Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2001. In der Zeit widmen sich Jens Jessen und Josef Joffe der Terrortherapie, während die taz im Zentrum des Terrors noch immer nichts als Leere sieht. Die FAZ lässt New York für einen Moment aus den Augen und bekennt ihre Sehnsucht nach Paris.

Zeit, 04.10.2001

Was tun in der Krise? Die Zeit widmet sich der Terrortherapie. Jens Jessen etwa sieht in der Folge der Anschäge in den USA die liberale Gesellschaft in Gefahr. Er warnt vor einem Freund-Feind-Schema, wie es Arundhati Roy in der FAZ hatte anklingen lassen: "Wer in den letzten Tagen die amerikanische Politik kritisierte, wurde als Feind der liberalen Welt betrachtet; und wer umgekehrt den Liberalismus oder auch nur den freien Weltmarkt für die Entstehung des Fundamentalismus heranzog, wurde als Antiamerikanist und Verräter an den Opfern von New York gebrandmarkt ... nachdem das Attentat auf die Ebene eines Prinzipienkampfes gehoben wurde, droht auch im Westen eine Logik der Identifizierungen und kollektiven Zuschreibungen." Jessen rät, sich auf die Suche nach den Tätern zu beschränken und keine Inquisition in Bewegung zu setzen, die nach Sympathisanten oder verdächtigen Meinungen forscht.

Und im Politik-Teil bezweifelt Josef Joffe, dass es eine Alternative gegeben hätte zur großen (in mancher Hinsicht durchaus fragwürdigen) Antiterror-Allianz: "Instinktiv sucht der westliche Mensch nach den 'Wurzeln' des Terrors. Nur droht hier ein Trugschluss: Man kann die Mittel nicht mit den Ursachen erklären; Churchill hat keinen Moment lang über den Englandhass der Nazis nachgedacht, bevor er 1940 die Abwehr des tödlichen Angriffs organisierte. Nihilisten, die den Mord zum Selbstzweck und ihr Unglück zum Freibrief machen, sind keine Patienten, die es zu therapieren, sondern Feinde, die es zu stoppen gilt." Den Dialog zwischen den Kulturen in Blut zu ersticken, so Joffe, gehe allerdings auch nicht an. Was also? Die Schuldigen in Therapie?

Jacqueline Henard erklärt, warum Muslime in Frankreich sich noch immer nicht integriert fühlen, Mark M. Anderson verrät, was US-Bürger an Deutschland interessiert (der Holocaust) und was die Deutschen lähmt (der Holocaust), Irene Dische berichtet stolz, wie sie vor ein paar Tagen in New York problemlos mit einer Pulle Tränengas in der Tasche ins Flugzeug stieg. Und Thomas E. Schmidt war auf Museumstour ? durch Banken und Konzerne. Ferner lesen wir, warum viele Amerikaner jetzt unbedingt Katastrophenfilme anschauen wollen, wie der Islam Religion und Staat trennt, wie sich der frühe Godard heute anfühlt und was Leonard Cohen über Musik ohne Manifeste zu sagen hat.

Kritisch: der Eröffnungsvierer am Deutschen Theater Berlin mit Bluthochzeit, Emilia Galotti, Der Leutnant von Inishmore, Antigone, Lachenmanns "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" in Paris und Stuttgart, Jan Distelmeyer stellt Ken Loachs neuen Film "Bread & Roses" vor. Und der Bücherherbst ist da! Die Zeit begrüßt ihn mit über 100 Rezensionen, Autoreninfos und Leseproben (in Kürze auch im Perlentaucher).

Im "Leben" schließlich ist zu erfahren: warum sein literarisches Talent den niederländischen Fussballprofi Jaap Stam den Job kostete und wie prominente Bücher-Junkies mit ihrer Sucht umgehen. Wie ganz gewöhnliche Bücher-Junkies auch: sie lesen.

