Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2003. Die Feuilletons würdigen heute den verstorbenen Schriftsteller Alexandar Tisma. In der SZ bekennt Umberto Eco, sein Recht auf Widerspruch 1945 von den Amerikanern gelernt zu haben. In der FR unterstellt der Friedensforscher Hans-Eckehard Bahr den Amerikanern schwarze Pädagogik. In der FAZ schildert der Schriftsteller Sherko Fatah die neue Zuversicht der Kurden im Irak. Die taz betrachtet Algerien durch Pierre Bourdieus Soziologenaugen. Die NZZ besucht Teichmolche und Huchen in Sankt Pölten.

FAZ, 18.02.2003

Die Mitte des FAZ-Feuilletons im Netz blieb heute leer. Darum können wir nicht alle Artikel verlinken.

Der Berliner Schriftsteller Sherko Fatah hat mit seinem Vater telefoniert, der im irakisch-kurdischen Sulaimania lebt, um zu erfahren, ob man dort den Krieg fürchtet "oder auch nur die Reaktion des Regimes in Bagdad darauf? Nichts davon: gespannte Erwartung allerseits, vielleicht Nervosität, aber auch Zuversicht. Man sagt mir, noch nie sei die Chance für einen Sturz des Regimes so groß gewesen wie jetzt und noch nie seien sich 'Assyrer, Chaldäer, Turkmenen - einfach alle' so einig gewesen in der Einschätzung der Lage. Es wimmle dort von Reportern aus der ganzen Welt, und alle seien wie besessen auf der Suche nach der Bedrohung. Dass die Kurden und mit ihnen alle Menschen im Irak unter dieser Bedrohung seit Jahrzehnten lebten, spiele für die Journalisten kaum eine Rolle. Dabei könne man selbst den Truppen des irakischen Regimes, die inzwischen an der Grenze zu Kurdistan Stellung bezogen haben, ihre Schwäche im Vergleich zu früheren Jahren ansehen. Nur noch zur Verteidigung seien sie da, nicht mehr zum Angriff. Zum erstenmal seit etlichen Jahren, fällt mir auf, scheint nicht einmal mehr die Rache des Regimes Grund zu größerer Besorgnis zu sein."

Gerhard R. Koch ist begeistert von Monteverdis "Poppea", die Karoline Gruber in Hamburg inszeniert hat. Besonders angetan hat es ihm Jacek Laszczkowski als Nero, ein "sexistischer Irrwisch, pubertär verspielt und grausam, fies, manchmal erinnert er an Klaus Kinski, und doch nicht nur ein Monster. Außerdem verfügt er, eigentliche Sensation des Abends, über einen Countertenor von ausgesprochener Sopran-Qualität, so gelenkig wie durchdringend."

Weitere Artikel: Tilman Spreckelsen schreibt zum Tod des serbischen Schriftstellers Alexandar Tisma. Henning Ritter gratuliert dem Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis zum Achtzigsten. Dietmar Dath gratuliert Yoko Ono zum Siebzigsten.

Auf der letzten Seite schildert Mark Siemons, wie der Berliner "Club der polnischen Versager" der Ironiefalle zu entkommen versucht. Axel Michaels beobachtet, dass Gandhi in Indien keine besondere Wertschätzung mehr genießt. "Gefeiert werden heute die Märtyrer von Kargil, die im Mai 1999 in einer großangelegten Bodenoffensive gegen pakistanische Rebellen ihr Leben ließen. Allerorts gefeiert wird der militant-heroische Gott Rama." Und Dietmar Polaczek porträtiert den Chirurgen Gino Strada (mehr hier), der in Afghanistan Wunder vollbringt. Passend dazu widmet sich Wolfgang Schneider auf der Bücher- und Themen-Seite dem letzten Helden des historischen Romans: dem Arzt. Und Robert von Lucius berichtet über die positiven Folgen der letzten Frankfurter Buchmesse für das Gastland Litauen.

Besprochen werden die Aufführung von Fritz Katers "Sterne über Mansfeld" im Schauspiel Leipzig, Gore Verbinskys Remake des japanischen Horrorfilms "The Ring", die Ausstellung "science + fiction" im Sprengel Museum Hannover, ein "Feuervogel" mit dem Ballett Mainz und Bücher, darunter die Neuübersetzung von de Sades "Justine und Juliette" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.02.2003

