Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2001. In der SZ erklärt Navid Kermani, warum er trotz allem gegen den Krieg ist. In der FAZ warnt Edward Luttwak vor Hilfsorganisationen, die sich allzuoft zu Komplizen des Bürgerkriegs machten. Die NZZ betreibt derweil Vergangenheitsbewältigung in Dänemark und die FR empfiehlt den Grünen eine Politisierung des Pazifismus.

FAZ, 23.11.2001

Sehr politisches Feuilleton heute.

Edward Luttwak vom Center for Strategic and International Studies in Washington warnt nach den "bislang augezeichneten Ergebnissen" der Kreigsführung in Afghanistan vor einer Versorgung der Bevölkerung durch Hilfsorganisationen: "Wenn unbewaffnete Mitglieder von Hilfsorganisationen Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter verteilen, sichern bewaffnete Kräfte sich stets den Löwenanteil. So fungieren die förmlich im Geruch der Heiligkeit stehenden Hilfsorganisationen in Wahrheit als Wegbereiter des Bürgerkriegs, wie man es in Somalia erleben mußte. In Afghanistan wäre ein unkontrollierter Einsatz der Hilfsorganisationen wegen der Größe und Vielfalt des Landes besonders verheerend."

Der Schriftsteller Ulrich Holbein hält den Grünen vor ihrem historischen Parteitag eine ziemlich verschwurbelte Naturkundelektion: "Wenn die Pazifisten nicht, um am Drücker zu bleiben, schwach geworden wären, hätten sie schier urchristlicher als jede CDU die andere Backe reihenweise hingehalten, sich erniedrigt, um erhöht zu werden, sich zurückgezogen zu Gott, in schwindelnde Höhen, also doch wohl Bergeshöhen, um von dort inkognito weiterzukämpfen, hoffentlich nicht als Guerrillakrieger im Kies und Gneis geologischen Geröllschutts." Geröllschutt, das ist das Wort.

Weiteres: Paul Ingendaay schildert Gibraltars ungewisse Zukunft - Großbritannien würde die Kolonie gerne loswerden, Spanien hätte sie gern, aber die Bevölkerung spielt nicht mit. Christian Saehrendt erzählt, wie Ernst Ludwig Kirchner in den zwanziger Jahren seine ehemaligen Kollegen von der "Brücke" beschimpfte. Die Rechtsanwältin Ulrike Riedel, Mitglied der Bioethik-Kommission im Bundestag, macht sich Gedanken um den Rechtsstatus embryonaler Stammzellen. Der Völkerrechtler Rudolf Dolzer klärt Peter Struck auf, dass der Bundestag seine Entscheidung für den Kriegseinsatz nicht widerrufen kann. Der britische Diplomat Charles Powell erzählt die Geschichte der "besonderen Beziehungen" zwischen Großbritannien und den USA.

Ferner schreibt Günther Rühle zum hundertsten Geburtstag von Marieluise Fleißer. Margarete Magiera schickt eine Reportage vom Kulturfestival Souk Ukaz in Amman. Bert Rebhandl resümiert ein Filmfestival im südkoreanischen Pusan. Kai Wenzel macht sich Sorgen um die weitere Zukunft der Steinfiguren vom Nordgiebel des ersten Dresdner Hoftheaters. Oliver Elser stellt das von Dietrich Bangert entworfene neue große Tierheim in Berlin vor. Ilona Lehnart berichtet, dass Museen sich verstärkt auf die Suche nach der Herkunft ihrer Kunstwerke begeben. Auf der Medienseite warnt Heike Hupertz vor der Ödnis der von John Malone verbreiteten Kabelprogramme - Malones Liberty Media ist inzwischen auch in Deutschland aktiv. Und Michael Hanfeld erzählt vom Fall eines SWR-Redakteurs, der gefeuert wurde, weil sein Sender in einem selbstverfassten Krimi nicht besonders gut wegkam.

Besprochen werden eine Ausstellung des Brasilianers Ernesto Neto im Kölnischen Kunstverein, das Holland Dance Festival (mehr hier), eine medientheoretische Tagung in Köln, die Dramatisierung von Frederic Beigbeders Roman "39,90" in Düsseldorf und Mahler-Konzerte des Nederlands Radio Filharmonisch Orkest.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es um die Symphonik Carl Nielsens, um Robbie Williams neue Swing-Platte, um neue Solo-CDs von Mick Jagger und Ron Wood und um Klavierkonzerte und eine Elegie für Anne Frank des Komponisten Lukas Foss.

