Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2003. In der NZZ gerät der Schriftsteller David Lodge völlig aus dem Häuschen über Tony Blair. In der SZ annoncieren Militärexperten eine weitere Brutalisierung der amerikanischen Gesellschaft. In der taz reflektiert Georg Seeßlen über ein seltsames Phänomen: In diesem Krieg sind die Bilder schon kommentiert, bevor sie gesendet sind. Die FR huldigt Big Brother Langhans. In der FAZ kann Egon Flaig vom Tyrannenmord nur abraten.

NZZ, 02.04.2003

Der englische Schriftsteller David Lodge huldigt dem Staatsmann Tony Blair: "Man darf mit einiger Gewissheit annehmen, dass noch niemals in der britischen Geschichte eine Regierung sich mit einem derart geringen Maß an öffentlicher Unterstützung auf einen Angriffskrieg eingelassen hat; und dass dieser Entscheid von einer Labour-Regierung gefällt wurde, grenzt ans Unglaubliche. Wie und warum ist es dazu gekommen? Als Antwort genügen zwei Worte: Tony Blair. Durch schiere Willenskraft, unermüdliches Engagement und scheinbar bedingungslosen Glauben an die Sache, durch den Einsatz des ganzen politischen Kredits, den ihm zwei überwältigende Wahlsiege eingetragen haben, setzte er durch, dass England seine Partnerschaft mit Amerika auch in einer Sache wahrte, welche die meisten Angehörigen der Labour-Partei - und wohl auch ein Großteil ihrer Wähler - entweder ablehnen oder bestenfalls ohne wirklichen Enthusiasmus befürworten."

Weitere Artikel: Lula da Silva versprach bei seinem Amtsantritt, dass "jeder Brasilianer morgens Kaffee trinken, Mittags anständig essen und abends ohne Hunger ins Bett gehen kann". Nun aber sind schon fast einhundert Tage ins Land gegangen, Ratschläge und Tipps von Intellektuellen, Bischöfen und Ministern gebe es viele und doch ist wenig passiert, befindet Carl D. Goerdeler. Heribert Seifert schreibt einen Nachruf auf den früheren Zeit-Feuilletonchef Rudolf Walter Leonhardt.

Besprochen werden jüngste Aufnahmen des Komponisten Henri Dutilleux (mehr hier), neue alte Aufnahmen mit der Koloratursopranistin Beverly Sills, ein musikalisches Portrait des "Volksmusikers" Rees Gwerder (mher hier).

Und Bücher, darunter das jüngste Werk der amerikanischen Publizistin Joan Didion "Political Fictions", Eugen Biser Buch über Nietzsche, György Konrad Essays über "Glück" und Georges Lefebvres Klassiker über "Napoleon" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 02.04.2003

Georg Seeßlen denkt in einem fast zweiseitigen Essay über die Bilder des Krieges nach, die statt rätselhaft diesmal überdeutlich erscheinen, "schon verstanden, bevor sie gesehen, schon kommentiert, bevor sie gedruckt und gesendet sind". Seeßlen selbst kommt dabei auf folgenden Gedanken: "Die Zivilgesellschaft hat in ihren Bildern das tröstliche Gefühl, da würden zwei Barbaren, zwei barbarische Systeme, Krieg gegeneinander führen. Natürlich ist man gegen beide. Aber der barbarische Krieg selber schreibt sich durchaus wollüstig in die Wahrnehmung ein. Schon lange nicht mehr, so scheint es, haben wir unseren Bildermaschinen so sehr vertraut wie jetzt. Sie produzieren Evidenz als neue Droge."

Selim Nassib setzt sein Tagebuch über den Irakkrieg aus der Perspektive von al-Dschasira fort und schildert eine Szene aus Basra, in der einfach nichts passierte: "Jeder andere Fernsehsender hätte hier seine Übertragung abgebrochen, um zu einer anderen Sache überzuleiten. Dieser lange und geräuschlose Stillstand bricht mit dem hektischen Rhythmus, an den alle Nachrichtensender ihre Zuschauer gewöhnt haben. Die Unterbrechung des Tempos hat einen seltsamen Effekt. Man ist auf einmal in der Stadt, man fühlt, was es heißt, dort zu sein, verschanzt in seiner Wohnung, einem Flur, einem Keller, die Ohren gespitzt auf der Lauer liegend, darauf wartend dass das Bombardement wieder beginnt."

Auf der Medienseite schildert Tilman Baumgärtel, wie sich Kriegsgegner und Befürworter im Netz das Leben schwer machen und feindliche Websites attackieren.

Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung des "Othello" an den Münchner Kammerspiele und das Konzert der portugiesische Band Madredeus in der Berliner Philharmonie.

Und schließlich Tom.

