Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2004. Europa erweitert und die Zeitungen überschlagen sich! Im Tagesspiegel grübelt Peter Esterhazy über Sitzordnungen und andere Kalamitäten nach. In der FAZ schildert Juri Andruchowytsch die traurige Lage der Ukraine, in der Berliner Zeitung auch. Die NZZ erinnert im Moment der Vereinigung an die langen Jahre der Trennung. In der SZ raunt Andrzej Stasiuk: "Wir kommen von draußen". In der FR besingt Karl Schlögel die wahren Helden Europas: die Grenzgänger von Marjampole.

Tagesspiegel, 30.04.2004

Der Schriftsteller Peter Esterhazy grübelt über Sitzordnungen und andere Kalamitäten: "Am französischen Tisch gibt es nur Sitzordnungen, die ganze Welt ist eine Sitzordnung; beim englischen Tisch auch, sehr sogar, nur spricht man nicht darüber. Am deutschen Tisch ist das Problem grundsätzlicher Natur. Was bedeutet ein deutscher Tisch? Ist es richtig, dass es ihn gibt, wenn es ihn geben kann? Und was überhaupt ist ein Tisch? Was ist deutsch? Ist der Tisch zunächst deutsch und dann europäisch oder umgekehrt? Ist es nicht so, dass die Frage die Antwort von vornherein einschließt? Und könnte es ein Ausweg sein, dass Wittgenstein kein Deutscher, sondern ein Österreicher war? Ist der Holzweg ein Ausweg etc.?"

Stichwörter: Esterhazy, Peter

FR, 30.04.2004

Der Historiker Karl Schlögel besingt auf der Dokumentationsseite die wahren Helden Europas. Grenzgänger in Grenzstädten wie Marjampole, wo der größte Autobasar Osteuropas seine provisorischen Zelte aufgeschlagen hat. "Marjampole ist wie eine europäische Pump- oder Messstation. Seine Funktion ist die Vermittlung. Von der einen Seite der Grenze wird etwas auf die andere Seite geschafft. Der Ort lebt von der Ausbeutung der Differenz. Er ernährt sich von der Grenze und der Spannung, die da entsteht, wo es Gefälle gibt. Hier sieht man das Gesetz von Angebot und Nachfrage in Aktion. Wie jeder Basar ist er eine Welt für sich, ein Ort, wo Welten aufeinander treffen. Die hohe Kultur will mit so etwas nichts zu tun haben. Sie schämt sich der Trivialität, ja Schmutzigkeit des Business, erst recht des Business mit Gebrauchtwagen." Wer Lettre liest, kennt den Beitrag schon (siehe Magazinrundschau vom 5. April).

Im Feuilleton hofft der Schriftsteller Richard Wagner, das sich mit der EU-Erweiterung das traditionell belastete Verhältnis zwischen Deutschen und Slawen endlich entspannt. "Was uns verbindet, ist endlich wieder genauer beschreibbar als das, was uns trennt." Über das Bunte sinniert Hannelore Schlaffer im Aufmacher des Feuilletons. Farben markieren soziale Grenzen, notiert sie. "Nicht zufällig wird die Farbgebung geradezu rabiat bei Gegenständen, die keinen hohen Wert haben; sehr bunt sind Putzeimer, Gefrierdosen, Heftklammern. Die Farblosigkeit der Menschen in den Straßen mag auch eine Folge strenger Aufgeklärtheit sein: Qualität braucht keine Farbe." Burkhard Müller Ullrich nutzt Times mager, um über Ghaddafis Bezug zu Prodis Schreibtischengeln nachzudenken.

Auf der Medienseite offenbart Rüdiger Heimlich, dass der Medienunternehmer Claude Berda "Onyx" zum deutschen "Discovery-Channel" machen will.

Besprechungen: Jürgen Ziemer freut sich, dass das Debütalbum der so schön billig-glamourösen "Scissor Sisters" nun auch bei uns erscheint. Und Hans-Klaus Jungheinrich schwärmt von den Monteverdi- und Gesualdo-Madrigalen bei den Schwetzinger Festspielen.

