Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2003. In der SZ bezweifelt der Historiker Paul Kennedy, dass ein "Kerneuropa" realisierbar sei. Die taz verabschiedet die provinziellen Spießer von "Modern Talking". Die NZZ stellt das Tagebucharchiv in Emmendingen vor. Die FAZ geht der "Kunstraublüge von Bagdad" nach.

SZ, 23.06.2003

Der Yale-Historiker Paul Kennedy (ein weiterer Artikel zum Verhältnis Europa-Amerika hier) führt die Habermas-Derrida-Debatte fort. Ein starkes Kerneuropa wird es nie geben, glaubt er. Weil wir nicht reformfähig sind. "Diese 'alten' europäischen Gesellschaften sind weit davon entfernt, an der Spitze zu marschieren - tatsächlich sind sie in vielerlei Hinsicht die Nachzügler bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Es mag ja gut und schön sein, wenn französische und deutsche Philosophen Europas reiche Kultur und den großartigen Reifeprozess eines 'Europäertums' heranziehen, um auf dieser Basis einen neue internationale Machtbalance zu entwerfen. Aber ohne ernsthafte strukturelle Veränderungen, die tief in das tägliche Leben, die tägliche Praxis eingreifen, ist das Dokument, welches diese Debatte ins Rollen gebracht hat ... wie soll man sagen? Einfach nur akademisch.

Zu Beginn, frohlockt Svenja Klaucke, sah es so aus, als könnte Robert Wilson sein "formalistisches Theater der Erstarrung" auf der Ruhr-Triennale aufbrechen, mit einem swingenden 'Heiligen Antonius' von Flaubert. Aber nein: "Die Bühnenversion bleibt bei den eigentlich schon ausgestorbenen Barock-Dämonen Völlerei, Reichtum, Wollust - harmlos dekorativ präsentiert. Die Lockspeisen sehen aus wie holzsägegearbeitete Buchstützen, die Habgier rieselt anmutig als Goldstaub, die Königin von Saba ist statt gefährlich sexy stabil-sachlich, und der - dazuerfundene - Adonis trägt oben ohne mit viel Muskeln und unten herum die Hot-Couture einer Goldlame-Hose, so dass man fürchtet, diese Wüste liege bei Las Vegas." Dazu wagt Dirk Peitz einen Blick in die Kristallkugel - zur Zukunft der Ruhr-Triennale.

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld kommentiert den neuen Harry Potter, eine Allegorie auf das 20. Jahrhundert, wo es viel um Rasse, Klasse und Tod geht. Andrian Kreye schaut in Werbung und Popkultur und beschwört die Renaissance einer melancholischen Südsehnsucht, wie es sie seit Kennedys Ermordung nicht mehr gegeben hat. Fritz Göttler erklärt, warum George Orwell, das Gewissen Großbritanniens, zum Spitzel wurde, und warum das erst heute bekannt wird. Dorette Deutsch diskutiert, wie engagierte Stadtplanung Venedig verändert hat und weiter verändern wird. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Broadway- und Hollywoodautors George Axelrod. Barbara Böttger informiert uns über das ungewöhnliche schwimmende Symposium zum Schutz der Ostsee, bei dem inernationale Kirchenvertreter, Wissenschaftler, Umweltschützer und Politiker an Bord waren. "sko" meldet, dass es für die Wiederbeschaffung der zwei aus dem Amsterdamer Van-Gogh-Museum gestohlenen Gemälde nun 1.000.000 Euro gibt.

Auf der Medienseite weiß Hans-Jürgen Jakobs von Sparzwängen bei EM.TV, die wie ein Gegenentwurf zu den Visionen von Gründer Thomas Haffa wirken. In der Reihe Große Journalisten stellt Klaus Podak den Kaffeehausliteraten und Stegreifredner Anton Kuh vor, über den Franz Werfel nach seinem Tod schrieb. "Noch vor wenigen Wochen hörte ich ihn das Wort haben, das Wort halten, nicht vom Wort lassen. Alle hingen an seinem Mund mit der größten Bereitschaft, gefangen zu sein..."

