Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.02.2003. In  der FAZ vergleicht der Historiker Jeffrey Herf unseren Kanzler mit dem Appeasement-Politiker Neville Chamberlain. Die SZ wundert sich über die erlahmte Streitsucht der deutschen Intellektuellen. Die FR weiht uns in das Geschäft des "Krisenherd-Tourismus" ein. Die NZZ erinnert an die unrühmliche Rolle des Wiener Dorotheums beim Verkauf geraubter Kunst. Die taz hat sich ein "groteskes Nichtgespräch" zwischen Adorno und Canetti noch mal angehört.

FAZ, 11.02.2003

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf, Autor eines Buchs über den "reaktionären Modernismus" in der Weimarer Republik, vergleicht Gerhard Schröder mit dem Appeasement-Politiker Neville Chamberlain, der unter dem Vorwand, Hitler zu besänftigen 1938 die Tschechoslowakei opferte. Vor allem, so Herf, habe die deutsche Linke, die Fehler der Friedensbewegung in den achtziger Jahren nicht begriffen: "Angesichts der späteren Ereignisse... sollte man eigentlich erwarten, dass zumindest einige Gegner des Nato-Doppelbeschlusses von 1983 ihre alte Position überdacht und die Vorzüge der von den Vereinigten Staaten und ihren Nato-Verbündeten in den achtziger Jahren verfolgten harten Linie erkannt hätten. Doch in Deutschland und anderen europäischen Staaten schrieb man den Löwenanteil des Verdiensts an diesen wunderbaren Entwicklungen offenbar Michael Gorbatschow zu. Ohne die Nachrüstung aber wäre Deutschland heute höchstwahrscheinlich immer noch geteilt und die Sowjetunion wäre immer noch ein Problem." Zu einem ähnlichen Thema hatte Herf bereits in der Friedrich-Ebert-Stiftung gesprochen. Einen ausführlichen Essay Herfs über Islamismus und Totalitarismus finden wir in der Partisan Review.

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner war dabei, als Künstler, "so unterschiedlich wie Sonne, Mond und Erde", in der Turbinenhalle der neuen Tate Gallery in London zusammenwirkten und zu Anish Kapoors gigantischer Marsyas-Skulptur Arvo Pärts "LamenTate" uraufführten, während Peter Sellars mit einem Anti-Kriegs-Stück nach Artaud, "For an End to the Judgement of God", aufwartete. In einer Meldung erfahren wir zudem, dass auch Madonna "ein Anti-Kriegs-, und das heißt in diesen Zeiten: ein Anti-Bush-Video in Arbeit" hat. Michael Gassmann berichtet über nordrhein-westfälische Diskussionen zur Kirchenmusikausbildung. Joseph Hanimann durfte miterleben, wie Gerard Depardieu Tausende in die Pariser Kathedrale Notre Dame zog, wo er aus Augustinus' Bekenntnissen rezitierte. Heinrich Detering betrachtet die Bibelillustrationen der bereits mehrfach als Grafikerin hervorgetretenen dänischen Königin Margarethe II - sie werden zur Zeit in der Dänischen Zentralbibliothek in Flensburg ausgestellt. Christian Schwägerl betrachtet die gestrigen Demonstrationen des Mittelstands als Folge von Arnulf Barings in der FAZ ausgebrachten "Rufs auf die Barrikaden". "chal" freut sich über die Integration bedeutender Bibliothekskataloge in den "Aleph-Verbund".

Auf der Berlinale-Seite bespricht Andreas Kilb Filme von Stephen Daldry, George Clooney und Claude Chabrol. (Die Berlinale-Kolumne des Perlentauchers Ekkehard Knörer handelt nebenbei von den neuen Filmen Wolfgang Beckers und Isabel Coixets). Michael Althen interviewt Christian Petzold zu seinem Fernsehfilm "Toter Mann". Stefanie Peter bespricht zwei polnische Forumsfilme. Und Bert Rebhandl hat einen rüstigen Dustin Hoffman im Berliner Club 90 Grad tanzen sehen.