Das nur der Printausgabe beigefügte Magazin bringt ein Interview mit dem Medizinjournalisten Hademar Bankhofer, dem weißhaarigen Gesundheits-Guru aus dem Morgenmagazin. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

FAZ, 30.04.2004

Europa ist das Thema auch in der FAZ. Der berühmte ukrainische Essayist Juri Andruchowytsch schreibt über "Das neue Europa und die Situation der Ukraine". Die Lage des Landes ist nicht gerade komfortabel: "Womöglich existieren schon tatsächlich irgendwelche geheimen Brüsseler Protokolle über uns? Und darin hat man ein für allemal den für uns einzig möglichen Ort gefunden - den grauen postsowjetischen Raum, die nicht europäisierbare Zone russischen Einflusses." Die EU wird kaum das ersehnte "klare Signal" zum Beitritt geben, meint Andruchowytsch, der allerdings auch ukrainischen Politiker mit Kritik nicht verschont: "Selbst sind sie .. auch nicht imstande, die europäischen Partner von der Ehrlichkeit ihrer Integrationsbestrebungen zu überzeugen, und mit jedem neuen Autounfall eines oppositionellen Politikers oder unabhängigen Journalisten werden ihre Überzeugungskräfte nicht gerade stärker."

Weitere Artikel: Auch Henning Ritter ist im Aufmacher etwas bange angesichts der EU-Erweiterung ("Das Europa der fünfundzwanzig wird - das lässt sich allein wegen der Anzahl der Neuankömmlinge vorhersagen - eher ein kleinliches als ein großzügiges Europa sein"). Mark Siemons kommentiert die gestern zu Ende gegangene internationale Berliner Antisemitismus-Konferenz als "bedeutenden Vorgang". Gemeldet wird, dass Dresden ein wasserdichtes Depot für seine Kunst baut. Gina Thomas stellt "Londons neues Wahrzeichen", Norman Fosters Swiss-Re-Gebäude (Bilder) vor. Regina Mönch meldet, dass die Stiftung Weimarer Klassik mit ihren Museen, Dichterhäuser, Schlössern, Archiven und historischen Parkanlagen ein Jahr nach ihrer Gründung bereits in Finanznot steckt. "lac" stellt die Pläne des Burgtheaters vor. Andreas Rossmann resümiert ein Bonner Symposion zur Trivialliteratur.

Angelika Heinick berichtet aus Paris, dass sich die Holztafel der "Mona Lisa" weiter verzogen habe. Dirk Schümer schildert die politischen Intrigenspiele um den neuen Leiter des Filmfestivals von Venedig, Marco Mueller. Matthias Rüb besucht das neue "World War II Memorial" in Washington - es ist das erste Denkmal, das an die gefallenen amerikanischen Soldaten des Zweiten Weltkriegs erinnert. Und Jürg Altwegg bringt die Meldung, dass Michel Houellebecq vom Verlag Flammarion, dem er so viel verdankt (und umgekehrt allerdings) zu Fayard wechselt - dieser Verlag gehört dem Hachette-Konzern, der zugleich die Filmrechte zu Houellebecqs neuem Roman erwirbt. Und Hachette herrscht auch "über zahlreiche Magazine und Tageszeitungen. Deren Mitarbeiter werden von den 'Medienplanern' und -strategen des Konzerns einen bevorzugten Zugang zum Schriftsteller bekommen und diesen kaum mit negativen Kritiken eindecken wollen."

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um neue CDs von Diana Krall und Elvis Costello, um eine CD mit Kirchenmusik des Barockkomponisten Ignaz Franz Biber, um ein Recital des Tenors Joseph Calleja, um die Jazzsängerin Ulita Knaus und um eine Live-CD eines Konzertsvon Bob Dylan im Jahr 1964.

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage schreibt Hannes Hintermeier ein großes Porträt des vor 25 Jahren gegründeten Karolinger Verlags, der sich um Klassiker der Reaktion wie de Maistre und Celine und um andere "versunkene Schätze der europäischen Geistesgeschichte" verdient macht. Und Gerhard R. Koch stellt die schlichte Frage "Was ist Musik?"

Besprochen werden Ausstellungen der Künstler Bernd Pfarr und Hans Traxler im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover, Soren Kragh-Jacobsens Film "Skagerrak", Agnes Martins Werk "Islands" in neuer Sammlungskonzeption im Bottroper Josef Albers Museum, die Uraufführung von Oliver Bukowskis neuer Komödie "Stand by" im Berliner Deutschen Theater und Madrigale von Gesualdo und Monteverdi in Schwetzingen

Für die Medienseite erkundet Michael Hanfeld ausführlich die Lage bei Pro-Sieben-Sat.1, wo der neue Besitzer Haim Saban zum wiederholten Male verdiente Mitarbeiter geschasst hat. Auslöser für all das ist nach Hanfeld ein "Schulterschluss zwischen Haim Saban und Mathias Döpfner" - der Mogul und der Springer-Chef sind nach Hanfeld daran interessiert sich das zum Verkauf stehende Black-Imperium zu teilen, Daily Telegraph für Springer, Jerusalem Post und Chicago Sun-Times für Saban.