Besprochen werden die umjubelte Uraufführung von Jörn Arneckes erster abendfüllender Oper "Fest im Meer" in Hamburg, die aktuelle Version von Puccinis "Turandot" in der Arena von Verona, Otar Iosselianis gelassene filmische Venedig-Exkursion "Montag Morgen", und Bücher, darunter Rainer Malkowskis geglückte Nachdichtung des "Armen Heinrich" von Hartmann von Aue, Carl Schüddenkopfs Erzählungen aus Stalingrad ,"Im Kessel", sowie Christopher Rass' Studie "Menschenmaterial" zum kriegsverbrecherischen Werdegang der 253. Infanteriedivision der Wehrmacht (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 23.06.2003

Eine präsentable Aufführung hat Calixto Bieito da hingebracht, mit Jules Massenets "Manon", schreibt Hans-Klaus Jungheinrich zunächst eher zurückhaltend. Um dann die letzte Frankfurter Opernpremiere der Saison doch ausgiebig zu loben, etwa das Orchester. "Gefühlvoll, zugleich mit einer Prise Verspieltheit und Nähe zu exquisiter Frivolität. Herzzerreißende Liebesmusik, immer ein wenig im Schatten von ordinärem Can-Can-Trubel." Oder die Szenerie. "Größter Trumpf dieser szenischen Interpretation war das großzügige und prächtige Bühnenbild von Alfons Flores, eine einheitlich-transparente Drehkulisse mit einer splendiden Säulenarchitektur, verfinsterten Zonen mit glimmenden Slot-Machines und, am Schluss, einer mächtigen Gangway-Treppe." Alles in allem eine "willkommene, überfällige Neu- oder Wiederbegegnung."

Weiteres: Daniel Kothenschulte warnt in der Reihe Krise der Kommunen dieselben davor, den Rotstift auch noch bei den kommunalen Kinos walten zu lassen , den effizientesten Kulturinstituten vor Ort. Harry Nutt berichtet von einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, auf der die umstrittene Bedeutung der Generationen verhandelt wurde. Christian Thomas empfand das 100. Jubiläum des Bundes deutscher Architekten als einzige "Anmaßungsoffensive". Hilal Sezgin alias Viktor Krum schreibt Hermine einen Times-mager-Brief aus dem Quidditch-Trainingslager - Harry Potter lässt leider grüßen. Meldungen melden, dass der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Klaus Zehelein, die Hamburger Kultursenatorin Dana Horakova kritisert hat, dass Südkorea im Jahr 2005 Gastland der Frankfurter Buchmesse wird und dass am Freitag wegen einer anonymen Bombendrohung eine Aufführung des umstrittenen Stücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder im Pariser Bastille-Theater unterbrochen werden musste.

Auf der Medienseite stellt Alexander von Streit NEON (mehr) vor, das neue Jugendmagazin des Stern, für das die halbe Mannschaft der eingestellten Jugendbeilage der SZ verantwortlich zeichnet. "'Wir haben uns damals gedacht, da sitzt Knowhow auf der Straße', sagt Stern-Chefredakteur Andreas Petzold. Es hat ihn beeindruckt, dass Hunderte von jetzt-Lesern gegen die Einstellung des Magazins auf der Straße demonstrierten. So eine Identifikation mit dem Blatt, davon träumen Chefredakteure."

Besprochen werden Robert Wilsons enttäuschendes Flaubert-Projekt bei der Ruhrtriennale mit wunderbarer Musik von Bernice Johnson Reagon und die Ausstellung "Der fotografierte Mensch" im Essener Museum Folkwang.

