Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2002. Die FR besucht Raul Hilberg. In der taz bekomt Charles Wilp "orgastische Manschetten". In der SZ fragt Sonja Margolina, warum man Autoren wie Vladimir Sorokin in Russland verfolgt, während Antisemiten ausgezeichnet werden. Die NZZ will sich kein U für ein E vormachen lassen. Und die FAZ beobachtet mit Sorge den Konflikt um die Petersilieninsel.

SZ, 15.07.2002

Sonja Margolina denkt darüber nach, warum in Russland Schriftsteller wie Vladimir Sorokin, Viktor Pelewin und Viktor Jerofejew (alle im Ad marginem Verlag), verfolgt werden, während man Antisemiten wie Alexander Prochanow auszeichnet. Was steckt dahinter? Eine Verschwörung des FSB? "Schon seit der Machtübernahme Putins (ein alter KGB-Mann) findet eine kontinuierliche Zurücknahme der Medienfreiheit statt. Ging es anfangs um die Enteignung der Medienmogule Boris Beresowski und Wladimir Gussinski, die mit ihren Fernsehkanälen eine Gefahr für das Regime darstellten, wurden schließlich alle Programme auf Linie gebracht. Dann sahen immer mehr Printmedien sich gezwungen, eine vorauseilende Selbstzensur zu üben. Eine Schlüsselrolle spielten dabei Staatsanwaltschaft und Gericht, die kaum noch einen Hehl daraus machten, politischen Zwecken Genüge zu tun."

Ein ungewöhnlich gelassener Heribert Prantl wundert sich über die Aufregung, die neuerdings politische Inszenierungen auslösen. Denn "Politik, die auf jegliche Inszenierung verzichtet, funktioniert nicht", meint Prantl. Was der Politik heute angekreidet werde, sei doch Puppentheater, etwa im Vergleich zu den Spektakeln des römischen Kaisers Gordian III, der 32 Elefanten, 60 Löwen, 10 Tiger, ein Nashorn, ein Nilpferd, 30 Leoparden, zehn Hyänen, zehn Giraffen und 20 Wildesel in einer einzigen Show auftreten ließ. Ja sicher, meint Prantl, wir sind aufgeklärte Demokraten. "Aber auch Demokraten sind Voyeure. Die Demokratie ist keine Heil- und Besserungsanstalt für menschliche Gelüste. Auch ein Volk, das nicht Untertan, sondern der Souverän ist, will unterhalten werden - wäre es anders, dann hätte nicht Springers Bild, sondern Karl Heinz Bohrers Merkur eine Auflage von 4,7 Millionen täglich."

Die Kunstsammlung des Industriellen-Erben Friedrich Christian Flick geht nach New York. Zürich hatte dankend abgelehnt, weil sich Flick weigerte, als Privatmann Geld in den Fonds für die Zwangsarbeiter einzuzahlen. Was der Schweiz nun bleibt, höhnt Stefan Koldehoff, "ist bestenfalls das Gefühl, wenigstens einmal im Leben so richtig politisch korrekt gewesen zu sein".

Weitere Artikel: Hans Nieswandt hat sich die Love Parade im Fernsehen angesehen: "Sofort bin ich mittendrin, zwischen bemalten Kindern mit Trillerpfeifen, toleranten Omas, endlosen Massen schwuler Heteros und abertausenden von Brüsten. Es ist wie ein stundenlanger Table Dance, nur eben auch mit Kindern und liberalen Senioren." Sebastian Handke berichtet über den Kongress "Musik und Maschine", der parallel zur Love Parade im Berliner Haus der Kulturen der Welt stattfand. Timo John empfiehlt einen Besuch im erweiterten Pfahlbaumuseum (mehr hier) am Bodensee. Im Interview mit Anke Sterneborg erklärt Tommy Lee Jones ("Men in Black II" läuft in dieser Woche an), warum das Kino die Welt besser machen kann. Jens Bisky meldet, dass Greifwald ein Alfred-Krupp-Wissenschaftskolleg bekommt. Und Gottfried Knapp schreibt den Nachruf auf den kanadischen Fotografen Yousuf Karsh (mehr hier).

Auf der Medien-Seite geht Hans Leyendecker Gerüchten über die Beziehungen des Frankfurter PR-Beraters Moritz Hunzinger zu Verteidigungsminister Rudolf Scharping nach und fragt, wofür Hunzinger diesem über 130.000 Mark gezahlt hat.