Ein bisschen widersprüchlich findet Katharina Voss eine Ausstellung mit Fotografien, die Pierre Bourdieu (mehr hier) zwischen 1958 und 1961 während seines Algerienaufenthalts aufnahm und die nun im Pariser Institut du Monde Arabe gezeigt werden. So habe sich eben auch Bourdieu "die Soziologenaugen nicht ausstechen" können, "mit denen man die armen und sowieso so anderen 'Algerier' betrachtet. Es ist ein Kreuz!" In seinem Buch über den sozialen Gebrauch der Fotografie habe Bourdieu "die Fotografie als die am strengsten geregelte Kunstform bezeichnet", als ein "Ideogramm", deren "rein symbolische Motivwahl" so wichtig sei, weil "nur so ein langfristiger, ernsthafter symbolischer und ästhetischer Wert verbürgt" sei. "Die Fotografie, das sei das, woraus das Leben verschwinden müsse. (...) Bourdieu meinte eigentlich eher die Männer, die ihre frisch gebackene Angetraute auf der Hochzeitsreise in Paris vor dem Eiffelturm fotografieren. Aber vielleicht ist ein auch noch so reflektierter Sozialwissenschaftler diesen Gefahren der Fotografie ausgesetzt, vielleicht ist das hier aber auch eine Sache der Amateurhaftigkeit. Letzte Fragen: Wie kann man Armut daran hindern, auf Fotos pittoresk zu sein? Was macht man, wenn die Wirklichkeit wie ein Klischee aussieht?"

Weitere Artikel: Benno Schirrmeister informiert über den neuesten Stand in Sachen Grosz-Erben gegen Bremer Kunsthalle; erstere verlangen von letzterer die Rückgabe von zwei Grosz-Gemälden, in der Auseinandersetzung zeigt sich das Museum indes außerordentlich hartleibig. Heiko Hänsel würdigt den verstorbenen serbischen Schriftsteller Aleksandar Tisma (mehr hier).

Besprochen werden ansonsten Bücher, darunter neue Romane von Yann Martel (hier) und Doja Hacker (hier), etliche Kinderbücher, eine Untersuchung über Ordnungssysteme in der Natur und eine Studie über "Deutschland armes Kinderland".

Und hier TOM.

NZZ, 18.02.2003

Paul Jandl berichtet aus Sankt Pölten, wie Niederösterreich sich eine Landeshauptstadt baut. "In Niederösterreich herrscht noch Eintracht zwischen Kunst und Natur. Teichmolch und Huchen vertragen sich mit Hermann Nitschs Schüttbild, lebensgroße kämpfende Hirsche teilen sich das Reservat ihrer endgültigen Bestimmung mit Egon Schiele."

Andreas Breitenstein schreibt zum Tod des großen Alexandar Tisma, der am Sonntag in Novi Sad gestorben ist: "Muss man sich Hiob als glücklichen Menschen vorstellen? Es erging einem mit Aleksandar Tisma ähnlich wie mit Imre Kertesz: Wer den älteren Herrn kennen lernte, dem blieb die Irritation, seine Liebenswürdigkeit mit der Unerbittlichkeit zusammenzubringen, die in seinen Schriften waltet."

Weitere Artikel. Manuel Gogos hat den christlichen Ashram Shantivanam in Südindien besucht und rühmt den Versuch, "die 'profunde indische Gotteserfahrung'" in den christlichen Glauben einzubringen. Besprochen werden die Ausstellung "Future Cinema" im Karlsruher ZKM, Monteverdis "Poppea" in Hamburg und Bücher, darunter Martin R. Deans Roman "Meine Väter", "Das ewige Leben", der neue Krimi von Wolf Haas, und Zikmund Winters Historienbild "Magister Kampanus" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 18.02.2003

Zum Thema Amerika und Irak gibt es heute zwei Texte: Der Bochumer Theologe und Friedensforscher Hans-Eckehard Bahr denkt über "religiöse Motive amerikanischer Machtpolitik" nach. "Die Vorstellung, man könne Andersdenkende dazu bringen, ihre Meinung aufzugeben, indem man ihnen Schmerzen zufügt, man denke in diesem Zusammenhang auch an die rigorose Strafjustiz auf Guantanamo Bay - diese Art der schwarzen Pädagogik hat viel zu tun mit der Kreuzzugs-Tradition des westlichen Christentums. Neuartig an ihr aber ist, dass sich in ihr der eher national oder isolationistisch orientierte Religionstyp mit seinem Widerpart vermischt." Er trete auch hier "zwar in Erscheinung", mache jedoch, "was die nun global ausgedehnte Sendung angeht, der Form nach einige universalistische Anleihen" bei einem zweiten Religionstyp. "Wir haben es also mit einer brisanten - und nicht ganz lauteren - Mischung zu tun. Das hat weit reichende Folgen."

Und Michael Rutschky führt zum besseren Verständnis des Texaners Bush in einer kleinen Genrekunde in die Figur des Cowboys ein. Er erklärt ausführlich, inwiefern der Vergleich mit George W. Bush eigentlich hinkt - und warum er schließlich doch funktioniert: "Was allerdings den 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten angeht, (...) traut man ihm in der Tat zu, dass er nach getaner Arbeit in den Sonnenuntergang reitet und die Welt sich selbst überlässt."

Weitere Artikel: Franz Anton Cramer feiert eineinhalb Jahre nach seiner Gründung das Tanzquartier Wien als neuen Ort der Avantgarde, und in der Kolumne Times mager wundert sich "elb" über den Erfolg der russischen Girlgroup t.A.T.u., die "auf dem Lolita-Ticket reist", und deren Video laut britischer Medien angeblich "die lesbische Liebe unter Minderjährigen" fördere und auch "Pädophilen gefallen" könnte. (Ist das nicht genau das, was britische Medien lieben?)