SZ, 04.10.2001

Der Leiter des Deutschen Orient Institut in Hamburg, Udo Steinbach, hofft, dass die gegenwärtige Krise sich nicht zum befürchteten Kulturkonflikt auswächst. Er sieht darin sogar Chancen, die Beziehungender Kulturen zueinander zu überdenken. "Der Islam kommt an einer rationalen Einstellung zur Moderne, die vom Westen geprägt ist, nichtvorbei. Der Westen muss darüber nachdenken, wie er sich zurücknimmt, um nicht unablässig das Selbstwertgefühl der Muslime zu verletzen, indem ereigene politische und wirtschaftliche Interessen in der Mogelpackung universaler politischer Rechte durchzusetzen sucht. Wenn sich der Staub der gerechtfertigten Verbrechensbekämpfung gesetzt hat, wird es Zeit für einen auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt geführten Dialog der Kulturen."

Und weil zum Thema 11. September offensichtlich so ziemlich jeder seinen Senf geben muß, sieht nun Thomas Steinfeld durch die Brille des Literaturkritikers in den USA ein Weltgericht der Philologen am Werk: "Nun aber verhalten sich die Vereinigten Staaten, als hätte man dort in den vergangenen drei Wochen viele geheimbündlerische Romane aus dem achtzehnten Jahrhundert gelesen: Die Aufklärung findet in der Form der Geheimnistuerei statt. Sie installieren ein klandestines Weltgericht, in dem verborgene Indizien kreisen und in dem - es wird nicht mehr lange dauern - ein Urteil verhängt werden wird, das die Öffentlichkeit erst nach seiner Vollstreckung kennenlernen wird. Auf die Publikation der Belege wird man vermutlich auch nach diesem Tag noch warten. Scharf kontrastiert diese Politik der Unsichtbarkeit mit dem katastrophalen Übermaß an Sichtbarkeit in den Minuten der Anschläge." Argumente, die uns beeindruckt haben.

Ferner: In einem Interview zu seinem 60. Geburtstag läßt Robert Wilson wissen, dass er zusammen mit Philipp Glass ein Langzeitprojekt über den Islam geplant hatte. "Aber ich fürchte, dies ist nach dem 11. September gegenstandslos." Es gibt einen Vortrag von Richard Sennett über die soziologischen, urbanististischen und kulturellen Folgendes 11. September, einen Bericht über den Rektoratswechsel am Berliner Wissenschaftskolleg, einen Verriss einer Oper über den koreanischen Nationalhelden Chung-Gun. Und Filmbesprechungen zu: "The Gift" von Sam Raimi, "100 Pro" von Simon Verhoeven und "Vizontele" von Yilmaz Erdogan.

NZZ, 04.10.2001

Nicht viel los im Feuilleton. Wir schauen nach unter Vermischtes: Ein Buch mit bisher unveröffentlichten Briefen Ludwigs II. wird hier vorgestellt. Ein Aschaffenburger Anwalt will pünktlich zum 156. Geburtstag des Märchenkönigs zeigen, dass dieser nicht nur verzweifelt nach Geld für seine Schlösser, sondern auch nach immer neuen Lustknaben gesucht hatte. Sowas. Die Angelegenheit aber berührt ein "bayerisches Trauma", Königstreue treten an und fordern, Bayerns Ministerpräsident Stoiber solle die belastenden Handschriften einziehen und das Andenken Ludwigs II. retten.

Weitere Artikel: Ulrich M. Schmid porträtiert die Ukraine als ein Land auf der Suche nach seiner kulturellen Identität, Hanspeter Künzler freut sich über die Wiedergeburt des Indielabels "Rough Trade", Sieglinde Geisel berichtet über den Rektoratswechsel am Wissenschaftskolleg Berlin. Und Richard Rorty wird 70.