TAZ, 23.11.2001

Für Thomas Winkler ist der deutsche HipHop gar nicht tot, er riecht bloß manchmal ein wenig seltsam und ist dabei kommerziell so erfolgreich wie nie zuvor: "Seit vor nunmehr nahezu einem Jahrzehnt der von den Medien dankbar aufgebauschte Krieg der Reime ausbrach, als die Szene erstmals polarisiert wurde zwischen dem politisch bewussten Rap von Advanced Chemistry und den Charts-Pop der Fantastischen Vier, seitdem hat sich eine überraschende Vielfalt entwickelt, die hinter der hierzulande traditionell neidisch beäugten französischen Szene nicht zurückstehen muss." Brauchbare Platten, das sind für Winkler etwa "Haus und Boot" von Kool Savas, "Fertich!" von Ferris, "Brennstoff" von Das Department oder auch "Demotape" von Fettes Brot.

Weitere Artikel: Jürgen Berger berichtet von zwei konkurrierenden Faksimileausgaben der Handschriften Franz Kafkas, Axel Schock annonciert eine CD-Edition, die dokumentiert, wie jüdische Künstler die deutsche Unterhaltungskultur der Weimarer Republikjahre geprägt haben, Katrin Bettina Müller schreibt über die britische Bildhauerin Rachel Whiteread und ihre Ausstellung in der Deutschen Guggenheim Berlin, Christian Beck stellt neue Platten von Lenny Kravitz und Mick "The Lip" Jagger vor.

Und die Tagesthemen bringen Interviews. Mit dem Grünen Hans-Christian Ströbele, der partout an einen Anti-Kriegs-Beschluss glauben will, und mit dem Bremer Ökonomen Rudolf Hickel, der am offiziellen "Kauf-nix-Tag" shoppen geht.

Schließlich Tom.

SZ, 23.11.2001

In Bezug auf die Entwicklungen in Afghanistan meint Navid Kermani ("Iran") in der SZ, dass es Kriegsgegner dieser Tage schwer hätten: Nichts sei gelöst, aber alles sei besser, als es vor wenigen Tagen noch für möglich gehalten wurde. Allerdings sieht Kermani in dem Umstand, dass nun jene Politiker und Kommentatoren triumphieren, "die Kritiker der amerikanischen Kriegsführung als Gutmenschen abtaten", auch ein Menetekel für künftige Kriege. "Die Allianz der anderen, nämlich der regierenden Gutmenschen, die der Welt erst das Böse bescheren, um sie anschließend davon zu erlösen, wird bei jedem zukünftigen Krieg auf den Erfolg militärischer Mittel in Afghanistan verweisen." Angesichts der womöglich Tausenden von Toten unter der afghanischen Zivilbevölkerung, findet Kermani, wäre ein solcher Mythos aber "noch fauler als jener der Nachrüstung, die die Sowjetunion zu Fall gebracht haben soll."

In einem anderen Beitrag setzt uns der Historiker Tobias Jersak auseinander, wie Adolf Hitler allen Ernstes einmal den Hindukusch erobern wollte und dafür Pläne entwerfen ließ, die uns heute irgendwie bekannt vorkommen müssen: "Politische und militärische Aktionen sollten einander ergänzen: Während das Gerücht über die Rückkehr von König Amanullah die nationalistischen Kräfte im Land mobilisieren und zum Sturz der bestehenden Regierung führen sollte, würde eine deutsche Gebirgsjägerdivision den Anspruch auf Weltmachtgeltung militärisch untermauern. Pläne von Exilafghanen sahen überdies die Mobilisierung afghanischer Emigranten und turkmenischer Stämme vor, die von deutschen Militärberatern ausgebildet und ausgerüstet werden sollten. In Masar-i-Scharif sollte ein militärisches Hauptquartier errichtet werden, um vom Norden her Aufstände zu organisieren."

Weitere Artikel: Fred Breinersdorfer, Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller, äußert sich zu den jüngsten Überlegungen zum Urhebervertragsrecht, Stefan Koldehoff weiß mehr über den Raubkunst-Prozess gegen den Schweizer Galeristen Ernst Beyeler, und der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst-Ludwig Winnacker, gibt eine Zwischenbilanz der Stammzellendebatte und ist der Meinung, es wär an der Zeit, sich zu einigen.

