Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2003. In der taz tröstet Richard Rorty: Imperien sind nicht an sich schlecht. Die FAZ ruft Peter Brook zu: "C'est tres Kitsch!" Was aber nicht für seine neueste Inszenierung gilt. In der SZ besingt Richard Swartz das zögernde europäische Licht. In der FR entlarvt Jose Saramago die Politik als Büttel der Wirtschaft. In der NZZ verteidigt Karl Otto Hondrich den Krieg.

TAZ, 22.03.2003

Der amerikanische Philosoph Richard Rorty (Bücher) vermutet im Interview auf der Tagesthemenseite, dass die europäisch-amerikanische Spaltung nicht ewig andauern wird. "Imperien als solche sind niemals gut oder schlecht per se. Das galt schon für das der Römer. Es ist ein Instrument, das für positive oder auch für negative Zwecke verwendet werden kann. Es gab einen großen Unterschied zwischen Marcus Aurelius und Commodus, und es gibt einen großen Unterschied zwischen Bill Clinton und George W. Bush." Rorty hofft auf einen zukünftigen Präsidenten a la Al Gore. "Ein solcher Präsident könnte dann den Irakkrieg durchaus als Verirrung behandeln, als eine Art Wahn, aus dem das Land gesundet hervorgeht."

Weiteres: Gleich drei taz-Reporter schreiben von der Leipziger Buchmesse, über die unerwartet routinierte Verleihung des Bücherpreises sowie seine zukünftige Bedeutung. Selim Nassib vergleicht auch heute wieder die TV-Berichterstattung auf arabischer und westlicher Seite.

Eine einsame Besprechung ist der Ausstellung mit Franz Ackermanns Zeichnungen zum "Naherholungsgebiet" im Kunstmuseum Wolfsburg gewidmet.

Auf der Medienseite hat Arno Frank die Gegenöffentlichkeit entdeckt, und zwar ausgerechnet bei MTV, wo Friedensdemonstrationen en masse und ein von Michael Moore produzierter Videoclip für die friedensbewegte Nu-Metal Band System of a Down sehen sind.

Im tazmag weist Anita Blasberg umfassend auf eine unsichtbare Wunde hin, die viele Soldaten aus dem Kampf mitbringen: die posttraumatische Belastungsstörung (Symptome und Hilfe hier). Blasberg porträtiert Roy Smits, der als Blauhelmsoldat im Libanon war. "Einmal war Smits mit einem Kameraden zu Fuß unterwegs, als sie plötzlich beschossen wurden. Es habe zwei Möglichkeiten gegeben, sagt er: sich flach hinlegen oder in den Graben springen, der mit großer Wahrscheinlichkeit vermint war. Smits sprang in den Graben, sein Freund blieb stehen und schrie nach seiner Mutter. 'Durch so etwas wirst du edgy', sagt Smits, 'unberechenbar, verrückt'."

Außerdem: Catharina Retzke beleuchtet das neue Jugendschutzgesetz (europäische Regelungen hier), das bald in Kraft tritt. Ralf Sotschek porträtiert den 95 jährigen Fermin Rocker, ein Anarchistenkind, Exilant und Zeichner, der erst als Pensionär werden konnte, was er immer sein wollte: ein Maler (Infos über Ausstellungen und Bilder hier). Klaus Hillenbrand widmet sich in einem dem Thema entsprechenden langen Artikel dem Limes, der 550 Kilometer lange Schutzwall der Römer, der zum Weltkulturerbe (hier die 730 anderen) erklärt werden soll (Verzeichnis der Limes-Museen hier). Reinhard Wolf berichtet von den Querelen um den ersten norwegischen Buchclub, der ausschließlich homosexuelle Literatur fördern will (mehr zur Homo-Literaturszene in Norwegen hier).

Und schließlich Tom.