Kritisch gesehen werden: Drei frühe Hindemith-Einakter im Kölner Theaterhaus, ein Skulpturenpark in Luxemburg, Slayer mit neuem Album "God Hates Us All", ein Band über Pariser Architektur (franz. Ausgabe), Kirsten Johns Romandebüt "Schwimmen lernen in Blau", Ralph Rothmanns Erzählungen "Ein Winter unter Hirschen" sowie sage und schreibe acht Studien, die sich allesamt mit Entwicklung und Struktur nationalsozialistischer Konzentrationslager befassen (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 04.10.2001

Günter Seufert beschreibt die Sicht der Türkei auf die Anschläge vom 11.September. Jahrelang habe die Türkei Europa dafür kritisiert, nicht wirkungsvoll gegen die Unterstützer der PKK vorgegangen zu sein.Stattdessen habe Europa innerstaatlichen Terrorismus in autoritären Ländern als Widerstand verharmlost. Seufert zitiert den liberalenPolitilogieprofessor Hasan Kahraman, der an die arabischen Anschläge auf die israelischen Sportler während der Olympischen Spiele in München und andie Attentate der Roten Brigaden erinnert. "Anders als die Bologneser seien die Münchener Anschläge unvergessen, und das Bild des arabischen Terroristen sitze tief im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Daraus lässt sich folgern: Terrorismus ist nur, wenn Angehörige westlicher Staaten Opfer von Angehörigen nicht westlicher Staaten werden.

Feridun Zaimoglu betrachtet die deutschen Kanak-Kultur nach dem 11.September und findet, dass die fremdenskeptischen Funktionäre der Bürgerparteien und die islamistischen Rückbesinnungsapologeten eines gemeinsam hätten: "Sie imaginieren eine geschlossene Kultureinheit, mag sie nun als Ghetto-Community oder eine Glaubensgemeinschaft kodifiziert werden." Wäre die Bürgerwehr-Partei des Hamburger Rechtspopulisten Roland Barnabas Schill nicht ausländerfeindlich, erfreute sie sich unter den orthodoxen Moslems einer breiten Stammwählerschaft, schreibt Zaimoglu. Ansonsten würden die Islamistenverbände trotz gegenteiliger Angaben in den letzen Jahren einen Schwund an jungen Rekruten verzeichnen. "Auch wenn sie sich als die einzige Ordnungsmacht in den Migranten-Ballungsvierteln ausgeben - es wird ihnen nichts nützen. Ihr Angebot ist schlicht und ergreifend nicht attraktiv, sie hat ihren Zenit überschritten."

Veronika Rall schreibt über "Bread and Roses", den neuen Film von Ken Loach, dessen Thema der Arbeitskampf der illegalen hispanischen Arbeitsmigranten in Los Angeles ist: "Bei Ken Loach dürfen wir uns noch einmal nach der Barmherzigkeit, nach dem Humanismus sehnen. Diese Nostalgie ist eine Qualität des Filmemachers, die wir vielleicht erst heute begreifen." Doch nach dem 11. September wissen wir: "Die Verlierer des globalen Kapitalismus stehen nicht mehr brav auf ihren Streikposten, sie schlagen sehr unbarmherzig und schlechterdings inhuman zu. Das ist wirklicher, als es das Kino erlaubt."

Weiteres: Aus New York berichtet Eva Schweizer, dass Moslems dort erste Spuren der Ausgrenzung erleben. Thomas Girst schreibt über Manhattens Kunstszene vier Tage vor dem Anschlag, als die Welt dort noch in Ordnung war. Petra Kohse ist auf dem Berliner Artforum von Kunstkoje zu Kunstkoje gewandert, und hat festgestellt, dass es dort immer noch recht gemütlich zugeht. Jens Roselt schließlich ist begeistert von Rene Polleschs "Die Stadt als Beute" im Volksbühnen-Prater.

FAZ, 04.10.2001

Die erste Welle von Feuilleton-Beiträgen zum Terror in den USA scheint auszurollen. Im Politik-Teil der FAZ aber findet sich ein Artikel von Michael Martens. Darin beklagt der Botschafter der Taliban in Islamabad Abdul Salam Saif die jahrelange Isolation der Taliban und die "verzerrende Berichterstattung" und gibt den USA die Schuld an der Krise. Man dürfe ein Land nach zehn Jahren Krieg nicht seinem Schicksal überlassen; ohne den Abzug der Amerikaner gäbe es die Taliban heute nicht.