TAZ, 23.06.2003

Harald Fricke hält Scheibengericht und stellt CDs unter anderen von den Monostars, Cherrywine, The Carla Bley Big Band, Forss und Yoshimi & Yuka vor. Zu letzteren schreibt er: "Im Frühjahr 2002 fuhren Yoshimi P-we und Yuka Honda mit einem Kleintransporter von Tokio aus in die Berge. Auf dem Weg legten sie immer wieder Pausen ein, packten ihr Gitarren, Bambusflöten und Mini-Keyboards aus und hörten den Vögeln zu. Sobald das Gezwitscher eine angenehme Tonfolge erreicht hatte, fingen Yoshimi und Yuka an, die Lockrufe auf ihren Instrumenten zu umspielen. Möglicherweise waren aber auch schimpfende Finken dabei, die ihr Revier gegen die Eindringlinge verteidigen wollten."

Weitere Artikel: Auf Wiedersehen, Modern Talking, ruft Kolja Mensing, nicht ohne vorher noch das Phänomen vorher noch soziologisch zu verorten. Ralf Sotschek geißelt die beispiellose Vermarktung des neuen Harry Potter. Besonders verwerflich findet er, dass J.K. Rowlings jetzt reicher sein soll als die Queen. (Wir finden das ja besonders verdienstvoll!). Eine Besprechung widmet sich "On Translation: Das Museum" (der Ausleger im Internet hier) in Dortmund, der ersten umfassenden Werkschau des Medienkünstlers Antoni Muntadas (Projekt The File Room) in Deutschland.

Auf der Medienseite bescheinigen Silvia Helbig und Steffen Grimberg dem neuen Jugendmagazin NEON (mehr) zwar durchaus Klasse, aber auch das "Generation-Golf-Syndrom": "In den 80er-Jahren sozialisierte Wessi-Daueradoleszenten beschreiben ausnahmsweise mal nicht wie Nutella schmeckt, aber im Großen und Ganzen doch eine schöne heile Welt - München eben."

Schließlich Tom.

NZZ, 23.06.2003

Sieglinde Geisel stellt in der Reihe "Gelebtes, Gedachtes, Gefühltes" das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen vor: "Als Frauke von Troschke 1997 daranging, ihre Idee eines Tagebucharchivs zu verwirklichen, war sie überrascht, dass es in Deutschland noch nichts Derartiges gab. 'Machen wir schnell, damit uns nicht ein anderer Ort die Idee wegschnappt', habe der Oberbürgermeister gesagt, als sie ihm das Projekt vorstellte. So kam es ein Jahr später zur Gründung des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen, einem 25.000-Einwohner-Städtchen bei Freiburg im Breisgau." Jedweder kann dort seine Tagebücher zur treuen Verfügung hinterlegen.

Weitere Artikel: Roman Bucheli resümiert ein Zürcher Kolloquium über das "Nationale an der Literatur" ("Das Nationale an der Literatur zu bedenken, heißt zunächst und vor allem, sich in Widersprüche zu verwickeln.") Klas Bartels macht uns mit der Etymologie des Worts "Debakel" vertraut.

Besprochen werden Aufführungen von "Ariadne" und "Semiramide" zum Saisonende in Berlin, eine Karikaturenschau in Warschau, Ole Bornedals Film "I Am Dina", eine Ausstellung mit Werken von Ramon Gaya im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia in Madrid und Choreografien von Anne Teresa De Keersmaeker in Brüssel.

Gemeldet wird, dass die für September geplante Uraufführung von Peter Handkes Stück "Untertagblues" bei den Wiener Festwochen ein weiteres Mal verschoben wird.

