Heute in den Feuilletons

Jeder Passant ein Mörder

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2014. Das TLS erzählt, wie französische und tschechische Surrealisten 1935 über Kunst und Revolution diskutierten. Die NZZ bewundert die Blumensamen-Designs von Paul Smith. Ein Untersuchungsausschuss der EU erklärt die Massenüberwachung durch NSA und GCHQ für illegal, berichtet der Guardian. Die Welt bewundert Martha Argerich beim Nägel lackieren. Als E-Book ist "Mein Kampf" ein Besteller, meldet Gawker. Die SZ schleicht mit dem legendären Superverbrecher Fantomas durch Paris.

Weitere Medien, 10.01.2014

(via 3quarks daily) Im Times Literary Supplement stellt Marci Shore zwei Bücher über den Surrealimus in Prag vor. 1935 reisten André Breton und Paul Éluard nach Prag, um mit Vítěslav Nezval und Karel Teige darüber zu diskutieren, ob der Surrealismus mit dem Kommunismus vereinbar sei: "In seiner Prager Vorlesung 'Die politische Position heutiger Kunst' rang Breton mit den scheinbar unvereinbaren Geboten von künstlerischer Freiheit und politischem Engagement. 'Entweder, [die Künstler] müssen darauf verzichten, die Welt auf eine Weise zu interpretieren und wiederzugeben, deren Geheimnis sie in sich und nur in sich finden - und damit ihr eigenes Bestehen aufs Spiel setzen -', sagte Breton seinem tschechischen Publikum, 'oder sie müssen darauf verzichten, am praktischen Handlungsplan der Weltveränderung mitzuwirken.' Die unmögliche 'Entscheidung zwischen diesen beiden Verzichten' verfolgte die französischen und tschechischen Surrealisten noch lange."

NZZ, 10.01.2014

Als "classic with a twist" beschreibt der britische Modeschöpfer Paul Smith seinen Stil. Ziemlich zutreffend, findet Marion Löhndorf angesichts der Ausstellung, die das Londoner Design Museum Smith zurzeit widmet: "Sein Design besteht eher aus dem erfinderischen Zusammensetzen von visuellen Fundstücken als im Entwerfen wegweisend neuer Schnitte und Stile. Smith nimmt Bestandteile der hohen Kunst der Maßschneiderei und kombiniert sie mit etwas Scherzhaftem: zum Beispiel mit floralen Drucken, die auf Fotos zurückgehen, die auf Blumensamen-Tütchen zu sehen sind."

Weiteres: Aldo Keel schildert den Fall des Schweizers Louis Nebel, den der Journalist Poul Høi als Mörder des dänischen Nationalhelden und Widerständlers Kaj Munk ausgemacht hat. Hoo Nam Seelmann erzählt, wie die Kinderliteratur in Korea erst im 20. Jahrhundert als eigenständiges Genre entdeckt wurde. Bjørn Schaeffner wirft einen Blick aufs Programm des 5. Norient-Musikfilmfestivals in Bern.

Besprochen werden eine Ausstellung über Kaisers Augustus in Rom (bei der Eva Clausen die unvorteilhaften Facetten des "janusköpfigen Landesvaters" vermisst) und Bücher, darunter die Streitschrift "Das Geschäft mit der Musik" von Bertold Seliger (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Guardian, 10.01.2014

Die EU wird langsam etwas konkreter was die Ablehnung der Massenüberwachung durch amerikanische und britische Geheimdienste angeht, meldet der Guardian: "Mass surveillance programmes used by the US and Britain to spy on people in Europe have been condemned in the 'strongest possible terms' by the first parliamentary inquiry into the disclosures, which has demanded an end to the vast, systematic and indiscriminate collection of personal data by intelligence agencies. The inquiry by the European parliament's civil liberties committee says the activities of America's National Security Agency (NSA) and its British counterpart, GCHQ, appear to be illegal and that their operations have 'profoundly shaken' the trust between countries that considered themselves allies. The 51-page draft report, obtained by the Guardian, was discussed by the committee on Thursday."