Auf der Literaturseite werden ein Tagebuchband Einar Schleefs und Reinhard Baumgarts Memoiren besprochen.

In der Frankfurter Anthologie stellt Claus Ulrich Bielefeld ein Gedicht von Meret Oppenheim vor - "Sommer

Der Löwe stützt seine Nase auf den Tischrand
Zu seiner Rechten und zu seiner Linken
Schweben zwei Nymphen..."

TAZ, 30.04.2004

Jan-Hendrik Wulf stellt das Middle East Media Research Institute (Memri) in Washington vor, dass antisemitische Sendungen in arabischsprachigen Medien beobachtet - die zum Teil auch in Europa ausgestrahlt werden. Memri hat beispielsweise einige besonders widerwärtige Ausschnitte aus der 29-teiligen Fernsehserie "al-Schattat" zusammengestellt und veröffentlicht: "Der auf dem Tisch gefesselte Mann röchelt nach Wasser. Mit Eisenzangen öffnen ihm seine Peiniger den Mund und flößen ihm geschmolzenes Blei ein. Dann werden dem Mann die Ohren abgeschnitten, zu guter Letzt durchtrennt man ihm die Kehle. Die Henkersknechte sprechen Arabisch, sind aber mit ihren schwarzen Hüten, Bärten und Schläfenlocken unschwer als orthodoxe Juden zu erkennen." Die Serie war von dem libanesischen Satellitensender der Hisbollah, al-Manar ausgestrahlt worden. Nachdem Premierminister Jean-Pierre Raffarin das das Video von Memri gesehen hatte, "wurden im Februar in der Nationalversammlung die Kompetenzen der französischen Medienaufsicht CSA erweitert und der Satellitenbetreiber Eutelsat aufgefordert, die europaweite Ausstrahlung von al-Manar einzustellen". 

Die New York Times beklagt sich, dass immer mehr Bücher von hochrangigen Politiker, Geheimdienstagenten und Offiziellen erzählen, wie es im Inneren der Regierung Bush zugeht, berichtet Sebastian Moll. "'Bücher haben die Zeitung als ersten Entwurf der Geschichtsschreibung abgelöst', empört sich die Times und sieht darin eine Abwertung ernsthafter politischer Buchpublikation zu 'bloßem Journalismus'. Dass die Times so pikiert um sich schnappt, hat seinen guten Grund: 'Die Times ist doch nur sauer, dass in den Büchern die Geschichten stehen, die im eigenen Blatt hätten stehen sollen', benennt Professor James Carey von der Columbia School of Journalism das Offenkundige."

Besprochen werden die CD "Un" von Chumbawamba, die CD "The Isle" von Garland & World Standard ("Eine zarte Überwältigung", schreibt Heiko Behr), David Koepps Mystery-Thriller "Das geheime Fenster" mit Johnny Depp und Bücher, darunter John Bainbridges Buch über "Die Super-Amerikaner" und Gert Jonkes "Geometrischer Heimatroman" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im tazmag erinnert Gerbert van Loenen, Deutschland-Korrespondent der niederländischen Zeitung De Trouw, an die Ermordung Pim Fortuyns vor zwei Jahren: dessen Tabubrüche hätten erstmals eine Debatte über Multikulturalität in den Niederlanden ermöglicht. Die Tagesthemenseiten liefern ein Dossier zum neuen Europa.

Schließlich Tom.

NZZ, 30.04.2004

Auch in der NZZ ist heute Samstag. Und auch in der NZZ geht's um die EU-Erweiterung.

In Literatur und Kunst erinnert die tschechische Journalistin Alena Wagnerova im Moment des Beitritts an die Teilung: "Wurde der östliche Teil Europas vom Westen mit Gewalt abgeschirmt, löste sich der Westen vom Osten eher freiwillig ab. Während im Osten sich die Menschen der Anormalität der Teilung immer bewusst waren und sich damit nicht abfinden wollten, hatte der Westen den Osten mit leichter Hand abgeschrieben und richtete sich in seinem Teil Europas ein, als wäre es der ganze Kontinent. Eine westeuropäische Gemeinschaft, die als die europäische firmierte." Es schreiben auch der polnische Publizist Adam Krzeminski (hier) und der ungarische Autor Laszlo Garaczi (hier).

