Heute in den Feuilletons

Zerfallen lautlos

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2013. Die ganze Welt und neuerdings sogar die Welt interessieren sich für Angela Merkels Handy, nur die ARD nicht, hat Stefan Niggemeier herausgefunden. In Zeit online erklärt der Historiker Josef Foschepoth, warum es legal ist, die Kanzlerin abzuhören. In der FAZ erklärt Michael Naumann, warum Theodor Eschenburg als einer der wenigen SSler kein Nazi war, und wenn, dann höchstens im weiteren Sinne. Die Welt findet den Armutskult des neuen Papstes moralisch bedenklich. Die taz sucht mit Toni Negri und Byung-Chul Han nach einem Notausgang aus dem Kapitalismus.

Welt, 25.10.2013

Nachdem die Welt monatelang die Bespitzelung durch amerikanische und britische Geheimdienste heruntergespielt hat, gibt es jetzt eine gewisse Betretenheit in den Kommentaren. Dirk Banse und Florian Flade erklären dann allerdings, warum sich an der "Zusammenarbeit" von deutschen und amerikanischen Geheimdiensten nichts ändern wird: Das Vorhaben, einen deutschen Nachrichtendienst nach dem Vorbild der NSA zu schaffen, scheiterte in den 2000er Jahren am politischen Widerstand. Die Folge: "BND-Chef Gerhard Schindler sagte jüngst auf einer Nachrichtendienstkonferenz, dass sich der BND aufgrund seiner beschränkten Möglichkeiten in den vernachlässigten Regionen noch stärker auf die Analyse befreundeter Geheimdienste verlassen müsse... Ohne die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Geheimdiensten könne der BND seinen gesetzlichen Auftrag nicht einmal mehr ansatzweise erfüllen: 'Die anderen westlichen Dienste im Übrigen auch nicht.'"

Außerdem: Moralisch bedenklich findet Richard Herzinger den Armutskult des neuen Papstes: "Stets war der Kult der Armut eine Sache Wohlhabender, die in die Armen hineinprojizierte, sie seien die moralisch besseren Menschen. Er baut auf dem Irrglauben auf, den Armen sei geholfen, wenn auch Besitzende die Armut wählen. Wer wirklich zu ihr verdammt ist, dem bleibt dieser Kult fremd, der möchte so schnell wie möglich aus der Armut hinaus."

Im Feuilleton erzählen sich Welt-Redakteure, was Morrissey, der eine neue Platte herausgebracht hat (Besprechung), mit ihnen gemacht hat, als sie noch sehr jung waren. Barbara Möller mokiert sich über die Zahlen der ARD, die die Milliarden ihres Budgets auf die Pfennigbeträge der individuellen Zwangsgebühr herunterbricht (Tatort: 15 Cent im Jahr). Besprochen wird die große Géricault-Ausstellung in der Schirn.

Aus den Blogs, 25.10.2013

Gestern schon hat Stefan Niggemeier Interna aus der Programmplanung der ARD erfahren: "Das Erste sendet heute nach der 'Tagesschau' keinen 'Brennpunkt' zu den neuesten Wendungen in der NSA-Affäre - obwohl sich die Chefredakteure der ARD-Anstalten intern einstimmig dafür ausgesprochen haben. Der Programmdirektor des Ersten, Volker Herres, hat sein Veto eingelegt. Womöglich sorgt er sich um die Quoten der Show 'Die deutschen Meister' mit Kai Pflaume, die dort im Programm steht."

(via Carta) Frank Lübberding denkt in seinem Blog Wiesaussieht darüber nach, wer eigentlich für die Sicherheit von Merkels Handy zuständig ist. Dass die deutsche Bundeskanzlerin das Ziel geheimdienstlicher Überwachung ist, findet er allerdings legitim - der wahre Skandal besteht für ihn in der unterschiedslosen Überwachung aller Bürger.

Weitere Medien, 25.10.2013

Das Abhören deutscher Politiker durch amerikanische Geheimdienste verstößt nicht gegen deutsches Recht, erklärt der Historiker Josef Foschepoth, Autor des Buchs "Überwachtes Deutschland", im Interview mit Zeit online: "Der große Sündenfall geschah 1968. Damals hat die erste Große Koalition das Grundgesetz geändert und durch das G-10-Gesetz Eingriffe in das Post- und Fernmeldegeheimnis erlaubt. Grundlage dafür waren Forderungen der Alliierten, dass sich an ihrem Recht auf Überwachung nichts ändern dürfe. Verkauft hat man das damit, dass die Vorbehaltsrechte der Alliierten abgelöst würden und die Bundesrepublik souveräner würde. Die gleichen geheimdienstlichen Rechte der drei Westmächte waren aber längst im Zusatzvertrag zum Nato-Truppenstatut von 1959 dauerhaft gesichert. Die gelten bis heute. ... Was die Kanzlerin im Sommer gesagt hat, war ziemlich zynisch. Denn sie hat den Eindruck erweckt, als würden Deutsche in Deutschland durch hiesige Gesetze vor einer Überwachung geschützt. Dem ist nicht so."