SZ, 22.03.2003

Um den Krieg kommt man nicht herum im SZ-Feuilleton: Holger Liebs beäugt die ersten Bilder der 'eingebetteten' Fernsehjournalisten und findet, dass der Krieg anschaulicher, aber auch harmloser wird, wie ein großes Spiel. Zitat von CNN-Kriegsberichterstatter Walter Rodgers an Bord eines M1A1-Abrams-Panzers vom Squad 3 der siebten US-Kavallerie Richtung Bagdad: "Da hinten kann man eine Herde Ziegen sehen. Es ist einfach überwältigend, wie diese riesigen bewaffneten Einheiten - fahrt ?mal langsamer, Jungs - an Beduinencamps vorbeiziehen. So ein großes Kamel haben die noch nie gesehen." Jörg Häntzschel liefert uns ein kleines Glossar des schönredenden "Pentagonspeak", damit wir wissen, was "Decapitation strike", ein MOAB oder "going kinetic" eigentlich bedeutet. Ira Mazzoni beruhigt hingegen all jene, die sich Sorgen um die archäologischen Stätten des Iraks gemacht haben: "Die haben tausende Jahre überstanden und werden wohl auch diesen Krieg überleben".

Weitere Artikel: Dorothea Hölscher-Lohmeyer kommentiert in der Reihe Briefe aus dem 20. Jahrhundert ein Schreiben von Max Kommerell an Else Eichler aus dem Jahre 1943. Fritz Göttler und Susan Vahabzadeh prohezeien weitsichtig, dass die Oscar-Verleihung vom Krieg überschattet sein wird, denn Aki Kaurismäki und Kollegen sind nicht in Feierlaune. Gemeldet wird, dass Günter Grass den USA vorgeworfen hat, das "Unrecht des Stärkeren" zu praktizieren.

Auf der Medienseite wird nach dem Recht auf Unterhaltung in Zeiten des Krieges gefragt. Nils Kreimeier und Claudia Tieschky schildern die unterschiedlichen Positionen bei Öffentlich-Rechtlichen und Privaten. Tobias Kniebe gibt den Stars einige Regeln für ihre Oscar-Rede mit auf den Weg.

Auf der Literaturseite porträtiert Kristina Maidt-Zinke den belgischen Schriftsteller Hugo Claus, (Dokumentationszentrum, Bücher) der heute den Buchpreis für europäische Verständigung erhält. "ijo" fragt, was für den Bücherpreis in Leipzig spricht. "Imue" hat in Leipzig der erhobenen Stimme der Lyrik gelauscht.

Besprochen werden Peter Brooks erste und gleich triumphale Inszenierung in deutscher Sprache, Becketts "Glückliche Tage" in Basel, eine Werkschau des "Brücke"-Malers Otto Mueller in der Hypo-Kunsthalle München, ein Klavierabend mit Marc-Andre Hamelin ebenfalls in München, György Kurtags Meisterwerk "Stele", gespielt von Peter Eötvös und den Münchner Philharmonikern, und Bücher, darunter zwei neue Studien zur Ethik sowie zwei Bände über den Lyriker und Erzähler Jochen Klepper (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auch die SZ am Wochenende macht mit dem Krieg auf: Kurt Kister kündigt in diesen Zeiten der asymmetrischen Kriegführung die Rückkehr des Einzelkämpfers an, der "unrasierte rogue warrior" a la Mad Max. Vorläufer gab es schon im ersten Weltkrieg. "Deutsche, Engländer und Franzosen bildeten Stoßtrupps aus, trench raiders, die zumeist nachts in kleinen Gruppen Überfälle auf das feindliche Grabensystem ausführten. Neben Pistolen und Handgranaten trugen sie Dolche, eisenummantelte Keulen, ja sogar Morgensterne. Unter dem Bellen der Maschinengewehre und dem Grollen der Ferngeschütze kam der Kampf Achilles gegen Hektor, Reisige gegen Raubritter zurück."