Kulturell verlagert sich der Schwerpunkt von New York auf die andere Seite des Atlantiks. Paris ist im Kommen. Niklas Maak sieht die Stadt nach wie vor als Sehnsuchtsort: "Während in Paris noch alles aussieht wie immer, entsteht vor allem in Amerika ein ganz neuer Blick auf Paris, in dem sich die Sehnsucht nach dem aufregenden Leben, eine fin-de-siecle-hafte Sinnsuche, degoût angesichts einer immer fader werdenden Popkultur vermengt zur Suche nach Authentizität, wildem Glück und einem aufregenden Leben - zu dem also, was Lost Generation und Revoltetouristen schon immer in Paris suchten." Dabei gebe es zwei Bewegungen: Eine in Richtung Anti-Amerikanismus, Anti-Pop und Existentialismus und eine andere gerade als Wiederbelebung einer erschlafften amerikanischen Popkultur. Sieht nicht danach aus, als ob dabei alle glücklich werden. Außer Joseph Hanimann behält Recht, der Paris als Ruheort für große Bewegungen porträtiert, "wo das wiederkehrende Glück des In-Seins kaum wahrgenommen wird."

Außerdem: Joachim Müller-Jung berichtet über Erfolge bei der Entwicklung von Substanzen gegen mögliche Biowaffen (fix geht das), Jürgen Kaube sagt, was von Dieter Grimm, dem neuen Rektor am Wissenschaftskolleg Berlin, zu erwarten ist, Christoph Albrecht erklärt, wie das Marketing die Rasterfahndung nutzt und zwar schon lange, Heinrich Wefing berichtet über Berlins Pläne, die Sammlung Marzona zu erwerben. Wir lesen Geburtstagsgrüße an Richard Rorty (70) und Bob Wilson (60), ein Porträt der Sängerin Anna Montanaro, über die gesellschaftliche Stellung des Jazz. Und zum Tod des surrealistischen Dichters Gellu Naum.

Besprochen werden ein Symposion über Konsum und Wahn in der Frankfurter Schirn, Dea Lohers Drama "Licht" in Hamburg, Jarrys "König Ubu" und Büchners "Leonce und Lena", neu gesehen in Paris, "Bread & Roses" von Ken Loach, ein Konzert mit Chick Corea und Gonzalo Rubalcaba in der Alten Oper in Frankfurt. Sowie Satiren und Briefe des Horaz in neuer Übersetzung (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 04.10.2001

Brigitte Werneburg fragt, ob das, was nach dem 11. September kommt, ein kalter, ein neuer oder bloß ein vermeintlicher Krieg ist. Und ob der internationale Terrorismus eine unterschätzte Bedrohung war, die nun überschätzt werde. "Dass der Einsatz von militärischen Mitteln im Kampf gegen den Terrorismus wenig sinnvoll ist, mag beruhigen, was einen dritten Weltkrieg angeht. Dass das Mittel der Politik im ostentativen Schweigen der Attentäter nahezu ausgeschlossen wird, ist allerdings wieder beunruhigend. Zumal die Leere im Zentrum des Terrors die Gefahr mit sich bringt, in den antiamerikanischen Protesten den fehlenden Bekennerbrief sehen zu wollen." Die gegenwärtige Krise jedenfalls zwingt in Werneburgs Augen nicht nur Politologen dazu, ihre Analysen einer Revision zu unterziehen. Auch das "naive Klassenbewußtsein" reicht als Erklärungsmuster nicht mehr aus: die Hauptverdächtigen des Terroranschlages kamen aus wohlhabenden Familien und gehörten "gerade nicht zu den Depravierten, die auf dem globalen Gewaltmarkt angeworben werden."

Dietrich Kulhbrodt findet bewegende Worte für die achte Dokfilmwerkstatt auf der mecklenburgischen Insel Poel, wo er lauter Knastfilme sah, die all das zeigten, was Ronald Schill nun abzuschaffen gedenkt. Konrad Lischka hat in einem Fotomagazin geblättert, das von einer Sehnsucht nach dem Sehen erzählt. Pinky Rose meint, dass die Merricks in ihrem neuen Album "Silver Disc" den funkelnden Disco-Teppich von Schwabing bis nach Siebenbürgen ausrollen. Und Philipp Bühler findet "Spy Kids" von Robert Rodriguez scheinbar ziemlich doof.

Nicht aber Tom.