SZ, 02.04.2003

Der Krieg von heute produziert die Posttraumatiker von morgen, fürchtet Ulrich Raulff, in die amerikanische Gesellschaft werden "entsicherte Tötungsmaschinen" zurückkehren. "Die Brutalisierung der amerikanischen Politik, die von Teilen der politischen Elite ausgegangen ist, wird nach dem Krieg von unten weitergehen."

Andrian Kreye verfolgt, wie sich Amerikas Historiker schon jetzt versuchen, für den Krieg einen Platz in der Geschichte zu finden: "Die gesamte Geschichte der letzten 200 Jahre muss dafür herhalten, hie und da wird auch die Antike geplündert. Da vergleicht Phyllis Bennis vom Institute for Policy Studies in Washington die Doppelmoral amerikanischer Demokratie mit den Athenern, die den Bewohnern von Milos verkündeten: 'Für uns die Demokratie, für euch das Imperium.' Immer wieder fällt die Jahreszahl 146 vor Christus, wahlweise als Hoffnung, dass Amerika nach der Zerstörung des irakischen Karthago die Welt befrieden, oder umgekehrt im imperialen Größenwahn implodieren wird."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh meldet, dass die Kurzfilmtage Oberhausen ihr Hausverbot für alle Regierungsvertreter aus der Koalition der Willigen zurücknehmen. Es werde aber keiner von denen eingeladen, die jetzt nicht ausgeladen werden! Oliver Fuchs beklagt Madonnas Rücknahme ihres neues Videos "American Life" als nervösen Akt von Selbstzensur.

Heute entscheidet sich, ob München international beachtet wird oder lokale Mittelklasse bleibt, meint Reinhard J. Brembeck mit bangem Blick auf die Verhandlungen zwischen der Stadt und dem Dirigenten Christian Thielemann: Der Vertrag werde heute entweder perfekt, scheitert - oder wird weiterverhandelt. Für Ralf Dombrowski hat sich Schweden bei der dritten Stockholmer Jazz Celebration als Hochland des Jazz entpuppt. Klaus Böldl fragt, was die im niederösterreichischen Kloster Zwettl gefundenen Handschriftenfragmente des Nibelungenliedes für Literatur und Nation bedeuten. Lothar Müller gratuliert György Konrad (mehr hier) zum siebzigsten Geburtstag. Claus Heinrich Meyer schreibt einen Nachruf auf den Publizisten Rudolf Walter Leonhardt.

Auf der Medienseite stellt Christopher Keil den ehemaligen Kriegsfotografen und Pulitzer-Preisträger Horst Faas vor und Senta Krasser spricht mit dem Medienwächter Wolf-Dieter Ring über den veränderten Jugendschutz.

Besprochen werden Elia Suleimans preisgekrönter Film "Göttliche Intervention", Disneys Fortsetzung des "Dschungelbuch", Andrea Breths Inszenierung der "Verkauften Braut" in Stuttgart, der krachige Schmachtfetzen "Geierwally" in Karslruhe sowie Albrecht Hirches Projekt "Die 10 besten Rocksongs" in Köln.

Und Bücher, darunter Gedichte von Marina Zwetajewa, Frank Zöllners Leonardo-Band, Gregor Hens' Erzählungen "Transfer Lounge" sowie Winfried Hassemers und Jan Philipp Reemtsmas Studie "Verbrechensopfer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 02.04.2003

Petra Kohse befasst sich ernsthaft mit Rainer Langhans' Kommunarden-Leben im Big-Brother-Format: "Während Privatheit im Fernsehen üblicherweise ohne eine Entsprechung zur Wirklichkeit stattfindet, bilden die 'Kommune'-Szenen ein authentisches, weil prinzipiell an der öffentlichen Äußerung orientiertes und sich selbst andauernd reflektierendes Zusammenleben ab."

Weitere Artikel: Christian Schlüter berichtet von einer Tagung zur Philosophie von Emmanuel Levinas in Goslar. Martina Meister gratuliert dem "geübten Querdenker" und "ewigen Dissidenten" György Konrad (mehr hier) zum siebzigsten Geburtstag. "elb" erkennt in Times mager, dass gar nicht die Handgranate gegen den Krieg in Madonnas Video "American Life" skandalös ist, sondern die explizite Darstellung übergewichtiger Frauen.