Der schwedische Autor Richard Swartz (Buch) macht sich wunderschöne Gedanken über das Licht und vergleicht das europäische mit demjenigen anderswo auf der Welt. "Unser europäisches Licht ist außerdem nicht besonders stark. Es kann sich an Stärke nicht mit dem Afrikanischen, Südamerikanischen oder Asiatischen messen. Brennen tut es nur in Ausnahmefällen. Dieses ziemlich schwache, zögernde Licht, das sich gleichsam vorsichtig forschend umsieht, ist weit mehr mit der Erde verbunden als mit dem Himmel. Das ist ein entscheidender Unterschied. Es bedeutet außerdem: ein Licht, das mehr mit dem Vordergrund verbunden ist als mit dem Hintergrund. Weit mehr als die Schriftsteller sind ja die Maler auf das Licht angewiesen, und in der europäischen Bildkunst lässt sich immer etwas im Vordergrund finden, was das Interesse der Künstler auf sich gezogen hat, während der Hintergrund meist in Dunkelheit gehüllt ist, in dunkle, gedämpfte Farben, oder sich mit ein paar einfachen Pinselstrichen begnügen muss. Caravaggio ist indessen eine Ausnahme."

Außerdem: Gerhard Waldherr berichtet aus der Halbwelt der Sweatshops in Chinatown, wo Tausende illegal eingereister und unterbezahlter Asiaten Kleider für New Yorks Laufstege und Boutiquen fertigen. Marc Hujer stellt uns Tom Ridge vor, Leiter des neu eingerichteten amerikanischen Superministeriums für Heimatschutz und Erfinder der fünffarbigen Terrorwarnskala. Alexander Gorkow wollte mit dem Schauspieler Jürgen Schornagel eigentlich über Nazis reden, herausgekommen ist ein hinreißendes Gespräch über Mietwohnungen.

FR, 22.03.2003

Im Interview spricht der portugiesische Literaturnobelpreistärger Jose Saramago (mehr) über den Krieg im Irak und die Ordnung der Welt. "Es gibt viele Theorien, Ideen zu einer neuen Weltordnung und zur Globalisierung. Eine neue Weltordnung könnte durch ein Mehr an Demokratie entstehen. Genau das ist aber mit unseren gegenwärtigen Regierungen eher unwahrscheinlich. Denn unsere Regierungen sind, salopp ausgedrückt, die politischen Kommissare der Wirtschaftsmächte. Und die lernen schnell. Heute wird beispielsweise viel weniger als noch vor einigen Jahren von Globalisierung geredet. Der Begriff ist negativ besetzt, weil er zwei erkennbare Gesichter hat: Das eine ist die wirtschaftliche Dominanz der USA, das andere die schleichenden Militarisierung der Welt zur Sicherung dieser Dominanz. Wie viele Hunderttausende von Soldaten stehen für die USA auf der ganzen Welt?"

Roberto Benigni (mehr) klärt uns im Magazingespräch über die Größe der Kinder und die Verluste beim Erwachsenwerden auf. "Alle großen Poeten dieser Welt, Schiller, Leopardi, Jesus, sie waren nicht wütend, weil die Menschen schlecht oder böse gewesen sind. Sie zürnten, weil die Menschen nicht fähig sind, die Schönheit der Welt zu sehen. Wir gewöhnen uns daran, wir verhätscheln uns, wir langweilen uns, das ist unser größtes Laster. Aber Kinder sehen diese Schönheiten." Und er rechtfertigt seinen Pakt mit Berlusconi. "Wenn ich Teil des Systems wäre, hätte ich erstens Werbung für meinen Film gemacht. Habe ich aber nicht. Zweitens hätte ich meinen Film nicht nur von Berlusconi verleihen lassen, was ist das schon, ein Verleih, nein, ich hätte ihn doch von ihm produzieren lassen können. Ich habe Pinocchio (mehr) aber ganz auf meine eigenen Kosten produzieren lassen. Und drittens: Die Kinos gehören alle Berlusconi. Soll ich also meinen Film gar nicht zeigen dürfen?"

