Heute in den Feuilletons

Befugnis-Hopping

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.11.2013. Datenschützer Peter Schaar prangert in einem Bericht an die Bundesregierung die Rechtsbeugung durch die Geheimdienste an. In der NZZ fordern zwei Medienwissenschaftler eine medienübergreifende Bezahlschranke im Netz. Die taz feiert die ersten Inszenierungen der Ära Shermin Langhoff am Gorki-Theater. Guernica feiert die Gebrüder Gao. In der FAZ erschallt nun erwartungsgemäß ein Roland Reußscher Bocksgesang zu Google Books.

Zeit, 19.11.2013

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz Peter Schaar hat in einem Bericht an den Bundestag scharf deutsche und ausländische Geheimdienste kritisiert, die deutsches Recht beugen, berichtet Patrick Beuth auf Zeit online. "Eines der größten Probleme sei das 'Befugnis-Hopping'. So nennt Schaar die Datentauschpraxis zwischen NSA, GCHQ und deutschen Geheimdiensten. Amerikaner und Briten könnten den Telefon- und Internetverkehr der Deutschen an Servern und Leitungen in den USA und Großbritannien überwachen, oder diese Daten gleich illegal in Deutschland abzapfen und anschließend an deutsche Dienste weiterreichen, schreibt Schaar. Die kämen so an Daten, die sie selbst gar nicht hätten erheben dürfen. 'Damit können nationale (verfassungs-)rechtliche Beschränkungen … unterlaufen bzw. umgangen werden.'"

Außerdem hat Beuth das überarbeitete Papier zur Netzpolitik der großen Koalition durchgeblättert: Es ist noch einmal entschärft worden, "oft zulasten der Bürger".

NZZ, 19.11.2013

Auf der Medienseite vergleichen die beiden Medienwissenschaftler Meera Selva und Stephan Russ-Mohl unterschiedliche Bezahlsysteme im Onlinejournalismus. Für kleinere Länder halten sie Zusammenschlüsse zu einer gemeinsamen Paywall für sinnvoll, wie sie das Unternehmen Piano bereits in Osteuropa betreibt. "In Slowenien betreut das Unternehmen 14 Websites - zu den Anbietern zählen fünf national verbreitete Zeitungen. In Polen ist Piano seit dem Sommer 2012 präsent, wo es hinter seiner Paywall 44 Websites von sieben Verlagen anbietet, darunter die Gazeta Wyborza und die polnische Version des Forbes Magazine. Piano kassiert für seinen Service in Polen 30 Prozent der Erlöse. In Ländern wie der Schweiz und Deutschland würden solche Modelle wohl am geltenden Kartellrecht scheitern. Dieses wäre aber ohnehin dringend revisionsbedürftig, weil es die fortschreitende Medienkonzentration kaum zu bremsen vermochte, aber oftmals sinnvolle Kooperationen und Vernetzungen verhindert, welche die Medienvielfalt stärken könnten."

Weiteres: Der Schriftsteller Navid Kermani gibt zu, dass er lediglich zwei Flugstunden von Köln entfernt nur Bahnhof versteht. Dirk Pilz ist nur mäßig begeistert von der Spielzeiteröffnung am Berliner Maxim-Gorki-Theater unter den neuen Intendanten Shermin Langhoff und Jens Hillje: "Nach Erpulats verkrampfter, polternder 'Kirschgarten'-Inszenierung muss man befürchten, die größte Gefahr für das Gorki sei die Selbst-Reduzierung auf das 'Anderssein'."

Besprochen werden eine Neuinszenierung von Mozarts "Idomeneo" unter Regie von Damiano Michielett im Theater an der Wien, Konzerte beim Lucerne Festival und Bücher, darunter John M. Coetzees Roman "Die Kindheit Jesu" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 19.11.2013

"Was für ein Können!", freute sich Esther Slevogt immer wieder während des Theatermarathons, mit dem Shermin Langhoff ihre Intendanz am Maxim Gorki Theater gestartet hat. Mit seinem "Kischgarten" deklinierte Nurkan Erpulat das Thema Heimat und Identität durch, wobei Tschechows Stück nur eine von vielen Folien war: "Auch die Geschichten ganz anderer Figuren sind eingeflochten. Die der hinreißenden Travestiekünstlerin Fatma Souad zum Beispiel. Oder die Biografie Çetin Ipekkayas, der als politischer Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland kam. Zusammengeführt werden reale und Tschechows Theatergeschichten in der Figur Lopachins, des einstigen Leibeigenen, der nun zum neuen Gutsherren wird. Taner Sahintürk legt in den ungelenken Charme , der er dieser Figur verleiht, einmal auch die ganze Verbitterung der türkischen 'Gastarbeiter' und ihrer Nachkommen über die Missachtung, die ihnen hier zuteil geworden ist."

