Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2001. n einem gepfefferten Brief erklärt der Marburger Sozialwissenschaftler Jörg Becker in der FAZ seinen Austritt aus der DFG. Die FR hat Franz Schrekers ersten Einakter in Kiel gehört und meint: reiner Suchtstoff. Die NZZ berichtet von der unbehaglichen Stimmung bei der Documenta.

FAZ, 01.11.2001

Der Marburger Sozialwissenschaftler Jörg Becker erklärt in einem gepfefferten Brief an Ernst-Ludwig Winnacker seinen Austritt aus der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG): Nicht nur dass die DFG inzwischen "ein Ort von Affirmation und Anpassung, Zitierkartellen und invisible colleges, Mainstream und Vorab-Absprachen, von Innovationsfeindlichkeit und Langeweile" geworden ist. Noch "bestürzender" findet Becker das "mangelnde wissenschaftliche Niveau betreffs Technikgeschichte, Technikphilosophie und Ethikdiskussion", das aus den Empfehlungen der DFG zur Forschung mit menschlichen Stammzellen vom 3. Mai 2001 spricht. "Die in dem Papier formulierte Ethikdiskussion reduziert sich auf einen Gegensatz zwischen 'menschlicher Würde' und 'Forschungsfreiheit'. Ohne mich an dieser Stelle darauf einzulassen, ob es eine Gleichgewichtigkeit dieser beiden Größen gibt und ob sie deswegen überhaupt miteinander vergleichbar sind, bleibt als Vorwurf ein ungeheuerlicher Reduktionismus in der Ethikdiskussion festzuhalten. Ein Politiker mag eine Ethikdiskussion populistisch derart verkürzen, eine Gruppe von Wissenschaftlern kann sich so etwas nicht leisten."

Oliver Tolmein berichtet über ein Londoner Gerichtsurteil, das dem Ehemann der 42-jährigen Dianne Pretty untersagt, seine Frau auf ihr Verlangen zu töten. Geklagt hatte die Frau, die erreichen wollte, "dass die englische Staatsanwaltschaft ihrem Ehemann Straffreiheit für den Fall zusichert, dass er sie mit ihrem Einverständnis aktiv bei ihrem Selbstmord unterstützt. Denn sie selbst, so argumentierte die im Rollstuhl sitzende Klägerin ... könne sich aufgrund ihrer schweren Erkrankung nicht mehr umbringen. Die vor zwei Jahren an der Lou-Gehrig-Krankheit (auch amyotrophe Lateralsklerose, ALS, genannt) erkrankte Frau sitzt im Rollstuhl, kann die Arme nicht mehr bewegen. Sie kann auch kaum noch schlucken."

Weitere Artikel: Klaus Unger schreibt über den Fall Christer Petersen. Er soll "eventuell" Olof Palme getötet haben - jedenfalls hätte die schwedischen Medien das gern. 2000 Kronen (rund 400 Mark) soll ihm Expressen für sein Geständnis bezahlt haben. Gerhard R. Koch gratuliert H. H. Stuckenschmidt zum hundertsten Geburtstag. Kho schreibt zum Tod des ukrainischen Filmregisseurs Georgi Tschuchrai. Dirk Schümer ist über die Biennale in Venedig geschlendert und stellt fest, dass die "blondierte, bleiche Schwedin aus dem nordischen Biennalepavillon" am härtesten im Nehmen ist. Andreas Obst berichtet über die Deutschland-Tournee von Roxette. Harald Hartung gratuliert Ilse Aichinger zum Achtzigsten.

Andreas Rossmann schreibt über den Architekten Johann Joseph Couven, der vor 300 Jahren das Aachener Rokoko begründete. Jordan Mejias erzählt wie das amerikanische Fernsehen und die Unterhaltungsindustrie den Terror verkraften. Wilfried Wiegand erklärt, warum ein Festival des neuen deutschen Films in Paris ein Flop war. Dieter Bartetzko meldet, dass die Bibel "geschlechtergerecht" übersetzt wird. Über die "geradezu himmlische Heerschar von Schrägstrichen" ist er aber gar nicht froh. Wolfgang Schneider berichtet über eine Lübecker Tagung zu Thomas Manns "Buddenbrocks" und der Literatur der vorletzten Jahrhundertwende. Und Gerhard R. Koch freut sich, dass Kent Nagano in Berlin bleibt.

Besprochen werden eine Ausstellung im Museum der Goulandris-Stiftung mit Funden, die bei den Ausgrabungsarbeiten für die Athener Metro gemacht wurden. Die Filme "Amores Perros" von Alejandro Gonzalez Inarritus und "Banditen" mit Bruce Willis und Billy Bob Thornton von Barry Levinson. Joachim Schlömers Tanzstück "15 - in fifteen seconds" im Choreographischen Zentrum Essen, eine kleine Ausstellung der Mondbilder von C.D. Friedrichs im New Yorker Metropolitan Museum. Und eine Retrospektive des Kinos der zentralasisiatischen Republiken auf der Viennale.

NZZ, 01.11.2001

Claudia Spinelli ist nicht sehr glücklich mit dem bisherigen Verlauf der Documenta (mehr hier). Eine Art "weltweites Proseminar" sei das, schreibt sie. "An der Pressekonferenz, die Anfang Oktober im Berliner Haus der Kulturen der Welt als Auftakt des zweiten Teils der ersten Plattform "Democracy Unrealized" über die Bühne ging, herrschte denn auch eine reichlich unbehagliche Stimmung. Ein Kunstkritiker hatte die berechtigte Frage nach dem Zusammenspiel von Theorie und künstlerischer Praxis ... Dass der unglückliche Journalist nicht nur vom autonomen Kunstwerk, sondern auch noch vom Diskurs der sechziger Jahre sprach, erwies sich als Fehler: "Von wessen sechziger Jahren sprechen Sie?", fuhr Enwezor den Mann unfreundlich an und unterstellte ihm einen unreflektierten Eurozentrismus. "Gibt es sonst noch Fragen?" - Schweigen. Keiner der Anwesenden traute sich, etwas zu sagen. Wer möchte sich schon vor den versammelten Kollegen der politischen Unkorrektheit überführen lassen."