In Zeit und Bild macht Niels Werber die ältere deutsche Literatur für unseren latenten Anti-Amerikanismus verantwortlich. Und Navid Kermani (mehr) klärt uns im Abdruck einer Passage seines neuesten Buches über die zeitgenössische Wirklichkeit im Iran auf.

Weiteres: Jochen Stöckmann freut sich auf "Phaeno" von Zaha Hadid (ihre Site) in Wolfsburg. Das Science Center soll der "Autostadt" von VW endlich Paroli bieten. Renee Zucker macht sich der Präsidentenbeleidigung schuldig, bei der letzten Fernsehrede von Bush jr. jedenfalls hat sie in seinen Nagetieraugenaugen "vergeblich nach einem Anzeichen von Intelligenz" gesucht. Ernst Piper erinnert an das Ermächtigungsgesetz, eingeführt vor 70 Jahren. Gemeldet wird, dass die Fusion der Kulturstiftungen von Bund und Ländern nahezu beschlossen ist und dass Ian McEwan und Doris Dörrie den Deutschen Bücherpreis bekommen haben.

Auf der Medienseite hat Bernhard Honnigfort das nordthüringische Doku-Soap-Städtchen Artern besucht, wo die Erwartungen an Endemol und seine "Stadt der Träume" wohl etwas zu groß waren.

Im Magazin lesen wir Kriegsbetrachtungen von Gerhard Kromschröder, der 1991 Reporter und Nahost-Korrespondent des Stern war. Ihm war es als einzigem deutschen Printjournalisten gelungen, in den Irak einzureisen. Außerdem gibt es einen kurzen Auszug aus Ildiko von Kürthys Roman "Freizeichen". Erdmann Braschos schwärmt von fünf Dörfern an der Steilküste Liguriens, aus denen niemand mehr weg will: Cinque Terre.

Besprochen werden Stephan Kimmigs Inszenierung von Arthur Schnitzlers "Komödie der Verführung" am Deutschen Theater in Berlin, Rabah Ameur-Zaimeches Debutfilm "Wesh wesh, qu'est-ce qui se passe?", und Bücher, darunter Wilhelm Genazinos Erzählung "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman" und Doug Aitkens audiovisueller Band "A-Z Book (Fractals)" (mehr in unserer Bücherschau sonntags ab 14 Uhr).

NZZ, 22.03.2003

In der Beilage Literatur und Kunst erklärt der Soziologe Karl Otto Hondrich (mehr hier), warum die USA den Krieg gegen den Irak führen müssen: "Denn Ordnung und Freiheit stellen sich nicht einfach her durch Gleichverteilung, sondern durch Unterdrückung von Gewalt durch noch größere Gewalt." Die Europäer mögen sich für besonders tolerant halten, "aber prüfen wir selbst: Wenn Gleichberechtigung der Geschlechter, Freiheit der Religion und der Rede, demokratische Kontrolle der Macht ernstlich angegriffen würden - würden wir uns nicht mit aller Gewalt zur Wehr setzen? Nur weil wir uns der eigenen Lebensform so sicher sind (und damit rechnen, dass sie sich wie von selbst durchsetzt, also in Beziehung zu andern dominant ist), können wir vergessen, dass sie auf gewaltsamer Durchsetzung beruht und des Gewaltschutzes bedarf, kurz, eine Gewaltordnung ist. Weit entfernt davon, darauf verzichten zu können, macht die westliche Kultur Durchsetzung zu einem Wert eigener Art: Selbstbestimmung, Selbstbehauptung, Selbstentfaltung - diese modernen Wertformeln enthalten mehr Keime der Gewalt als das lakonische 'Allahs Wille geschehe'."