Auf der letzten Seite erinnert Wolfgang Pehnt an den slowenischen Architekten Joze Plecnik (Bilder), der vor allem in Ljubljana wirkte. Stefanie Peter berichtet über einen Plan zu einem Jüdischen Museum in Warschau, das den Beitrag der Juden zur polnischen Kultur würdigen soll. Dieter Bartetzko kommentiert den Fund einer großen Skulptur der ägyptischen Pharaonin Teje.

Auf der Medienseite beklagt der Schriftsteller Ilja Trojanow über einen Niedergang der seriösen Presse in Indien. Die ehrwürdige Times of India hat zudem folgendes, in Deutschland unbekanntes Problem: " Weil die Leserschaft der Zeitung nicht nur gebildet, sondern auch zahlungskräftig ist, fällt es der Times of India zunehmend schwer, redaktionelle Beiträge im Blatt unterzubringen. Anzeigen nehmen inzwischen mehr Platz ein als Artikel." Christian Geyer hat Donald Rumsfeld bei Sabine Christiansen gesehen ("Christiansen schien von dieser geschichtsphilosophischen Siegerstimme wie paralysiert.") Und Felicitas von Lovenberg begrüßt die "schicke" neue Büchersendung der ARD, "Druckfrisch".

Besprochen werden eine große Retrospektive des Reportagefotografen Alfonso Sanchez Garcia im Madrider Circulo de Bellas Artes, Günter Krämers Kölner Inszenierung von John Websters Drama "Die Herzogin von Malfi", John Osbornes Stück "Entertainer" in Karin Beiers Regie in Wien.

FR, 11.02.2003

Bisschen verwirrend heute, wegen Doppelungen mit der gestrigen Ausgabe, die wir aber beherzt ignorieren. Im garantiert neuen Aufmacher informiert Krystian Woznicki über "das globale Geschäft des Krisenherd-Tourismus". "Der Brite Geoff Hahn zum Beispiel ist der einzige Anbieter von Gruppen-Touren von London nach Bagdad - auch jetzt kann man die Kriegsvorbereitungen dort live erleben, 18 Tage für 1340 Pfund plus Flugticket nach Damaskus. (...) Einen Haken gibt es bei seinem Pauschalangebot nicht, doch ein Fragezeichen, das er mit einem Augenzwinkern serviert: 'Of course, I can't guarantee it'll be 100 % safe...'"

Auf der Berlinale hörte Holger Römers "düstere Tonlagen" und sah "existenzielle Horizonte" in den Wettbewerbsbeiträgen. Rüdiger Suchsland berichtet über die Reihe "Perspektive Deutsches Kino", die jetzt zum zweiten Mal dort läuft. Marcia Pally nimmt sich noch einmal die Bush-Tauglichkeit der amerikanischen Wettbewerbsfilme vor und ermuntert dazu "für Bush" zu sein, sowie "Emma Goldmans Schwur zu beherzigen": "Wenn ich nicht tanzen darf, komme ich nicht zu eurer Revolution." In der Kolumne Times mager schließlich setzt "schl" Schröders Glücklosigkeit in der Irak-Krieg-Beteiligungsfrage ins Verhältnis mit seinem Geschick während der Flutkatastrophe.

Besprochen und sehr gelobt wird Anne Tismers Spiel in der Inszenierung von Franz Xaver Kroetz' Stück "Wunschkonzert" an der Berliner Schaubühne.