Wenigstens ist Merkel nicht allein. Die NSA hört die Telefone von mindestens 35 Regierungschefs auf der Welt ab, berichtet der Guardian, der sich weiter durch die Snowden-Papiere gräbt: "The confidential memo reveals that the NSA encourages senior officials in its 'customer' departments, such the White House, State and the Pentagon, to share their 'Rolodexes' so the agency can add the phone numbers of leading foreign politicians to their surveillance systems. The document notes that one unnamed US official handed over 200 numbers, including those of the 35 world leaders, none of whom is named. These were immediately 'tasked' for monitoring by the NSA."

Sogar John Cusack, Maggie Gyllenhaal und Oliver Stone sind empört:



FR/Berliner, 25.10.2013

"Noch nie war es so einfach, einen bedeutenden Teil unserer Kultur in einigen Jahrzehnten radikal auszulöschen", warnt der Filmhistoriker Helmut Herbst vor dem Verlust eines erheblichen Teils des deutschen Filmerbes. Um den Verfall des Filmmaterials aufzuhalten, sind seines Erachtens bis zum Ende des Jahrzehnts Investitionen von einer halben Milliarde Euro erforderlich - bereitgestellt werden zur Zeit gerade einmal zwei Millionen pro Jahr. "Welches Entsetzen verursachte 2004 der Brand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, welch ein Aufschrei ging damals durch die Feuilletons! Dabei handelt es sich bei den 50 000 verbrannten Büchern - bis auf ganz wenige Exemplare - keinesfalls um Unikate... Die kostbaren analogen Original-Negative und -Unikate des Film-Erbes, von denen es keine verwertbaren Kopien gibt, zerfallen lautlos, ohne Aufsehen zu erregen, ohne ein neues Leben zu erhalten und unter behördlicher 'Aufsicht'."

Auf der Medienseite informiert Thomas Schmid über den Fall von Ali Anouzla, dem Chefredakteur der marokkanischen Internetzeitung Lakome, der Fehler von König Mohammed VI. enthüllte und nun im Gefängnis sitzt.

NZZ, 25.10.2013

Martin Meyer ist hingerissen von der ersten mobilen Konzerthalle der Welt, die der britisch-indische Künstler Anish Kapoor für Japan entworfen hat. "Kapoor ist ein Meister organischer Formen, ein Magier räumlicher Visionen, deren körperhafte Sinnlichkeit an archaische Gefühle rührt. Alles 'Technische' ist restfrei sublimiert."

Besprochen werden das neue Album "Reflektor" von Arcade Fire ("Das untrügliche Gespür für das Majestätische, Cineastische, Hymnische haben sich die Musiker von Arcade Fire bewahrt", freut sich Thoma Nagy), eine Ausstellung des belgischen Dichters, Zeichners und Malers Henri Michaux im Kunstmuseum Winterthur, eine Produktion des Théâtre du Soleil in Vincennes bei Paris auf Khmer, das Dubstep-Album "Low And Behold, High And Beyond" der neuseeländischen Band Sola Rosa, der neue "Tatort" von Dominik Graf und ein Konzert von Robin Ticciati in der Tonhalle Zürich.

TAZ, 25.10.2013

Tania Martini berichtet über eine Berliner Diskussionsveranstaltung mit dem italienischen Politikwissenschaftler Toni Negri und dem Philosophieprofessor Byung-Chul Han über die Grenzen des Kapitalismus und Auswege aus dem Neoliberalismus, in der wie so oft "die Philosophie im Übergang vom Wissen zur Meinung zum Elend geriet. Byung-Chul Han, seit seinen Thesensammlungen zur 'Müdigkeits-' bzw. 'Transparenzgesellschaft', in den Feuilletons sehr beliebt, gab eine Steilvorlage mit der Behauptung, der Kapitalismus habe bis zu unserem Daumen, der nur noch zum Liken tauge, unsere Körper so vereinnahmt, dass wir mit dem Ende des Körpers konfrontiert seien, was wiederum das Ende der Politik bedeute. 'Nur das Denken macht frei', verkündete er. Ob ihm die Spur zur idealistischen Philosophie, die er damit legte, so klar war, wusste man nicht so genau."

Weitere Artikel: Gabriele Hoffmann stellt eine Ausstellung der US-amerikanischen Konzeptkünstlerin Barbara Kruger im Kunsthaus Bregenz vor, in dessen Erdgeschoss außerdem die Arbeit "Die Sinthome-Partitur" der spanischen Künstlerin Dora Garcia zu sehen ist; dabei lesen wechselnde Akteure einen Text von Jacques Lacan, der sich mit "Finnegans Wake" von James Joyce auseinandersetzt. "Irre" findet Dirk Knipphals das Einlenken von Suhrkamp-Minderheitsanteilseigner Hans Barlach, der in der Welt verkündete, sich künftig "als Aktionär mit dem Suhrkamp Verlag arrangieren" zu wollen.

Auch die taz hat auf den vorderen Seiten einen Schwerpunkt zur Abhöraffäre. Alle Artikel finden Sie hier.

