Heute in den Feuilletons

Mit offensiver Offenheit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2014. Mit Übertreibung ist der Dekadenz der Banker und Broker nicht beizukommen, stellt die taz zu Martin Scorseses Film "The Wolf on Wall Street" fest. Die Welt erinnert an eine Zeit, als die Öffentlich-Rechtlichen ihr Publikum noch überforderten. Die NZZ plädiert dafür, die Werke türkischstämmiger Künstler in Deutschland nicht länger bloß als Zeugnisse von Migration und Hybridität zu begreifen. Die SZ würdigt die Verdienste des chinesischen Kurznachrichtendienstes Weibo. Und die FAZ verneigt sich vor Arno Schmidt.

TAZ, 11.01.2014

Bert Rebhandl bespricht Martin Scorseses neuen Film "The Wolf of Wall Street", dessen kontroverse Strategie der Übertreibung in der Darstellung des Börsenbetrügers Jordan Belfort ihn im Zwiespalt zurücklässt: "Von der Geschichte des Jordan Belfort bleibt (...) nicht viel mehr als die Erkenntnis, dass dem gegenwärtigen System durch Übertreibung nicht beizukommen ist. Dass das alles im Detail und auch im großen Bogen ein irrer Trip gewesen sein muss, streckt Scorsese auf drei Stunden, in deren Verlauf sich schließlich die Höhepunkte zu wiederholen beginnen. Der Film gerät unter denselben Druck, den er für seine Protagonisten nachvollziehbar machen will. "

Außerdem: Waltraud Schwab schlägt ein Zertifikat für Prostituierte vor, in der Hoffnung, dass es diesen mehr Anerkennung und dem angebotenen Service eine höhere Qualität bringen würde. Oliver Hollenstein porträtiert den Soziologen und Entschleunigungsbefürworter Hartmut Rosa, dessen Arbeit ihn alles andere als zu Ruhe kommen lässt. Madeleine Bernstorff empfiehlt eine Berliner Werkschau mit den Filmen von Zelimir Zilnik. Robert Matthies stellt das Programm des Hamburger Klangfestivals Klub Katarakt vor. Svenja Bednarczyk hat beim Hamburger Chaos-Computer-Kongress notiert, wie man sicherer surft. Julian Weber schreibt den Nachruf auf den Schriftsteller Amiri Baraka.

Ansonsten viele Interviews: Hilde Schramm und Sharon Adler stellen im Gespräch mit Brigitte Werneburg ihre Stiftung Zurückgeben vor, die zur freiwilligen Rückgabe von Beutekunst anregen und jüdische Frauen in Kunst und Wissenschaft fördern will. Felix Lee unterhält sich mit dem seit 40 Jahren in China lebenden Filmemacher Uwe Kräuter über die jüngere Geschichte seiner Wahlheimat. Anne Haemig hat die Zwölftonmusik-Komponistin Ursula Mamlok besucht.

Besprochen werden Marco Wilms' Dokumentarfilm "Art War" über Kairoer Street-Artists, eine Aufführung der Oper "Schwindel. Über das Verlieren" in Berlin, eine Puppentheater-Adaption des Science-Fiction-Films "Terminator 2" in Hannover, eine "Otello"-Aufführung in Bremerhaven und Bücher, darunter eine Auswahl aus Arno Schmidts Briefen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 11.01.2014

Es ist an der Zeit, die Werke von in Deutschland lebenden Künstlern türkischer Herkunft nicht länger bloß als "Zeugnisse von Migration oder kultureller Hybridisierung" zu sehen, plädiert Ursula Seibold-Bultmann in Literatur und Kunst: "Wenn etwa [Sakir] Gökçebag einem alten, unheimlich deutsch anmutenden Küchenstuhl einen Schatten anhängt, den er aus einem Orientteppich ausgeschnitten hat (2012), spielt der Verweis auf kulturelle Unterschiede offenkundig eine Rolle. Bisse sich aber ein Interpret dieser heiter-surrealen Installation am Thema Orient contra Okzident fest, so wäre das zu wenig. Im Umzeichnen von Schatten sahen nämlich der römische Autor Plinius d. Ä., aber auch Leonardo da Vinci den Ursprung der bildenden Kunst. Wer das weiß, dem sagt Gökçebags Stuhl, der ausgerechnet dank der Farbe, Ornamentik und Textur seines Schattens ästhetisches Leben gewinnt, etwas über das Wesen der Kunst und der Vorstellungskraft an sich - und nicht nur über Hybridität oder Migration."