TAZ, 11.02.2003

Im zweiten Teil ihrer Vorfeier-Serie zum 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno, den dieser am 11. September (!) dieses Jahres hätte feiern können, liefert heute der Publizist und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen, Reinhard Kahl, den monatlichen Beitrag (erster Teil am 11. Januar von Stephan Wackwitz, nächste Folge am 11. März usw.). Kahl erzählt in seinem Text über den "Buddha einer Generation" von einer NDR-Sendung aus dem Jahr 1962. Adorno sollte sich mit Elias Canetti über dessen Essay "Masse und Macht" unterhalten. Kahls Befund nach dem Abhören der Bänder: "Adorno, der in dieser Sendung der Fragende sein soll, scheint absolut wissend, produziert ungefragt Antworten allergrößter Reichweite, ist nicht neugierig auf Canettis Mythen- und Ethnologiefunde, nicht mal seine Irritation über Canettis eigenwillige Metaphorik lässt er sich anmerken. Ein groteskes Nichtgespräch."

Stefan Knoblich erklärt, warum der Verkauf einzelner Zigaretten in der Hauptstadt angeblich finanzpolizeilich verboten ist, wovon aber niemand was weiß, und wo sich gleichwohl "Oasen in der Berliner Servicewüste" finden lassen.

Besprechungen: Julia Grosse stellt die groß angelegte Fotodokumentation "Freedom" vor, die die Geschichte der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeichnet. Und in der Abteilung Politisches Buch werden eine Studie über die Wahrheit des Kriegs in Tschetschenien rezensiert, die Präsident Putin "gar nicht gefallen" dürfte, sowie ein bisher nur auf Englisch erschienenes Buch des ehemaligen Pentagon-Beraters Daniel Ellsberg, in dem er Parallelen in der US-Propaganda von Vietnam bis Irak konstatiert (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf den Berlinale-Seiten der taz geht es um die Wettbewerbsbeiträge von George Clooney und von Claude Chabrol. Es gibt ein Interview mit dem Regisseur Spike Jonze ("Adaptation"), und Diedrich Diedrichsen berichtet von einer Diskussionsveranstaltung mit Hanns Zischler, Tom Tykwer, Barbara Flückiger und Tom Y. Levin über die Bedeutung des Sounddesigns für den Film.

Einen schönen, geradezu klassischen Fehler korrigiert auch für Uneingeweihte und Nichtleser goutierbar schließlich die geradezu klassische Institution der "Berichtigung".

Und hier TOM.

NZZ, 11.02.2003

Stephan Templ erinnert an die Rolle des Wiener Dorotheums, eines Versteigerungshauses, das nach den Arisierungen jüdischer Konkurrenzinstitute eine große, wenig reflektierte Rolle als "Drehscheibe des Nazi-Raubkunsthandels" spielte: "Die Beamten konnten gar nicht Schritt halten mit den geplünderten Wohnungsinventaren - auch Schmuck und Juwelen der beraubten Juden versteigerte das Dorotheum -, so dass man die bedeutenden Wohnungseinrichtungen und Sammlungen gleich nach dem Hinauswurf der Juden an Ort und Stelle versteigerte."

Weitere Artikel: Andrea Köhler fragt angesichts des nahenden Krieges, wie politisch Lyrik sein kann und darf. In der Reihe mit "New Yorker Physiognomien" porträtiert Köhler außerdem, die "Nomadin". Christoph Egger sendet einen ersten Bericht von der Berlinale. Carole Gürtler berichtet, dass die Schweiz bei Konservierungsarbeiten in Angkor Wat hilft. In einer interessanten Rezension lotet der Verleger Rainer Moritz angesichts der großen neuen Werkausgabe aus, was von Heinrich Böll übrigbleiben wird.

Besprochen werden eine Ausstellungsreihe zu "200 Jahren Kunst im Tessin" in Lugano und zwei Romane israelischer Autorinnen (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Von Gabriele Cenefels wird das sehr hübsche Gedicht "mein sohn kauft brot" präsentiert:

"mein Sohn kauft Brot das sieht mich wie ein junger Igel an die noch weichen Stacheln mit Butter frisiert..."