Besprochen werden das Berliner Maerzmusik-Festival (mehr hier), die Ausstellung zeitgenössischer niederländischer Kunst "Die Realität der Bilder" im Staatlichen Museum Schwerin, der Sampler "Replay Debussy" und Pawel Huelles heiterer Roman "Mercedes Benz" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 02.04.2003

Der Althistoriker Egon Flaig meditiert über die Figur des Tyrannen in Antike und Gegenwart und warnt vor dem Glauben an die Wirksamkeit des Tyrannenmords. Wer das Volk von außen befreien wolle, so Flaig, wird nicht selten bestürzt entdecken, "dass das Volk sich um seinen gefährdeten Tyrannen schart. Diktaturen haben Rückhalt - oft bis zum Schluss - und stützen sich auf soziale Träger. Insbesondere bei Einparteiensystemen. Wo die Partei einen substanziellen Teil der Bevölkerung organisiert, erfolgt Unterstützung institutionalisiert und ritualisiert. Wieso? Gibbons Rat für Historiker: 'Trau nie einem erhabenen Motiv, wenn sich dafür auch ein niedriges findet', verengt das Blickfeld... Anhänger bleiben loyal am allerwenigsten, weil das Regime sie materiell privilegiert... Viel wichtiger ist, worauf Manes Sperber hinweist: Der Anhängerschaft anzugehören verschafft soziale Geltung, nämlich Möglichkeiten, für andere Vergünstigungen zu makeln, um damit Ansehen und Achtung zu erwerben."

Weitere Artikel: Edo Reents kommentiert den Umstand, dass Madonna ihr neuestes Video zurückgezogen hat, weil es als antipatriotisch hätte verstanden werden können. Jordan Mejias meldet, dass auf Ground Zero ein von Daniel Libeskind zu realisierendes "Museum der Freiheit" entstehen soll. Marcel Reich-Ranicki schreibt zum Tod des Publizisten Rudolf Walter Leonhardt (und ist nicht übertrieben pietätvoll: "Leonhardt schrieb amüsant, war fast nie langweilig - und lieferte letztlich doch nur mehr oder weniger nützliche Plaudereien. Ich kann mich an keinen einzigen wirklich bemerkenswerten Artikel von ihm erinnern.") Reinhard Wandtner macht darauf aufmerksam, dass auch Tiere und Pflanzen des Irak bedroht sind. Richard Kämmerlings gratuliert György Konrad (mehr hier) zum Siebzigsten. Der Jurist Gerd Roellecke begrüßt die Einstellung des NPD-Verfahrens durch das Bundesverfassungsgericht. Andreas Rossmann informiert uns, dass sich die Stadt Oberhausen mit einem Zukunftspark namens O.Vision gegen ihren Niedergang stemmen will. Ilona Lehnart stellt die Fusion der Kulturstiftungen der Länder und des Bundes in Aussicht. Dietmar Polaczek freut sich, dass eine jüngst aufgefundene antike Satyrstatue nun restauriert ist und demnächst in einem sizilianischen Museum eine neue Bleibe finden wird. Jochen Schmidt kommt nach Ballettaufführungen in Helsinki zu der Erkenntnis, dass dem finnischen Tanz in Tero Saarinen ein großes Choreografentalent heranwächst.

Auf der Medienseite erzählt Heinrich Wefing, wie der Kriegsreporter Peter Arnett, der im letzten Golfkrieg durch seine Live-Berichterstattung aus Bagdad zu einiger Berühmtheit gelangte, nach einem Interview im irakischen Fernsehen von NBC entlassen wurde. "S.K." erklärt, warum bei Arte eine Dokumentation über die Vorgänge im Palästinenserlager Dschenin gestrichen wurde. Michael Hanfeld lässt an dem Stiftungsmodell, das der Holtzbrinck-Verlag dem Tagesspiegel angedeihen lassen möchte, damit er auch die Berliner Zeitung behalten darf, kein gutes Haar: "Warum sollen ausgerechnet Politiker eine Zeitung beaufsichtigen?" Auf der letzten Seite meditiert Barbara Kirchner über SARS und alles mögliche andere (zum Beispiel das naturwissenschaftliche Feuilleton selig). Christian Geyer polemisiert gegen den Politikberater Robert Kagan ("Macht und Ohnmacht", mehr hier) Und Frank Pergande war dabei, als Mario Adorf in Potsdam aus der "verstaubten Prosa" Reinhold Schneiders las.

Besprochen werden eine Dramatisierung des "Oblomow" im Kasino des Burgtheaters, Elia Suleimans Film "Göttliche Intervention - Eine Chronik von Liebe und Schmerz", ein Konzert des inzwischen bei den Roots von Country und Bluegrass angekommenen Gitarristen Bill Frisell in Rüsselsheim, die Ausstellung "Barocke Sammellust" im Münchner Haus der Kunst, Karl-Heinz Otts und Theresia Walsers Neufassung der "Geierwally" in Karlsruhe und ein Konzert des Sängers und Gitarristen David Gray in Offenbach.

Ach so, und "csl", der neulich das Archipel Palau in der Koalition der Willigen begrüßte, ist nicht Claudius Seidl, wie wir dachten, sondern Christian Schwägerl. Claudius Seidl ist "cls". Wir bitten beide um Pardon!