FAZ, 23.06.2003

Matthias Rüb geht der "Kunstraublüge von Bagdad" nach. 170.000 Kunstwerke wurden nach der amerikanischen Eroberung im Nationalmuseum als verloren gemeldet - jetzt sind es noch 32. Urheber der Meldung, so Rüb, war Donny George Youkhanna, der Direktor des Museums. "Die Meldung vom ausgeräumten Museum hatte den erwünschten Medieneffekt, und nur wenige wagten die Frage, ob es nicht Aufgabe der Angestellten, gar der Leitung des Museums gewesen wäre, Vorbereitungen für den Krieg zu treffen, der sich Monate zuvor angekündigt hatte... Doktor Donny George aber wurde zu Konferenzen und Expertentagungen nach London und anderswo eingeladen, wo er seine ursprüngliche Bestandsaufnahme vom katastrophalen Verlust mit bebender Stimme und Tränen in den Augen bestätigte, jedenfalls nicht revidierte." Und die FAZ, so erinnern wir uns, weinte mit ("Ein Anflug reflektierter Trauer unterlegt seine Stimme, wenn er in Oxbridge-Englisch über die Plünderungen berichtet. Donny George braucht kein Manuskript. Worüber er spricht, hat er hautnah erlebt, und so gibt er es auch weiter", FAZ vom 30. Mai).

Weitere Artikel: Joseph Hanimann berichtet in der Leitglosse über französische Aufführungen von Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod". Gemeldet wird, dass Südkorea Gastland der Frankfurter Buchmesse 2005 sein wird. Michael Grill meditiert über den weltweiten Erfolg des Basler Architekturbüros Herzog und de Meuron, der nun in der Kür für den Bau des Pekinger Olympiastadions gipfelte. Martin Kämpchen erzählt Episoden aus dem Geschlechterkampf in Indien - eine Braut wehrte sich mit der Polizei gegen Mitgiftforderungen der Bräutigamsfamilie, wurde zur Nationalheldin und kann sich der Heiratsanträge nicht mehr erwehren, ein Gleichstellungsgesetz für Politikerinnen aber kommt noch nicht durch. Gerhard R. Koch gratuliert dem Dirigenten James Levine zum Sechzigsten. Walter Hinck schreibt zum Tod des Bonner Germanisten Peter Pütz.

Ferner wird mitgeteilt, dass "Das Berliner Ensemble, unter den deutschen Theater zumindest das bedeutendste Verlautbarungsensemble, (mitteilt) , dass der Chef des Hauses, Claus Peymann, mitzuteilen hat, dass er nichts mitzuteilen habe."

Auf der letzten Seite erinnert Wolfgang Burgdorf an den Reichsdeputationshauptschluss von 1803, das Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation mit seinen Säkularisationen, dessen allenthalben gedacht werde. Gina Thomas hat sich die "brillant inszenierte Buchpremiere" des fünften Harry-Potter-Bandes in London angesehen. Und Daniela Gregori stellt den Künstler Hans-Peter Maya vor, der die Bühne für den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb jedes Jahr phantasievoll neu gestaltet. Auf der Medienseite resümiert Gisa Funck das Fernsehfestival Cologne Conference, wo Produktionen der kommenden Saison vorgestellt wurden (unter anderem eine Dokumentation über Willy Brandt von Peter Merseburger und ein Film über Brandt von Oliver Storz). Jürg Altwegg berichtet über die undurchschaubaren Bilanzen der französischen Zeitung Le Monde und in einem zweiten Artikel über die Schweizer Ringier-Gruppe, die sich bei der Genfer Zeitung Le temps einkauft. Der Krimi um die Bundesliga-Rechte wird fortgesetzt.

Besprochen werden Jules Massenets "Manon" in Frankfurt, Robert Wilsons Dramatisierung von Flauberts "Versuchung des Heiligen Antonius" bei der Ruhrtriennale, der Film "2 Fast 2 Furoius", die Stücke "Krautsuppe, tiefgefroren" und "Zeit im Dunkeln" im Berliner Gorki-Theater, die Ausstellung "Der Turmbau zu Babel" über Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift in Graz und einige Sachbücher darunter das hoch willkommene Buch "Die Ordnung der Ordnung" von Harald Bluhm über die Philosophie des in aller Munde befindlichen Philosophen Leo Strauss.