Weitere Artikel: Martin Meyer denkt darüber nach, ob Clausewitz' berühmte Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln auch heute noch Gültigkeit haben kann. Robert Schneebeli erinnert an Elisabeth I. von England, die vor vierhundert Jahren starb. Und Anselm Gerhard erklärt die "Möglichkeiten der Ironie", die Amilcare Ponchiellis Oper "La Gioconda" (1876) dem Musiktheater eröffnet hat. Besprochen werden Bücher, darunter ein Band über Ehe und Sexualität im Mittelalter und eine "Europäische Musikgeschichte" in zwei Bänden (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton beschreibt der jordanische Literaturkritiker Fakhri Saleh die Reaktionen arabischer Kulturschaffender auf den Kriegsbeginn. So hätten "namhafte Exponenten der arabischen Literatur", darunter der der Romancier Gamal al-Ghitani, der saudiarabische Schriftsteller Abderrahman Munif, der Syrer Haidar Haidar und die Literaturwissenschafter und Kritiker Yumna al-Eed (Libanon) und Faisal Darraj (Palästina), sich zusammengetan, um eine öffentliche Stellungnahme gegen den bevorstehenden Krieg zu verfassen": "Das Statement, welches zwei Tage vor Kriegsausbruch publiziert wurde, verurteilte den Krieg, hinter dem die Verfasser primär Begehrlichkeit nach irakischem Öl und Machtinteressen vermuten. Der amerikanischen Regierung wurde vorgehalten, sie verfolge ein «Prinzip, politische Regime mit Gewalt zu stürzen», und verberge dabei ihre wahren Motive unter Schlagwörtern wie 'Demokratisierung', 'Kampf gegen den Terrorismus' und 'Zerstörung von Massenvernichtungswaffen'."

Weitere Artikel: Susanne Ostwald berichtet von der Leipziger Buchmesse im Schatten des Krieges. Jürgen Ritte war bei der Eröffnung des Pariser "Salon du Livre". Und Joachim Güntner stellt den Kompromiss zur Rechtschreibung der Deutschen Akademie vor.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Duane Hanson im Kunsthaus Zürich, Peter Brooks Inszenierung von Becketts "Glücklichen Tagen" in der Kaserne Basel und ein Konzert des Pianisten Jonathan Gilad in der Tonhalle Zürich.

FAZ, 22.03.2003

Gerhard Stadelmaier saß heftig bewegt in Reithalle der Kaserne Basel, als Peter Brook nach der Premiere seiner Inszenierung von Becketts "Glückliche Tage" auf die Bühne trat und eine "wunderbare kleine Rede" hielt: "Wir seien ja jetzt wohl alle sehr glücklich. Aber wir hätten ja soeben erlebt, wie Winnie auf der Bühne davon gesprochen habe, dass sie 'Schreie' höre ... Schreie des Schreckens und des Krieges. Und wir sollten jetzt still in uns hineinhorchen und diese Schreie mit uns nach Hause nehmen." Da wurden alle ganz stumm, auch Herr Stadelmaier. "Man kann, wenn alle so betroffen-beklommen still sind, schlecht aufstehen und 'Das ist nicht wahr, Monsieur Brook!' oder auch 'C'est tres Kitsch!' rufen. Das wäre ja eine Art Störung der Friedhofsruhe gewesen. Aber jetzt. Aber jetzt bin ich bereit zu jeglichem Schwur, dass in dieser überwältigend komischen, unter Dauergelächter leicht und wie in einer Luftspiegelung wirbelnden und flimmernden Inszenierung Winnie unter gar keinen Umständen irgendeinen 'Schrei' gehört hat - nicht einmal einen eingebildeten Schrei."

Auf der Gegenwartsseite widmet sich die Rechtssoziologin Sibylle Tönnies (mehr hier) den "Outlaws der Menschenrechte", den jungen Männern. "Sowie sie der mütterlichen Versorgung entwachsen sind, dürfen sie - ohne dass die universalen Menschenrechte auch nur zitterten - von ihren Staaten gewaltsam ergriffen, unter Waffen gezwungen und dem Töten und Getötetwerden ausgeliefert werden. Sie dürfen in eine Horrorwelt transportiert werden, in der es kein Recht und kein Unrecht gibt. Soldaten sind keine Menschen."