Peter Niklas Wilson stellt "x-tract" vor, das Label des Berliner Kunstzentrums Podewil, ein "Labor für avantgardistische Kunst und für neue Klänge jenseits alter Kategorien". Vier CDs sind jetzt erschienen, die für Wilson bei aller Diversität der Klangerzeugung etwas gemeinsam haben: eine "übergreifende technomorphe Ästhetik". "Denn dies ist fast durchweg Musik, die auf geschichteten Klangflächen beruht, nicht auf klar konturierten Gestalten oder harten Schnitten, Musik der gehaltenen, schleifenartig wiederholten, allmählich modulierten Sounds, nicht der disparaten Klangpartikel."

Besprochen werden "We Love Life", das neue Album von Pulp (hier was zum Hören), eine CD des Keith Jarrett Trios, ein Konzert der Tonhalle Zürich, dirigiert von Heinz Holliger, mit Werken von Schubert, List und Zimmermann und viele Bücher, darunter zwei Parallelbiografien: über Jefferson und Goethe von Ekkehart Krippendorff und über Franz Desgouttes und Heinrich Hössli (mit dem schönen Untertitel Mord, Philosophie und die Liebe der Männer) von Pirmin Meier (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 01.11.2001

Die SZ feiert heute Allerheiligen. Wir gratulieren.

FR, 01.11.2001

Hans-Klaus Jungheinrich hat in Kiel einer um fast 100 Jahre verspäteten Uraufführung zugehört: Franz Schrekers "ersten musikdramatischen Versuch", den Einakter "Flammen". Es geht um einen tödlichen Kuss. "Die Mittelalter-Einkleidung des Stoffes lässt die Wagnerabhängigkeit des jungen Schreker ... noch klar hervortreten. Doch werden die orchestralen Klangfarben schon jugendstilhaft-raffiniert gemischt, und auch im blühend-rauschhaften ... Vokalduktus kündigt sich bereits der 'echte' Schreker an. Eine sehrend-schweifende, ruhelos-voluptuöse Tonsprache, die auch heute noch (oder wieder) ihren narkotisierenden Zauber auszuüben, als reiner Suchtstoff zu wirken vermag. Das stilistisch mit derlei wohlerfahrene Kieler Orchester brachte unter der Leitung von Markus Frank ein gut organisiertes Wogen, Flimmern und Glänzen zustande."

Weitere Artikel: Heribert Kuhn schreibt recht kurz über zwei Podiumsdiskussionen im Goethe Institut München, die sich mit "Perspektiven der Moderne in der islamischen Welt" beschäftigten. Roman Luckscheiter berichtet aus Frankreich, wie Alain Robbe-Grillet mit seinem neuen Roman Michel Houellebecq verdrängt. Roland Burgart schreibt in der Hochhaus-Serie über Hochhauskonzepte in Wien. Christian Schlüter schreibt zum Tod des Philosophen und Soziologen Dietmar Kamper. Und Elke Buhr berichtet über die 35. Art Cologne. Außerdem wird gemeldet, dass Tom Tykwer mit seinem Film "Heaven" die Berliner Filmfestspiele im Februar eröffnen wird.

Besprochen werden der Film "Amores Perros" von Alejandro Gonzalez Inarritus und eine Ausstellung mit den "monumentalen Bildwerken" Anselm Kiefers in der Fondation Beyeler in Riehen.

TAZ, 01.11.2001

Der Jazzmusiker Max Roach (hier mehr) erklärt im Interview, warum er absolut für Segregation ist: "Segregation bedeutete, dass wir selbständig waren. Wir hatten unsere eigenen Schulen, Theater und Läden. Wir hatten unsere eigenen Wissenschaftler, wir studierten unsere Geschichte, lasen unsere Gedichte und Prosa. Und unsere Musik, die man in der ganzen Welt hört - Bessie Smith, Louis Armstrong, Charlie Parker -, sie ist unter den Bedingungen der Segregation entstanden. Mit der Integration wurde dieser Kultur die Basis entzogen, und seitdem haben wir keinen W. E. B. DuBois mehr erlebt. Sie schickten uns in weiße Schulen, die schwarzen Lehrer wurden arbeitslos, denn alle Jobs gingen an die Weißen. Heute finden wir in den Büchereien kaum Bücher über Black Culture, das ist die Situation." Max Roach spielt heute beim JazzFest Berlin.

Besprochen werden Thomas Arslans Film "Der schöne Tag", mit der Journalistin und Autorin Elke Schmitter als Unidozentin, die der Heldin erklärt, "dass die Liebe konstruktivistisch gesehen doch etwas anders funktioniert." "Amores Perros" von Alejandro Gonzalez Inarritu und Barry Levinsons Bankräuberkomödie "Banditen!"

Auf den Tagesthemenseiten gibt es noch ein Interview mit dem Architekten Lord Norman Foster (hier mehr) über die Zukunft der Wolkenkratzer nach dem 11. September. Forster glaubt, dass die Anschläge dass Design von Gebäuden verändern werden: "Man wird darauf achten, dass große Menschenmassen große Gebäude in großer Eile verlassen können. Wir planen gerade das Wembley-Stadion neu, man wird 90.000 Menschen innerhalb von acht Minuten hinaus bekommen können." Sollen wir das glauben?

Schließlich Tom.