Weiteres: Im 19. Jahrhundert rückte das Mitleid ins Zentrum des moralischen Empfindens, referiert der Historiker Ulrich Raulff in einem Essay über die drei emblematischen Figuren des Mitleids: den verwundeten Soldaten, das arbeitende Kind und das gequälte Tier. Urs Hafner beschreibt die Vorstellungen, die sich die Menschheit seit der Antike vom Elefanten gemacht hat.

Im Feuilleton informiert Andrea Köhler über die Debatte, ob Martin Scorsese in seinem jüngsten Film "The Wolf on Wall Street" die Geldgier und Korruption der Banker und Broker verdammt oder glorifiziert. Barbara Villiger Heilig stellt die schweizerisch-deutsche Performance-Gruppe Schauplatz International vor, deren szenischer Essay "Idealisten" derzeit im Berliner HaU zu sehen ist. Ulrich M. Schmid denkt über die politische Gesinnung Michail Chodorkowskis nach, die jener von Putin offenbar näher steht, als man meinen möchte.

Besprochen werden die fünf "Fantômas"-Filme von Louis Feuillade, die anlässlich ihres hundersten Jubiläums an diesem Wochenende bei Arte zu sehen sind (und laut Claudia Schwartz "einen faszinierenden Einblick in die frühen Überlegungen des Filmemachens" gewähren), die (wie Gabriele Hoffmann findet: "kluge und anspruchsvolle") Ausstellung "Zeichen. Sprache. Bilder. Schrift in der Kunst seit 1960" in der Städtischen Galerie Karlsruhe (hier: "Poem Print" von Ferdinand Kriwet, 1968) sowie Bücher, darunter "Rom, Träume" von Maike Albath (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Welt, 11.01.2014

Hanns-Georg Rodek kann kaum glauben, dass sich die Brecht-Erben nach vierzig Jahren doch noch bequemt haben, Volker Schlöndorffs "Baal"-Verfilmung von 1970 mit R.W. Fassbinder freizugeben. Die empfindliche Helene Weigel hatte den Film mit einem Bann belegt, jetzt darf der Film auf DVD raus: "Der Film wurde in der ARD zur Hauptsendezeit ausgestrahlt - heutzutage würde allein der Gedanke daran bei der ARD zu sofortiger Kündigung führen - und löste einen Sturm der Entrüstung aus. Diesen Fassbinder müsse man 'hängen', 'erschlagen' oder 'in siedendes Öl werfen'; die Beschwerdeführer hatten nicht bemerkt, dass es sich um ein Theaterstück handelte, keine Sozialreportage. Die Kritik hatte Schlöndorffs Intention besser begriffen, Baal als Wunschbild und Projektion der Unbekümmertheit, eine Villon- und Rimbaud-Figur. 'Brecht ist einer, der Soul hat', sinnierte Schlöndorff damals, 'Soul in einer Gesellschaft, die keinen hat. Baal ist das, was ein Schwarzer in den Staaten ist. So wie Baal ist und lebt, so müsste man eigentlich leben und sich benehmen können. Aber das ist in der Gesellschaft, in der wir leben, nicht möglich.' Die Weigel hatte das durchaus begriffen."

Weiteres: Tilman Krause vergnügt sich prächtig beim Essen mit Marcus Urban, der seit zehn Jahren als Diversity-Coach für schwule Sportler arbeitet. Inga Pylypchuk berichtet von den Expansionsplänen des New Yorker Moma, denen sogar das Nachbargebäude weichen muss.

SZ, 11.01.2014

In der Reihe über Kultur in China wendet sich Kai Strittmatter dem Thema Internet zu. Insbesondere den Start des chinesischen Twitter-Pendants Weibo 2009 hebt er dabei als eine Zäsur der chinesischen Geschichte hervor: "Gut möglich, dass die letzten vier Jahre Chinas Gesellschaft in Erinnerung bleiben werden als jene Jahre, da sie sich erstmals als eine solche empfand. Mit Bürgern, die voneinander erfuhren, erstmals. Die miteinander in Kontakt traten, erstmals. Die sich öffentlich austauschten über die Dinge, die ihr Leben bestimmten, erstmals. ... Weibo ist in diesen vier Jahren für dieses Land, in dem die traditionellen Medien bis heute fest im Griff der Partei sind, viel wichtiger geworden als es Twitter für jedes andere Land jemals wird sein können."