Besprochen werden die Düsseldorfer Ausstellung "Zurück zum Beton - Die Anfänge von Punk und New Wave in Deutschland 1977-82" (Bilder hier), Wolfgang Gremms Liebeskomödie "Nancy & Frank", die Uraufführung von Karin Spechts Stück "Das goldene Kind" in München, Vinko Globokars Hohelied auf den Kriegsgott "Mars" ebenfalls in München und Bücher, darunter die Neuausgabe von Norbert Elias? und John L. Scotsons Vorort-Studie "Etablierte und Außenseiter" und Elke Schmitters Roman "Leichte Verfehlungen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 15.07.2002

In der Serie "Ökonomien des Dazwischen" porträtiert Nils Röller den Wirkungsfachmann Charles Wilp (mehr hier), der seine Werbung für die Marken Afri Cola, Bluna, Stiebel Eltron, Puschkin, Pirelli und Volkswagen als Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse versteht. In seine Spots lässt er denn er auch - nach eigener Aussage - "Theorien über die Flimmerfrequenz der orgastischen Manschette des Menschen, Kniekehlenzucken und Enthemmung durch niederfrequente elektrische Ströme" einfließen, wie wir von Röller erfahren. "Zu deren Kenntnis gelangte er, der für die Fächer Kunstwissenschaft und Wirkungspsychologie eingeschrieben war, weil ihn die Gespräche mit Naturwissenschaftlern an der TH Aachen mehr reizten als die Vorträge in den Hörsälen."

Weitere Artikel: Jürgen Berger zieht eine nüchterne Bilanz des Theaterfestivals von Avignon: Lange Nächte mit Tschechow, noch längere mit Durell, kurzweilig allein die Weltmosaiken des Choreografen Josef Nadj. Magdalena Kröner berichtet von der Dortmunder Tagung "Blind Dates - Berichte von der Nachrichtenfront", die das Spannungsverhältnis von Krieg und Gewalt, deren mediale Verwertung und die Reflexion durch die Kunst untersuchte.

Besprechungen widmen sich der Retrospektive zu Lucian Freud in der Londoner Tate und Paul Simons Konzert in Berlin.

FR, 15.07.2002

Natan Sznaider berichtet von einem Besuch bei Holocaust-Forscher Raul Hilberg, den er für die israelische Zeitschrift "Theory and Criticism" interviewt hat. Zusammen mit diesem Gespräch werden zum ersten Mal überhaupt Auszüge aus Hilbergs Standardwerk "Die Vernichtung der europäischen Juden" in Israel erscheinen. Bisher lag er mit der israelischen Historikern und der Öffentlichkeit eher über Kreuz. Hilberg ist ein "Holocaustforscher, der in kein Muster passen will", schreibt Sznaider: "Finkelsteins Analyse der 'Holcaustindustrie' hält er für zutreffend, und für ihn sind die jüdischen Organisationen - in bester antisemitischer Tradition - schlimmer als Shylock selbst. Was die Politik betrifft, ist Hilberg ein stolzer Republikaner und bezeichnet sich als konservativ. In der israelischen Politik steht er auf Seiten der Rechten, hält Sharons Politik der Stärke für ein wichtiges Korrektiv gegenüber der jüdischen Ghettomentalität, die er verabscheut. Wieder und wieder kommt er darauf zurück, dass die Juden nicht genug Widerstand geleistet hätten. Andererseits ist Hilberg wegen seiner Analyse des bürokratischen Bösen bei der Linken beliebt, in Israel wie in Deutschland."

Besprochen werden Garcia Lorcas Stück "Yerma" im Stuttgarter Staatstheater Stuttgart, die restauerierte Fassung des Altamont-Films "Gimme Shelter" und politische Bücher, darunter Gore Vidals "Ewiger Krieg für ewigen Frieden" und der Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 15.07.2002

Der Zürcher Philosoph Georg Kohler plädiert in einem längeren Essay für die Wiedereinführung der Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur, weil die Massenkultur allein nicht demokratisch sei: "Denn das politische Prinzip der Demokratie, die Mehrheitsentscheidung, produziert lediglich dann nicht einfach die Diktatur der vielen über die wenigen, wenn sie verknüpft ist mit liberalen und sozialen Ansprüchen, die den Einzelnen bedingungslos zustehen. Ob diese der Mehrheitspartei passen oder nicht, spielt keine Rolle. Demokratie, soll sie nicht zur Pöbelherrschaft werden, braucht limitierende Mächte, indiskutable, grundlegende Werte und Wertbezüge; Orientierungen, die selber nicht mehr aus dem Mehrheitsprinzip zu rechtfertigen sind."