Besprochen werden das neue Album "An Object" des Experiment-Punk-Duos No Age aus Los Angeles (hier ihr Blog), das damit auch für zwei Konzerte nach Deutschland kommt, und das Album "Psychic" des Elektronikduos Darkside.

Und Tom.

Weitere Medien, 25.10.2013

Alaa Al-Aswani ("Der Jakubijan-Bau") ist auch in Deutschland ein weithin beliebter Autor. Neuerdings schreibt er eine monatliche Kolumne für die New York Times. Eric Trager liest für die New Republic einige fantasievolle Tweets auf Arabisch, in denen Al-Aswany die angebliche Verschwörung zwischen Israel und den Muslimbrüdern geißelt, zum Beispiel dies: "Zionist support for the Brotherhood prevents Hamas from attacking Israel."

FAZ, 25.10.2013

In der Debatte darüber, ob man den Theodor-Eschenburg-Preis wegen der Verstrickungen seines Namensträgers im "Dritten Reich" umbenennen sollte (mehr hier), stellt sich Ex-Kulturstaatsminister Michael Naumann an die Seite des 1999 gestorbenen Politologen: Für ihn war Eschenburg zur Nazi-Zeit zwar durchaus Opportunist mit SS-Mitgliedschaft, "doch ein überzeugter 'Nazi' im engeren Wortsinn war Eschenburg nicht; weder war er Mitglied der NSDAP, noch hat er an Morden und anderen Großverbrechen des Dritten Reichs teilgenommen." Lieber wirft Naumann den Kritikern zumindest implizit Scheinheiligkeit vor und rät ihnen, sich an die eigene Nase zu fassen.

Der IT-Fachmann Magnus Harlander ist, wie er im Gespräch mit Edo Reents bekräftigt, nicht im geringsten darüber überrascht, dass Angela Merkels Mobiltelefon abgehört wurde. Im vorderen Teil der Zeitung, wo drei Seiten der Abhöraffäre gewidmet sind, erfährt man, dass deutsche Politiker gern ihre Privathandys benutzen, obwohl sie wissen, dass diese nicht abhörsicher sind: Die vom BND als sicher eingestuften Handys sind ihnen zu langsam. Online informiert ein Artikel über die Angst deutscher Unternehmen vor Industriespionage. Und auf Seite 1 kommentiert Berthold Kohler: "Die Bundeskanzlerin und ihr Kabinett stehen sogar doppelt düpiert da: wie dumme Gutgläubige, die möglicherweise auch noch abgehört wurden, als sie einander versicherten, dass die Amerikaner das nie tun würden."

Weitere Artikel: Eric Pfeil freut sich bei Steve Gunns Kölner Konzert, dass dessen Erscheinungsbild nicht seinem blues-rockigen Namen entspricht. New York jagt Banksys Streetart, berichtet Jordan Mejias. Jürgen Dollase ist begeistert von den kulinarischen Genüssen, die sich bei René Redzepi in Kopenhagen bieten.

Besprochen werden die große Dürer-Schau im Frankfurter Städel, neue Musikveröffentlichungen, darunter ausführlicher das neue Album von Pearl Jam, und Bücher, darunter Clemens Meyers illustrierte Geschichte "Rückkehr in die Nacht" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 25.10.2013

Alexander Menden und Laura Weissmüller bringen verstreute Notizen vom Londoner Ideenfestival in der Serpentine Gallery, wo die Kuratoren Hans-Ulrich Obrist und Simon Castets die "Generation 89plus" ausgerufen haben. In der Kasseler Ausstellung "Speculations on Anonymous Materials" überprüft Catrin Lorch die Kunst der "Generation 89plus" unterdessen auf Gemeinsamkeiten und hält als Ergebnis fest, dass deren Protagonisten "keinen Stil prägen und auch keine Haltung, die sich in einem Manifest formulieren will. ... 89plus ist, dass man mit anderen zusammen arbeitet, sich aber keinem gemeinsamen Diktat unterwirft..."

Weiteres: Henning Klüver berichtet von einer italienisch-deutschen Tagung in Rom über die antisemitischen Eskalationen in Italien nach Hitlers Einmarsch. Samuel L. Jackson dreht in München bei der Bavaria, meldet David Steinitz. Gottfried Knapp schreibt zum Tod des Künstlers Anthony Caro.

Auf den vorderen Seiten, wo sich mehrere Artikel mit der Abhöraffäre beschäftigen, erfahren wir, dass es vermutlich die amerikanische Botschaft in Berlin war, die Merkels Handy abgehört hat.

Besprochen werden Herbert Fritschs Inszenierung von Dürrenmatts "Die Physiker" am Schauspielhaus Zürich ("Bohei statt Botschaft", jubelt Peter Laudenbach), die Ausstellung "Decolonize München" im Stadtmuseum München, eine Aufführung von Francis Poulencs "Dialogues des Carmélites" im Opernhaus Lyon und Bücher, darunter Evgeny Morozovs neueste Netzkritik (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).