Weiteres: Der Verleger Jörg Sundermeyer schreibt einen schönen Nachruf auf Doris Lessing, die sich die Befreiung der Frau nicht ohne die Befreiung des Mannes vorstellen konnte. Ingo Arend stellt den Münchner Kunstfund in den Zusammenhang eines "massenhaft entfesselten Kunsthasses". Julia Grosse bemerkt, dass die Dualität der achtziger Jahre einer allgemeinen Unentschiedenheit gewichen ist. Katja Musafiri bangt um den Erhalt des Leipziger Technoclubs Distillery. Catarina von Wedemeyer liest neue Ausgaben von Schreibheft und Akzente.

Und Tom.

Welt, 19.11.2013

Bei der ARD gibt's Ärger, berichtet Ekkehard Kern: 75 WDR-Redakteure haben in einem Brief an Intendant Tom Buhrow gegen die Berufung von Valerie Weber, "eine Dame aus dem Privatfunk", als neue Leiterin des Hörfunks protestiert. Daniel Kothenschulte nähert sich Cornelius Gurlitt über Böll und Kafka. Werner Bloch beschreibt den miserablen Zustand der Unesco, seit die USA ihre Zahlungen eingestellt haben.

Besprochen werden die Art-Spiegelman-Retrospektive im Jewish Museum of New York und drei Russenstücke am Berliner Gorki Theater, mit denen Shermin Langhoff ihre Intendanz eröffnet.

Weitere Medien, 19.11.2013

(via BoingBoing) Angeblich unterstützt die Regierung Obama eine Reform des völlig veralteten Copyrights. Insgeheim jedoch versucht sie, das Copyright in internationalen Verhandlungen auszudehnen, berichtet Derek Khanna bei Slate: "The worst part: While the White House was publicly proclaiming its support of cellphone unlocking, it was secretly negotiating a treaty that would ban it. Cellphone unlocking is the ability to take a phone and alter its settings so that it can be used on other carriers. Essentially this technology allows a consumer to bring her phone from one carrier to another when her contract expires (if technologies are compatible). ... It would ban numerous other technologies that have beneficial uses. In particular, the legislation would ensure that jailbreaking - which is installing a different operating system on your phone, tablet, or e-reader - is illegal."

Bei Guernica stellt Samuel Jablon - kurz im Text, aber mit vielen Bildern - die Kunst der Gao-Brüder Gao Qiang und Gao Zhen vor. "The Gao Brothers' work ranges from the political and satirical to questions of material and spiritual spaces, and takes a humanitarian stance that questions the role government and the individual play within contemporary Chinese society. They are not afraid to create controversial and contextually loaded works, such as 'Arresting Prostitute.'" (Bild: Miss Mao No. 2)
Stichwörter: Copyright, Guernica, Mao Tse-Tung

Aus den Blogs, 19.11.2013

Schon am Freitag erschien Matthias Spielkamps irights.info-Kommentar zur Entscheidung des US-Bundesrichters Denny Chin, der das Durchsuchen von Büchern durch Google Books als fair use einschätzt. Damit hat er entschieden, was Autoren- und Verlegerverbände immer gefürchtet hatten. "Dass das, was Börsenverein, Kuturrat, VG Wort und andere für illegitim halten und wahrheitswidrig als illegal dargestellt haben, tatsächlich rechtens sein könnte, hat sich nun erwiesen." Aber auch Google kommt bei Spielkamp nicht gut weg: "Die Buchsuche wird dazu führen, dass Google noch einmal mehr über unsere intimsten Interessen erfährt, und damit auch NSA, GCHQ, BND und viele mehr." Zu dem Artikel hat sich in den Kommentaren eine interessante Diskussion entwickelt.

Etwas distanzlos macht sich Martin Weigert in Netzwertig den feuchten Traum aller Überwachungsstaaten - die Abschaffung des Bargelds - zu eigen: "Im Jahr 2013 lösen Hochleistungsrechner kryptische Aufgaben, um virtuelles Geld zu erstellen. Menschen komprimieren einen Stapel an Kreditkarten in ein kleines kartenähnliches Gadget, wie bei Coin. Oder sie schicken Geld per E-Mail mittels Square Cash. Hohe Transaktionsgebühren bei internationalen Geldtransfers verschwinden dank Peer-to-Peer-Überweisungen von Transferwise. Startups wie der US-Dienst Simple oder der deutsche Anbieter Avuba schreiben sich auf die Fahnen, Banking im Onlinezeitalter neu zu definieren."