Welt, 10.01.2014

Ohne die Ernsthaftigkeit ihres Künstlertums je in Frage zu stellen, liefert der jetzt auf DVD vorliegende Dokumentarfilm "Bloody Daughter" über Martha Argerich doch "eines der verrücktesten Porträts der Musikfilmgeschichte", unter anderem, weil er viel Heimvideomaterial verarbeitet, meint Manuel Brug: "Man sieht, wie ihr Manager die Konzertgarderobe aufbügelt, wie sich Freunde und Schüler in ihrem lässigen, manchmal auch lästigen Brüsseler Künstlerhaushalt breitmachen, wie sich die versammelten Frauen beim Provence-Urlaub Gedanken über Fußnagellackierung machen."

Hauptsache, man hört auch Musik! Hier spielen Argerich, Abbado und die Berliner Philharmoniker Ravels Klavierkonzert in G-Dur. Der zweite Satz (ab Minute 08:10) gehört zum schönsten, was musikalisch möglich ist:



Weitere Artikel: Tilman Krause erzählt eine kleine Kulturgeschichte des Coming Out. Lucas Wiegelmann sucht nach homophoben Anwandlungen in Medien (und wird ausgerechnet in der taz fündig). Elmar Krekeler liest für seine Krimi-Kolumne Jan Costin Wagners "Tage des letzten Schnees".

Auf der Forumsseite warnen Maxeiner & Miersch - eine Seltenheit in der staatsgläubigen Welt! - vor dem Überwachungsstaat, der nun auch noch das Bargeld abschaffen will.

Aus den Blogs, 10.01.2014

E-Books haben den großen Vorteil, dass man sie kaufen kann, ohne einem neugierigen Verkäufer gegenüberzustehen. Das führte im letzten Jahr dazu, dass "erotische" Romane wie "50 Shades of Grey" zum Bestseller wurden und "kontroverse" Bücher wie - "Mein Kampf", meldet Gawker. "Versions of Hitler's prison screed also currently sit in third and fourth place on iTunes' Politics and Current Events bestseller list. Of course, it's not clear if the book's popularity is because of a resurgence of academic curiosity or something more sinister."
Stichwörter: Ebooks, Gawker, Mein Kampf, Itunes

TAZ, 10.01.2014

Andreas Hartmann hat mit Befürwortern und Gegnern von Streaming-Diensten wie Spotify gesprochen, der inwischen den Zugriff auf 20 Millionen Songs ermöglicht. Die Gegner fragen sich vor allem, wie Musiker vom kostenlosen Hören ihrer Musik sollen leben können. Dazu meint etwa Maurice Summen, Betreiber eines kleinen Berliner Plattenlabels: "Das stimmt alles, was Musiker wie Thom Yorke vorrechnen bezüglich Spotify. Aber ich habe doch früher als Indiemusiker auch nichts verdient. Schon zu CD-Zeiten konnten die wenigsten rein von ihrer Musik leben. Wann war das Musikgeschäft jemals gerecht? Noch nie."

Am Tag eins nach dem Coming Out von Thomas Hitzelsperger scheint die von ihm intendierte Debatte ins Laufen zu kommen. Neben Kurzkommentaren erklärt Volker Beck von den Grünen im Gespräch, Homosexualität sei kein Glaubensbekenntnis. Johannes Kopp nimmt die Reaktionen des DFB und die "Angst vor dem Fan" unter die Lupe. Und Enrico Ippolito kann auf Lob von Heterosexuellen verzichten.

Auf der Medienseite berichtet Rieke Havertz über eine verordnete Rettungsmaßnahme des San Francisco Chronicle: Bei der Traditionszeitung müssen jetzt sämtliche Mitarbeiter vom Redakteur über den Grafiker bis zum Programmierer Social Media lernen.