Weiteres: Ekkehard Kraft beobachtet die Rückkehr der alten, von den Kommunisten einst abgeschafften Staatssymbole in Osteuropa - darunter etwa der Doppeladler, ein " uraltes, schillerndes Motiv". Marc Zitzmann berichtet vom Theaterfestival in Avignon. Martina Sabra liefert eine Reportage aus Amman, der diesjährigen Kulturhauptstadt des arabischen Raums. Paul Jandl erzählt von Plänen des Wiener Museums für angewandte Kunst, einen ehemaligen Gefechtsturm der Nazis zu einem Museum moderner Kunst umzuwandeln. Jürgen Tietz begrüßt die Restaurierung der westlichen Pensionshäuser von Heinrich Tessenow in Dresden-Hellerau. Besprochen wird Verdis "Rigoletto" in Zürich.

FAZ, 15.07.2002

In den USA wird über das neue Rom diskutiert, schreibt Heinrich Wefing: Nie war eine Macht so überlegen wie die USA. "Zur militärischen Omnipotenz kommt die ökonomische Dominanz. Amerikas Wirtschaft ist doppelt so stark wie die des schärfsten Konkurrenten Japan, und der Bundesstaat Kalifornien allein erwirtschaftet ein Bruttosozialprodukt, das größer ist als das von Frankreich und nur wenig kleiner als das britische. Technologisch können die Vereinigten Staaten mit jedem denkbaren Rivalen mithalten, fünfundsiebzig Prozent aller Nobelpreisträger leben und lehren in Amerika, die zehn besten Universitäten dort haben alle anderen Hochschulen der Welt hinter sich gelassen, und der weltweite Einfluss der amerikanischen Kulturindustrien ist so groß, dass dagegen alle Interkontinentalraketen, Stealth-Bomber und Flugzeugträger wie Wasserpistolen wirken."

Über einen schweren politischen Konflikt zwischen Spanien und Marokko berichtet Paul Ingendaay. Die Marokkaner haben die Petersilieninsel besetzt, die allerdings so klein ist, dass sie auf keiner Landkarte verzeichnet ist: "Selbst Mitarbeiter des spanischen Außenministeriums gestehen öffentlich, dass sie von ihrer Existenz bis vor wenigen Tagen nichts wussten." Der Hintergrund ist trotzdem ernst: "So klein, leer und bedeutungslos sie ist, so bedenkenlos bürdet man der Petersilieninsel symbolischen Mehrwert auf. Denn die marokkanische Besetzung erfolgte just in den Tagen, als Großbritannien erklärte, es halte eine mit Spanien geteilte Souveränität über Gibraltar für denkbar. Wenn aber in diesem Fall die Unverletzlichkeit des Territoriums auf der Iberischen Halbinsel schrittweise wieder ins Recht gesetzt würde, so das marokkanische Argument, welchen Grund könnte es dann noch geben, den Anachronismus spanischer Besitzungen in Nordafrika aufrechtzuerhalten?"

Weiteres: Anonym resümiert die FAZ eine Münchner Diskussionsrunde zu Martin Walser Roman "Tod eines Kritikers", in der selbstverständlich alle Teilnehmer auf Seiten der FAZ waren, selbst Arno Widmann, der das Buch in einem von der FAZ ebenfalls anonymisierten Online-Magazin verteidigte. Patrick Bahners schreibt zum Tod des Fotografen Yousuf Karsh (der unter anderem für sein Churchill-Porträt berühmt wurde). "vL." schreibt zum Tod des litauischen Dichters Bernardas Brazdzionis. Gerhard Rohde schreibt eine kleine Bilanz des Feistivals von Aix. Ulf von Rauchhaupt hat ein Treffen von Astrobiologen, die ein extraterrestrisches Leben suchen, im australischen Hamilton Island besucht. Rose-Maria Gropp resümiert einen Vortrag von Friedrich Kittler über den "Iconic Turn", die Wende zum Bild in der westlichen Kultur. Joseph Croitoru wirft einen Blick in osteuropäische Zeitschriften, die sich mit dem Verlagswesen im Kommunismus und Ciorans und Eliades Flirt mit den Faschisten befassen.

Auf der letzten Seite proträtiert Markus Reiter den DJ Sven Väth, der mit der Love Parade nichts mehr am Hut hat. Dietmar Polaczek beschäftigt sich mit der Geschichte der Juden in Italien. Und Christoph Albrecht liest Bilanzen, die von der Firma Arthur Andersen geprüft wurden und "wie Märchen" anmuten. Auf der Medienseite bespricht Lorenz Jäger eine Dokumentation über Journalisten in der Nazizeit, die heute in der ARD läuft. Und Gina Thomas hat sich einen aufwendigen Fernsehfilm der BBC über Winston Churchill angesehen.

Besprochen werden die Uraufführung von Kerstin Spechts Stück "Das goldene Kind" in München, David Bowies Deutschlandkonzert in Köln und die Ausstellung "Quasi Centrum Europae - Europa kauft in Nürnberg" im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.