Gustav Seibt erinnert in einem historischen Rückblick auf die Geschichte der Schwulendiskriminierung im 20. Jahrhundert, dass es noch nicht lange her ist, dass Homosexuelle "nur mit offensiver Offenheit" auf die ihnen auferlegten Zumutungen reagieren konnten: "Ja, die Liebe der Einzelnen ist privat, aber wenn über die verschiedenen Möglichkeiten der Liebe geschwiegen werden muss, dann leidet die Gesellschaft insgesamt. Darum ist der Schritt von Thomas Hitzlsperger immer noch so wichtig, denn historisch gesehen wäre er noch vor einer halben Minute unvorstellbar gewesen."

Außerdem: Catrin Lorch staunt darüber, wie wenig man sich in der Nachkriegszeit für die Akteure des systematischen Kunstraubs in der Nazizeit interessierte - zumal Hannelore Holtz (heute Krollpfeiffer) bereits 1947 in ihrer Reportage "Wir lebten in Berlin" detailliert darüber schrieb. Frankreich achtet auf eine rentable Kulturförderung, berichtet Joseph Hanimann. Immer mehr Musikerinnen schlagen via Youtube auch unabhängig von großen Plattenfirmen große Karrieren ein, beobachtet Annett Scheffel.

Besprochen werden Oliver Hirschbiegels Film "Diana" und Haruki Murakamis neuer Roman "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende ärgert sich Evelyn Roll über die angebliche Arroganz von sich gesund ernährenden Leuten. Peter Münch stürzt sich ins Partyleben von Tel Aviv. Christina Berndt denkt nach Angela Merkels Skiunfall über die Intaktheit des Politikerkörpers nach. Außerdem dokumentiert die SZ die Aussagen einiger Iraker, die Großbritannien wegen Folter angezeigt haben.

FAZ, 11.01.2014

Anlässlich des bevorstehenden 100. Geburtstags von Arno Schmidt widmet Dietmar Dath dem Autor eine emphatische Würdigung und mokiert sich über den Widerstand, der Schmidts erratischem Werk noch immer entgegenschlägt: "In Italien wäre Schmidt mit seinem nach 1945 ästhetisch eigentlich höchst zeitgemäßen Ansatz ein realistischer Komiker des Phantastischen geworden wie Italo Calvino, in Frankreich hätte sein Zusammenziehen von Kalkül, Jux und schmerzhafter Zeitgeschichte erreichen können, was der große Georges Perec erreichte, und in Nordamerika - nun ja: Ist eigentlich bekannt, dass Schmidt der größte je vorhandene deutschsprachige Science-Fiction-Autor war, ein Weltenerbauer vom Format Robert A. Heinleins, ein Weltenbezweifler vom Format Philip K. Dicks, ein Weltenveralberer vom Format Kurt Vonneguts - und ein besserer Stilist als alle drei zusammen?"

Weiteres: "Ich finde es lästig, all das erst filmen zu müssen, was ich auf dem Papier und in meinem Kopf längst akribisch geplant habe", klagt Martin Scorsese, dessen neuer Film "The Wolf on Wall Street" kommende Woche anläuft, Marco Schmidt im Interview sein Leid: "Sie ahnen ja gar nicht, was dabei alles schiefgehen kann!" Regina Mönch schildert die Hintergründe des Schlichtungsverfahrens um den Welfenschatz. "Auf unschöne Weise fällt der Vorhang über eine widerliche Aufführung", bemerkt Jürg Altwegg zum Auftrittsverbot des französischen Komikers Dieudonné. Jonathan Fischer schreibt zum Tod des amerikanischen Autors und Aktivisten Amiri Baraka. Der streitbare russische Missionar und Theologieprofessor Andrej Kurajew kritisiert den Zustand der russisch-orthodoxen Kirche und lädt den Limburger Ex-Bischof Franz Peter Tebartz-van Elst zur Konversion ein, meldet Kerstin Holm: "In Moskau würde man seine Neigungen besser verstehen."

Besprochen werden die Ausstellung "Frankfurt am Main im Luftkrieg" im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt und Bücher, darunter die investigative Studie "Geheimer Krieg" von Christian Fuchs und John Goetz sowie "Aus dem Berliner Journal" von Max Frisch (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Bilder und Zeiten bringt eine Übersicht über die wichtgsten Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg. Und in der Frankfurter Anthologie deutet Marcel Reich-Ranicki das Gedicht "Under der linden" von Walther von der Vogelweide:

"Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
..."