Besprochen werden das Album "Celestial Music 1978- 2011" des amerikanischen Zitherspielers Edward Larry Gordon alias Laraaji und der Bildband "Valeska Gert. Tanz Fotografien" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 10.01.2014

Ab morgen strahlt Arte die fünf aufwändig restaurierten Episoden von Louis Feuillades "Fantomas"-Serial von vor 100 Jahren aus, freut sich Joseph Hanimann im Medienteil. Mit Wonne taucht er in die ganz eigene Welt des legendären Superverbrechers ab: "Die üppigen Interieurs und belebten Außenaufnahmen aus dem Paris der aushauchenden Belle Époque mit den gepolsterten Damenroben, den Kaleschen, Handkarren und wenigen stotternden Autos auf dem Kopfsteinpflaster der Boulevards, mit dem Pariser Dächergewirr, den unterirdischen Abwasserkanälen und den fauchend aus dem Gare de Lyon auslaufenden Expresszügen machen uns zu unmittelbaren Zeitgenossen einer heraufdämmernden Großstadtwelt, in welcher der Einzelne in der Masse untergeht, jeder Passant ein Mörder sein kann, und in der (...) die Dinge umso unheimlicher wirken, als sie hinter Glasscheiben rein visuell, also geräuschlos sich abspielen." Interessant: In den Tiefen der arte-Website kann man sich die Folgen als visuelles Begleitmaterial zum live eingespielten Soundtrack von Yann Tiersen schon jetzt ansehen: Hier die erste Episode, alle weiteren findet man, wenn man im Suchfeld "Fantomas" eingibt.

Im Feuilleton hält Gerhard Matzig die Do-it-Yourself-Renaissance zwar für sympathisch, aber auch für von vornherein begrenzt, wenn nicht naiv: "Denn die eigentlichen Innovatoren unserer Zeit, Mikroelektronik und Nanotechnologie, entziehen sich naturgemäß dem angeblich 'menschlichen Maß'." Außerdem gratuliert Tanjev Schulz dem Sozialforscher Klaus Hurrelmann zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden der in Warschau uraugeführte Film "Lauf, Junge, Lauf" über Yoram Fridman, dem als Achtjähriger die Flucht aus dem Warschauer Ghetto gelang, Bruce Springsteens neues Album "High Hopes" und Bücher, darunter Paul Nizons "Die Belagerung der Welt" und Mark Siegels Comic "Sailor Twain" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 10.01.2014

Wenn Journalisten jetzt die Aufdeckung der Überwachung durch amerikanische NSA und britischen GCHQ zum Ausweis dafür heranziehen, dass das Kontrollsystem durch die Presse ja funktioniere, findet Constanze Kurz das etwas vorlaut: Denn "leicht wird dabei vergessen, dass diese vielbeschworenen Selbstreinigungskräfte der Gesellschaft nicht ohne Menschen funktionieren, die ihr persönliches Wohl hintanstellen und enorme Risiken eingehen, um als falsch, ungerecht und illegal empfundene Zustände anzugehen."

Weitere Artikel: Hannah Lühmann trifft sich in Warschau mit Yoram Friedman, dessen im Buch "Lauf, Junge, Lauf" erzählte Geschichte seiner Flucht aus dem Warschauer Ghetto nun verfilmt und uraufgeführt wurde. In Nepal wurde der älteste buddhistische Tempel entdeckt, meldet Rose-Maria Gropp. Jürgen Kaube betrachtet es nicht als Gewinn für die Demokratie, wenn Bürger auf Petitionsplattformen und in Online-Kommentarspalten ihre Meinung äußern (wo wir doch für 2,20 Euro jederzeit seine lesen können). Jürgen Dollase problematisiert die Forderungen nach mehr Natürlichkeit in der Kulinarik: "Das Problem ist, wo man die Grenzen zwischen Natürlichem und Denaturiertem zieht, wer sie zieht und zu wessen Vorteil."

Besprochen werden neue Schallplatten, darunter ausführlicher eine neue Einspielung von Verdis "Otello", eine Ausstellung der Schenkung Christoph Müller im Museum Schwerin, Oliver Hirschbiegels Biopic über Lady Di und neue Murakami-Veröffentlichungen zum Geburtstag des Autors (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).