuergeldern gepflegt wird, das sollen die Bürger auch besichtigen dürfen, lautet sein Credo."

Weitere Artikel: Ab 2015 sollen wenigstens fünf nachgelassene Bücher von Jerome Salinger erscheinen: Das behauptet jedenfalls der Filmemacher Shane Salerno, der seit 2010 an einer Salinger-Doku arbeitet, meldet Wieland Freund. Manuel Brug resümiert die Sommerfestival-Saison. Philipp Hedemann begutachtet Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso und stellt fest: Es lebt. Hanns-Georg Rodek stellt Hayao Miyazakis Zeichentrickfilm "Kaze Tachinu" über den Erfinder des Kamikaze-Flugzeugs "Mitsubishi Zero" vor, der in Japan Kontroversen ausgelöst hat. Und Jörn Florian Fuchs berichtet von einem Kunst-Musik-Projekt in Salzburg, das vom Publikum "zwar freundlich, aber zunehmend ermattet" aufgenommen wurde.

Aus den Blogs, 27.08.2013

Sehr entschieden klingt Tim Parks' neuer Blogeintrag über Italien im NYRblog: "Vote me out of jail, or I will bring the country down with me. This, essentially, is the message Silvio Berlusconi -four-time prime minister, owner of the country's three main commercial TV channels, criminal defendant many times over - has just sent to the Italian government, one that clarifies at last the exact nature of what is at stake in Italy at the present moment: is this a modern state where the rule of law prevails or is it the fiefdom of an institutionalized outlaw?"


NZZ, 27.08.2013

Samuel Herzog stellt den Art-Space Pythagorion vor, eine ganz und gar unwahrscheinliche Kunsthalle, die von der deutsch-griechischen Schwarz-Stiftung ausgerechnet auf Samos errichtet wurde: "An der Meerenge vom Mykali, die man von Pythagorion aus gut überblickt, ist das türkische Festland nur gerade 1,7 km von Samos entfernt. Das ist für Schlepper ideal - ganz ähnlich wie in Gibraltar. Allerdings weiß das natürlich auch die Europäische Union, weshalb ihre Frontex hier fleißig patrouilliert. Was sie aus dem Wasser fischt, landet vorerst in einem Auffanglager in der samotischen Hauptstadt Vathi - eine riesige Anlage, finanziert von der EU. Auch das ist eine Realität von Samos, auch das eine Art, die Insel zu besuchen."

Auf der Medienseite berichtet Inga Rogg von der Gleichschaltung der Medien in der Türkei, wo sich die Medienkonglomerate immer mehr dem Willen der Regierung Erdogan beugen und Berichte über die Protetste im Gezi-Park zu verhindern versuchen: "Nach Angaben der türkischen Journalistenvereinigung sind in den letzten Wochen sechzig Journalisten entlassen worden, oder sie haben wegen des Drucks freiwillig gekündigt. Anfang des Monats traf es den bekannten Kolumnisten der Tageszeitung Milliyet, Can Dündar. 'Ich bin nicht der Erste', schrieb Dündar auf seiner Website. 'Und ich werde nicht der Letzte sein.'" (Auch die Redakteure der Zeitschrift Tarih mussten nach ihrem tollen Titel gehen).

Uwe Justus Wenzel widmet sich der Ratlosigkeit als Signet unserer Zeit. Besprochen werden Urs Widmers Autobiografie "Reise an den Rand des Universums", Alessandro Pipernos Roman "Die Verfolgung" und Peter Henischs Roman "Mortimer & Miss Molly" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 27.08.2013

Über die Ausstellung "1813 - Auf dem Schlachtfeld von Leipzig" im Deutschen Historischen Museum Berlin ärgert sich Jens Bisky sehr, zumal sie das erste Herzensprojekt des auch nach zwei Jahren bislang konturlos wirkenden neuen Direktors Alexander Koch ist und das Haus von Lage und Finanzierung her besonders privilegiert: "Selbst über den Maler Krafft erfährt man bei Wikipedia mehr als in der Ausstellung. Kein Stadtmuseum hätte sich mit solcher Anspruchslosigkeit und Beschränkung auf die deutsche Perspektive zufriedengegeben. Wozu ein bundesfinanziertes Deutsches Historisches Museum, wenn dieses sich aus dem intellektuellen Gespräch der Republik zurückzieht?" Auch Andreas Kilb kritisierte die Ausstellung kürzlich in der FAZ.