Besprochen werden eine Retrospektive zum Werk der Medienkünstlerin Valie Export (mehr hier) an der Berliner Akademie der Künste, die Uraufführung von Lars Norens Stück "Kalt" beim Lütticher Festival, ein Museumskonzertabend in der Alten Oper Frankfurt mit Beethoven, Schumann und Prokofjew, die deutsche Erstaufführung von Karlheinz Stockhausens (mehr hier) Komposition "Hoch-Zeiten" in Köln sowie eine bisher nur auf italienisch erschienene sozialgeschichtliche Studie zur Resistenza.

SZ, 18.02.2003

Viel zu lesen heute. In einem Artikel, der vor allem mit dem Beispiel des Zweiten Weltkriegs argumentiert, pocht Umberto Eco (mehr hier) auf das europäische "Recht auf Widerspruch" gegen einen Irakkrieg. Er hält "die Titelseite einer amerikanischen Tageszeitung für unangebracht, die ein Foto eines Friedhofs von guten Yankees zeigt, die für die Befreiung Frankreichs gefallen waren - mit dem Hinweis, Frankreich habe heute vergessen, in welcher Schuld es stehe. Frankreich, Deutschland und all diejenigen, die einen Krieg gegen den Irak für verfrüht halten, verweigern den Amerikanern nicht die Solidarität in einem Augenblick, in dem diese gleichsam vom internationalen Terrorismus eingekreist sind. Sie behaupten nur, dass ein Angriff auf den Irak den Terrorismus nicht besiegen, sondern möglicherweise nur noch stärken und ihm viele Anhänger in die Arme treiben würde." Eco endet mit der Einschätzung: "Die Amerikaner sollten nicht einen Verrat von uns wittern, sondern unseren offen geäußerten Einspruch wahrnehmen. Anderenfalls wäre das die Unterdrückung des Rechts auf Widerspruch. Und das wäre genau das Gegenteil dessen, was die Befreier von 1945 uns Jungen von damals nach Jahren der Diktatur beigebracht haben."

In einem Interview erläutert der amerikanische Essayist und politische Beobachter Robert Kagan die in seinem Aufsatz "Macht und Ohnmacht" entwickelte Kritik an Europas "Egoismus". Der "größte Unterschied zwischen Europäern und Amerikanern" liegt für ihn "in ihrer Beurteilung, an welchem Punkt sich die Entwicklung der Menschheit zwischen den Gesetzen des Dschungels und den Gesetzen der Vernunft gerade befindet. Einer der Gründe, warum wir das so unterschiedlich beurteilen, ist, dass Europa der Realisierung dieses Paradieses innerhalb der europäischen Grenzen sehr nahegekommen ist. Die Frage ist nur, ob sich das auch auf globaler Ebene realisieren lässt. Die Europäer scheinen zu glauben, mit Saddam Hussein könne man genauso umgehen wie mit anderen Europäern. Ich halte das für sehr naiv."

Weiteres: In der SZ übernimmt Gustav Seibt die Würdigung des verstorbenen Schriftstellers Alksandar Tisma ("Seit langem hatte er aufgehört zu schreiben, nur ein sporadisches Tagebuch werden wir von ihm noch lesen, und wir werden wissen, dass es aufrichtig ist.") Gratulationen ereilen Yoko Ono zum Siebzigsten (hier) und den Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis zum Achtzigsten (hier). Fritz Göttler kommentiert Besonderheiten des britischen Schulwesens, wonach die Hitlerisierung sehr gut, die englische Thronfolge dagegen mangelhaft gelehrt wird. Claus Heinrich Meyer untersucht in der Kolumne Zwischenzeit die Konjunktur des Themas "Luftkrieg".

Auf der Medienseite informiert Christian Seidl durchaus unterhaltsam über eine Münchner Veranstaltung, auf der das Grimme-Institut, mehr oder weniger paragraphenfeste Jugendschützer, taz-Chefredakteurin Bascha Mika und ein erstaunlich argumentfreier MTV-Programmchef (jawohl, perlentaucher war auch dabei und hat's genau gehört) über die verderbliche Wirkung der "Jugendkult"-Sendung "Jackass" (hier und hier) debattierten.

Besprechungen lesen wir zu einer Inszenierung von Claudio Monteverdis "L?Incoronazione di Poppea" an der Hamburgischen Staatsoper, Ingrid Lausunds "Zauberabend" am Schauspielhaus Hamburg und einem quasi archäologischen Tanztheaterabend im Berliner Hebbel-Theater. Außerdem werden Bücher rezensiert, darunter ein neuer Roman von Thomas Raab, ein Band über politische Netzwerke durch Briefe nebst der Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich Engels, eine Analyse "deutscher Zustände" und eine Auswahl von Werken des Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim (mehr hier) (siehe auch unsrer Bücherschau ab 14 Uhr).