SZ, 11.02.2003

Ijoma Mangold konstatiert eine "erlahmte Streitlust" der deutschen Intellektuellen, "wenn man zum Vergleich die deutschen Diskursgewitter heranzieht, die sich vor zwölf Jahren über der Irak-Frage entzündeten". Damals, so Mangold, "war die Debatte um den ersten Golfkrieg diskursstrategisch ein echtes Datum, das zugleich Lebensstil und Lifestyle neu codierte. Mit dem ersten Golfkrieg wurde für die Bundesrepublik mentalitätsgeschichtlich das Jahrzehnt der Härte eingeleitet, die ästhetische Verächtlichmachung von Weicheierei, der Generalangriff auf Betroffenheitsrhetorik und Gutmenschentum, die Umwertung der Angst, der der Status eines Menschenrechts entzogen wurde, der Abschied von der politischen Korrektheit und der Gesinnungsästhetik, von Idyllik und 'Trauer und Wut'". Die heute wieder erstarkte "pazifistische Kraftmeierei" richte die Welt dagegen so zu, "dass man entweder für den Krieg oder für den Frieden ist. Für Politik bleibt da kein Raum, die doch gerade nach Verantwortlichkeit, Angemessenheit, Einfluss und Mitgestaltung trachten sollte."

Alexander Kissler informiert über die Bemühungen von zwei katholischen US-Theologen, die den Papst mit Hilfe des Katechismus von der Notwenigkeit eines Kriegs gegen den Irak überzeugen wollen. "Weigel wie Novak beziehen sich auf den Paragraphen 2309 des katholischen Katechismus?. Dort ist festgehalten, dass 'die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die sittliche Erlaubtheit eines Verteidigungskrieges vorliegen, dem klugen Ermessen derer zukommt, die mit der Wahrung des Gemeinwohls betraut sind.' Folglich, so Novak, müssten nach zwölfjährigen erfolglosen Verhandlungen mit dem Irak nun die Regierungen entscheiden. Weigel hat in seiner wöchentlichen Kolumne 'Der katholische Unterschied' die selbe Position bezogen.

Weitere Artikel: Die Berlinale wird in zwei Texten bedacht: Susan Vahabzadeh sieht "Clooney und Streep erblühen - und auch Chabrols Blume des Bösen", und Hans Schifferle verfolgt das Panorama-Programm. Eva Marz berichtet von der Suche des Münchner Videofestivals nach der Wirklichkeit, und Alex Rühe kommentiert die Ehrengast-Rolle Deutschlands auf der nächsten kubanischen Buchmesse. Evelyn Rolls Kolumne Zwischenzeit über DVDs ist heute ausdrücklich "nicht geeignet für Kinobesitzer, Filmfundamentalisten, Berlinale Freaks und andere Kulturpessimisten", "jby" verhandelt das Ironiedefizit von PC-Spielen.

Besprechungen heute von einer Werkschau des schreibenden Malers Carlo Levi im Frankfurter Jüdischen Museum, die Uraufführung von Arvo Pärts "LamenTate" und Peter Sellars? Artaud- Paraphrase in der Tate Modern in London, Inszenierungen von Franz Xaver Kroetz? Theaterstück "Wunschkonzert?? an der Berliner Schaubühne, John Osbornes Stück "Der Entertainer" an der Wiener Burg, William Bolcoms Oper "A View from the Bridge" am Theater Hagen und eines "Schwanensee" beim Festival Tanz-Winter in Berlin, der in der irakischen Wüste spielt.

Und viele Buchrezensionen, darunter ein Band zur Ethik Ludwig Wittgensteins, die Neuedition des Romans "The Monk" vom "König aller Splatter-Movies", Matthew Lewis, ein Elaborat über die Sommerflut von Jörg Kachelmann, eine Studie über "Konjunkturen des Rassismus", eine Hör-CD von Wei Huis "Shanghai Baby" und eine Monografie mit Werkkatalog des Begründers der altniederländischen Malerei, Robert Campin (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).