Außerdem: Ira Mazzoni sorgt sich um den Erhalt der spätmodernen Architektur, der auf Grund ästhetischer Abwägungen der Abriss droht: "Dabei steht viel auf dem Spiel: unsere jüngste Geschichte und die Vertrautheit unserer Städte, die ihre Identität nicht nur aus Gründerzeitfassaden beziehen." Judith Liere rätselt beim Treffen mit Helene Hegemann, ob sie die Bemerkungen der Autorin nun "als klugscheißerisch oder wichtigtuerisch empfinden" oder darin eine "etwas nerdige Begeisterung für Intellektuelles sehen" soll. Harald Eggebrecht begeht die für die Ruhrtriennale zu Rauminstallationen umgewandelten Industrieruinen, darunter Douglas Gordons "Silence, Exile, Deceit". Thomas Steinfeld gratuliert der Autorin Kerstin Ekman zu ihrem 80. Geburtstag.

Auf der Medienseite finden wir einen ungläubig staunenden Henning Klüver beim Besuch der Archivkeller des zum Bertelsmann gehörenden Mailänder Musikverlags Ricordi. Hier steht er vor "15000 Briefen, 10000 Libretti, 12000 Entwürfen für Bühnenbilder, Kostüme und Requisiten, 6000 Fotografien, Drucken, Plakaten, Zeitschriften, Partituren, die vollständige Unternehmenskorrespondenz von 1888 bis 1962. Das riesige Archiv mit mehr als 100000 Archivalien hat Bertelsmann vor nicht ganz 20 Jahren übernommen, jetzt will man das gesamte Material nach und nach katalogisieren, auf digitale Träger speichern sowie die Originale, wo notwendig, restaurieren."

Besprochen werden die Aufführung von Caccinis selten gegebener Oper "Euridice" bei den Innsbrucker Festwochen, die Ausstellung "Alles nur Theater" im Museum der Augsburger Puppenkiste und Bücher, darunter Kurt Flaschs Darlegung, warum er kein Christ ist (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 27.08.2013

Schön liest sich György Konráds Hommage auf seine Stadt Budapest. Seltsam unverbunden darin zwei Absätze, die dem Holocaust gelten: "Ende 1944 sah ich die Margarethenbrücke, wie sie sich bucklig aufbäumte, um schließlich mitten in die auf der Donau treibenden Eisschollen zu stürzen. Das erste Opfer des Krieges ist die Brücke. Vom Ufer aus konnte man Juden hineinschießen, die in die Stadt Verliebten, damit das Wasser die Leichname und das Spiegelbild der Mörder in unbekannte Fernen trug."

Felicitas von Lovenberg trifft in London Daniel Kehlmann, dessen am Freitag erscheinenden Roman "F" sie schon gelesen hat. Der Roman handelt von drei Brüdern, die im Finanzwesen und der Kunst als Hochstapler reüssieren. Lovenberg schildert ihn als "ein elegant und frappierend leichtfüßig geschriebenes Gedankenspiel über die Frage nach Schicksal und Bestimmung, Wahrheit und Lüge, Original und Fälschung".

Weitere Artikel: Christian Wildhagen wohnte dem Abschied Helmuth Rillings beim Stuttgarter Musikfest bei. Evgeny Morozov plädiert nach der Nachricht, dass die NSA sowieso alle Nutzerdaten hat, dafür, diese freizugeben und so eine Konkurrenz zu Google zu ermöglichen (das Original des Artikels in Slate steht online). Eine Seite zeigt Fotos aus Loriots Gästebuch - Loriot hatte die Angewohnheit, Gäste in seiner Wohnung vor einem eigens drapierten Hintergrund zu porträtieren.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass der Clinch zwischen dem designierten Chefredakteur des Spiegel, Wolfgang Büchner und seinen Ressortleitern nach einer gestrigen Sitzung keineswegs ausgestanden ist - die Ressortleiter wollen sich den Bild-Mann Nikolaus Blome partout nicht als Vizechef vor die Nase setzen lassen, Büchner insistiert. Empfohlen wird unter anderem ein Film von Lutz Hachmeister über die McCarthy-Ära heute Abend auf Arte.

Besprochen werden sehr alte Opern bei den Festwochen der Alten Musik in Innsbruck, die Ausstellung "Steinzeitkinder" im Neanderthal Museum in Mettmann und Bücher, darunter Peter Henischs Roman "Mortimer & Miss Molly" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).