Besprochen werden die Bühnenfassung von Frederic Beigbeders Roman "39,90" in Düsseldorf, Ausstellungen, Ausstellungen: "Claude Monet und die Moderne" in der Hypo-Kunsthalle in München, Bilder von Max Liebermann in Berlin, ein Buntes Allerlei vom Improvisationskünstler Jean Cocteau in der Akademie Vassilieff in Paris, eine Schau in der Universitätsbibliothek Erlangen, die den Historiker Karl Hegel würdigt, und Bücher, darunter "Das sexuelle Leben der Catherine M." sowie der von nicht weniger als 15 irischen Autoren verfasste Kriminalroman "Yeats ist tot" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 23.11.2001

"Die Vergangenheit ist ein fremdes Land. In Dänemark ist man dabei, die eine oder andere Provinz zu entdecken", so schreibt Marc Christoph Wagner über die jüngste Debatte zur Weltkriegsvergangenheit in Dänemark. Publikationen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit von Deutschland und Dänemark während der Naziherrschaft und zur dänischen Widerstandsbewegung führten zu heftigen Kontroversen in Dänemark, das seinem Selbstverständnis nach bisher eine "Mustergesellschaft" gewesen sei, wie die Verfassser des Bandes "Händler des Krieges" schreiben. In Kürze werde ein neues Buch erscheinen, das das Schicksal der dänischen Kriegskinder thematisiert. "Anstatt aufzuräumen, Fehler einzuräumen und die unschuldigen Opfer zu rehabilitieren, wurde ? tabuisiert" - auch in Dänemark.

Ob es eine typische Konsequenz männlicher Kunstgeschichtsschreibung ist, dass die Malerin Marie Louise Katherina Breslau nach ihrem Tod vergessen wurde, fragt sich Dominique von Burg. Deshalb sei die Ausstellung im Lausanner Musee cantonal des beaux arts, die rund 100 Werke der Künstlerin zeigt, um so beachtenswerter, da sie der Malerin endlich einen "gebührenden Platz" in der Kunstgeschichte verschaffe.
Besprochen wird außerdem eine Ausstellung in der Berliner Kunstbibliothek, in der die größte Sammlung an Schweizer Plakaten außerhalb des Herkunftslandes zu sehen ist.

Tobias Hoffman lobt Michael Talkes Inszenierung und die Bühnenfassung von Jeremias Gotthelfs Roman "Geld und Geist" im Luzerner Theater aufgrund der "lautstarken Theatralik" und der "rhetorischen Wortgefechte". Wohl ausdrücklich für das Münchner Publikum hat der Schweizer Regisseur Jossi Wieler an den Münchener Kammerspielen Euripides' Drama "Alkestis" als "Edelseifenoper im Milionärsmilieu" inszeniert. Sehr überzeugend, meint Silvia Stammen.
Zum 100. Geburtstag erinnert die NZZ an eine der "interessantesten Literatinnen", die die Weimarer Republik hervorgebracht habe: an Marie Luise Fleißer.

FR, 23.11.2001

In der FR denkt Michael Mayer über die namentlich von den Grünen versäumte und jetzt bloß proklamierte Politisierung des Pazifismus nach. Politisierung des Pazifismus heißt für Mayer: "Abschied vom Prinzipiellen als Bedingung der Einsicht in real- und machtpolitische Zusammenhänge, innerhalb derer eine an der Entfaltung von Zivilität und Humanität ausgerichtete Politik einzig zu verorten ist. Sinnvoll wider die Logik des Bellizismus streitet nur, wer das Dispositiv des Militärischen in ein Konzept politischer Gewaltprävention einbindet ... Ob durch den Schock vom 16. November die Grünen gleichsam im Zeitraffer diese Einsichten programmatisch werden nach- und einholen können; und ob das überhaupt noch hinlangt, der drohenden nachhaltigen Marginalisierung zu entgegen, dürfte sich schon bald zeigen."

Weitere Artikel: Eva Schweitzer berichtet von einer Krise im erfolgsverwöhnten Hause Guggenheim. Und in seinem zweiten Brief aus Jerusalem erzählt Michael Wildt vom nahen Krieg, dem sinkenden Stern Rabins und Jazz in der Nacht, der ihn optimistisch stimmt: "Nach den Wochen der lähmenden öffentlichen Konzeptlosigkeit, in denen Militärgewalt die Politik ersetzte, scheint etwas aufzubrechen. Nicht in der etablierten politischen Klasse, die derzeit Friedenspläne aus dem Hut zaubert, die schon vor zehn Jahren gescheitert sind. Sondern abseits der ausgetretenen politischen Wege und offenbar von einer jüngeren Generation."

Besprochen werden zudem Nanni Morettis Kino-Drama "Das Zimmer meines Sohnes" (daneben lesen wir ein Gespräch mit dem italienischen Filmemacher und Schauspieler über den Zuschauer als Regisseur, Gefühlskino und die Grenzen des Trostes), die Videoinstallationen des Amerikaners Gary Hills im Kunstmuseum Wolfsburg, Rossinis frühe Oper "L'inganno felice" und Donizettis "Il Campanello" am Badischen Staatstheater in Karlsruhe, ein mythenfreies Symposium zu Richard Wagner in Tel Aviv sowie neue Alben von Pulp ("We Love Life") und Mick Jagger ("Goddess In The Doorway").