Weitere Artikel im Feuilleton: Jürg Altwegg beschreibt, wie schwer sich die Schweiz mit dem Irakkrieg tut: "Es war für die Eidgenossen fast schon ein Glücksfall, dass George W. Bush seinen Krieg ohne die Zustimmung des Sicherheitsrats begann. Die Verletzung des Völkerrechts hat es ihnen ermöglicht, sich reflexartig (wenn auch voller Widersprüche und weniger sprachlos denn je) auf das vertraute Neutralitätsdogma zurückzuziehen." Die Schweiz, erinnert uns Altwegg, ist seit genau einem Jahr 194. Mitglied der UN. Gina Thomas berichtet, wie man in England nach Parallelen zum Irakkrieg sucht - erinnert er an den Suezkonflikt oder doch mehr an den Zweiten Weltkrieg? Julia Spinola war bei den Römerbad Musiktagen. Joseph Croitoru stellt nach der Lektüre osteuropäischer Zeitschriften fest, dass die polnischen Intellektuellen die Heimatforschung entdecken. Andreas Rossmann hat einem Gespräch zwischen Ernst-Wilhelm Händler und Maria Lassnig auf der lit.Cologne zugehört.

In den Ruinen von Bilder und Zeiten spricht der Geiger Gidon Kremer, dessen Autobiografie zweiter Teil gerade erschienen ist, in einem Interview über Bach und den "Musicus sowjeticus". Dabei fällt ein hübsches Zitat von Isaac Stern zum amerikanisch-russischen Kulturaustausch: "Was wird da wohl passieren? Die Russen schicken uns ihre Jungs aus Odessa, und wir schicken unsere Jungs aus Odessa."

Und Niklas Maak beschreibt, wie eine neue Künstler-Bewegung die Minimal Art der sechziger Jahre wiederentdeckt und die Kunst der Gegenwart "revolutioniert". So bestrich Teresa Margolles in den Berliner Kunst-Werken "eine zwanzig Meter breite Wand mit einer edel schimmernden, goldenen Flüssigkeit. Der Blick auf das Werk änderte sich, als man erfuhr, dass es sich dabei um menschliches Fett handelte, das bei Schönheitsoperationen in Mexiko abgesaugt worden war. Was bei Beuys noch mythischer Stoff war, ist hier nur noch der glänzende Sondermüll einer vom Fett bedrohten Oberschicht."

Für die Medienseite hat Michael Hanfeld sich einen Abend durch die Kriegsberichterstattung von CNN, ARD, ZDF und RTL gezappt und stellt fest: "Je mehr Kanäle man einschaltet, desto deutlicher merkt man, wie wenig wir wissen können." Christian Schwägerl erklärt, was eine E-Bombe (mehr hier) anrichtet. und Dietmar Polaczek, der die Kriegsberichterstattung im italienischen Fernsehen verfolgt, berichtet angewidert, wie die RAI von ihren "bellissima immagini" schwärmt.

Besprochen werden ein Konzert von Esther Ofarim in der Alten Oper Frankfurt, die Aufführung von Brechts "Fatzer" in der Inszenierung von Thirza Bruncken in Frankfurt und Bücher, darunter Gerhard Seyfrieds Roman "Herero" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht es um CDs des Countryrockers Jeff Tweedy, Robin Williams, Donnie, Paul Kuhn und eine Aufnahme von Orlando di Lassos Bußpsalmen. Und Dietmar Dath behauptet in einer Kolumne: Gesamtmetall klingt einfach gut.

In der Frankfurter Anthologie stellt Volker Braun Karl Mickels "Trinklied. Nach Goethe" vor:

"Der Alte in seiner Höhle
Ich
Denkt seine Kinder und Enkel, und Schüttelt das Haupt
..."