FAZ, 19.11.2013

Ein paar Tage hat man auf Roland Reuß' Bocksgesang zu Google Books warten müssen - nun ertönt er erwartungsgemäß: "Kann dieser Wahnsinn, den zu befördern sich viele immer noch durch ihre tägliche Suchpraxis nicht zu schade sind, nicht gestoppt werden, dann bricht nach der Ära des zielgerichtet-blinden, alles einverleibenden Sammelns endgültig das Zeitalter der globalen Lenkung des Intellekts an, die Hochzeit von algorithmischer und kommerzieller Diktatur in der Abrichtung der Köpfe."

Weiter Artikel: Eleonore Büning mokiert sich über den Münchner Opernchef Klaus Bachler, der bei einer Jubiläumsfeier anzügliche Rezitative programmierte. China-Korrespondent Mark Siemons fürchtet nach dem "Dritten Plenum" von 2013 "eine neuerliche Zentralisierung der Macht und den wissenschaftlich verbrämten Ansatz einer umfassenden Strategiebildung von oben", und "die Gesellschaft kommt in diesem Papier nur als Marktteilnehmer vor". Thomas Thiel verfolgte eine Münchner Tagung zu den Folgen des Ersten Weltkriegs. Andreas Kilb besucht das Filmfestival von Rom und stellt nach einigen Jahren fest, dass es nicht zur Konkurrenz für Venedig wurde. Jeffrey F. Hamburger, Kunsthistoriker aus Harvard, bedauert den Diebstahl des Borghorster Stiftskreuzes, "eines der wichtigsten Artefakte der ottonischen Zeit" und appelliert an die Behörden, alles zu tun um es zurückzubekommen.

Auf der Medienseite berichtet Mark Siemons über chinesische Schikanen gegenüber westlichen Reportern, die schon zu Selbstzensur bei um ihre Akkreditierung bangenden Medien führen - als Antwort verlangt Siemons, bei den wirtschaftlichen Interessen Chinas anzusetzen. Als Zäsur betrachtet Stefan Schulz die jetzt verkündete Bereitschaft Googles, seine Suchergebnisse in Zusammenarbeit mit der britischen Regierung zu zensieren, um Kinderpornografie und womöglich Pornografie im Netz überhaupt zu unterbinden (die von Ursula von der Leyen einst geplanten und unter dem Stichwort "Zensursula" bekämpften Maßnahmen waren da nur ein "geringfügiger Eingriff", meint Schulz).

Besprochen werden eine Dramatisierung von Marie N' Diayes Roman "Drei starke Frauen" am Hamburger Schauspielhaus (die erste Inszenierung unter Intendantin Karin Beier), Verdis "Falstaff" an der Deutschen Oper Berlin, ein Thomas-Bernhard-Spektakel in der Regie Oliver Reeses im Frankfurter Schauspiel, die Ausstellung "Kindheit - Eine Erfindung des 19. Jahrhunderts" im Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts in Baden-Baden, eine CD der Kings of Leon und Bücher, darunter eine Kulturgeschichte des Krieges von Bernd Hüppauf (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 19.11.2013

Catrin Lorch ärgert sich darüber, dass Cornelius Gurlitt im Spiegel-Interview die Mythen der Kunsthändler aufwärmt: "Es klingt bizarr, wenn Cornelius Gurlitt bedauert, dass er sein Erbe nicht habe schützen können, so wie der Vater, der es gegen das Feuer der Nazis, Bomben, Russen, Amerikaner verteidigt habe. ... Das ist zum einen der Mythos, man habe sich die Werke als Retter mit Schaufel und dem Handkarren und einer Spur Pfiffigkeit rechtmäßig angeeignet - schließlich wären sie sonst verloren gewesen. ... Die öffentliche Meinung der Nachkriegszeit bestärkte die Klitterungen. Denn nun waren die verfemten Bilder zu begehrten Trophäen geworden."

Außerdem: Laura Weissmüller empfiehlt Highlights des Münchner Festival of Independents, das Formen der Urbanität nachforscht. Ira Mazzoni meldet, dass nach dem Schwabinger Kunstfund nun das niederländische Königshaus seine Kunstsammlungen auf Raubkunst durchsuchen lassen will. Christopher Schmidt resümiert das Münchner Literaturfestival, dessen hochkulturelle Spitzen er zu schätzen wusste. Wolfgang Schreiber hörte unterdessen beim Münchner Musikfestival Musica Viva "extravagant-sperriges", das auf ein "verstörtes Publikum" traf.

Besprochen werden Joseph Gordon-Levitts Kinokomödie "Don Jon" über einen pornosüchtigen Yuppie und Bücher, darunter Norman Davies' Studie "Verschwundene Reiche" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).