Die schöne Reihe "Wohin geht das Gedicht?" wird fortgesetzt. Brigitte Oleschinski (mehr hier) schreibt über "Zweifel und Gewissheit". Der australische Dichter Les Murray, dessen Versepos "Fredy Neptune" gerade Furore macht, behauptet: "Weder entwickelt sich die Dichtung, noch lässt sie sich voranbringen." Und der Wiener Autor Franz Josef Czernin (mehr hier) knüpft in seinen Meditationen an Proust an.

Außerdem in Literatur und Kunst: Sighard Neckel stellt sich der Tücke des Begriffs Erfolg. Und Julia Gelshorn denkt über Sigmar Polkes Zyklus "Original + Fälschung" nach.

Im Feuilleton erinnert Hassan Dawud in einem "Schauplatz Ägypten" an den Sänger Abd al-Halim Hafiz, der die Massen mit seinen Liebesliedern und patriotischen Gesängen auch 27 Jahre nach seinem Tod bezaubert.

Weitere Artikel: Barbara Villiger Heilig und Marianne Zelger-Vogt unterhalten sich mit dem neuen Luzerner Theaterdirektor Dominique Mentha. Besprochen werden zwei Ausstellungen über Schwitters und die Folgen in Basel (mehr hier und hier). Auf der Filmseite geht's um "Otesanek", einen surrealistischen Animationsfilm von Jan Svankmajer, und um Kevin Costners Western "Open Range".

Einige interessante Artikel bringt die wöchentliche Medien- und Informatikseite. "snu." schildert, wie Hollywood ziemlich dezidiert Wahlkampf gegen Bush macht. "ras." beschreibt, "wie arabische Widerstandsgruppen die Bildmedien nutzen". "H. Sf." resümiert deutsche Medienstimmen zur EU-Erweiterung. "S. B." würdigt den Computerpionier Alan Kay. Und Martin Hitz stellt eine Studie zum US-Journalismus vor, der sich in "einer epochalen Umbruchphase, vergleichbar mit der Erfindung des Telegrafen oder des Fernsehens" befinde.

Berliner Zeitung, 30.04.2004

Niemand in Europa wartet auf die Ukrainer, bemerkt traurig der Lyriker und Romancier Juri Andruchowytsch. Demütigend sei der cordon sanitaire, der die Ukraine vom neuen EU abgetrenne. Doch: "Inzwischen bereitet das Leben selbst Überraschungen. Augenzeugen berichten von einer nicht vorhergesehenen Erscheinung der letzten Wochen - von der fast schon panischen Bewegung polnischer Bürger, die in den von Arbeitslosigkeit und Armut befallenen Grenzgebieten leben - im sogenannten Polen C, also 'Polen dritter Klasse' - in Richtung Ukraine. Zum Glück brauchen sie kein Visum: die Ukraine hat sich entschieden, diese für ihre westlichen Nachbarn überhaupt nicht einzuführen (eine Geste guten Willens, die man in Europa wohl kaum bemerkt haben wird). Manche von ihnen überschreiten die Grenze dreimal am Tag. Bevor sich die Katastrophe des 1. Mai nähert, legen sie letzte Vorräte an (Nahrungsmittel, Zigaretten, Alkohol, Benzin). 'Gut, dass es die Ukraine gibt, wo man alles kaufen kann, was man braucht, und zu viel niedrigeren Preisen', sagen sie, und in ihren Augen ist kein freudiges Feuer des Vorgefühls einer hellen europäischen Zukunft zu sehen. Vielleicht ist diese Bewegung an der Grenze wirklich eine Erscheinung des am 30. März in der Kiewer Oper offiziell begonnenen Jahres Polens in der Ukraine? Zumindest dessen Motto - 'Die Ukraine und Polen gemeinsam in Europa' - erscheint im Lichte dieses Kataklysmus gar nicht so absurd."

Außerdem: Ein Interview mit dem polnischen Filmregisseur Stanislaw Mucha über Ikea in der Westukraine, Klauen in Ostpolen und die alte Mitte Europas.

Welt, 30.04.2004

In der Literarischen Welt stellen wir uns zum Tag der EU-Erweiterung die Frage, ob wir die Briten wirklich hätten hereinlassen sollen. Frederick Forsyth serviert uns jedenfalls in einem Artikel über sein Problem, ob die Briten uns weiterhin beehren sollten, hübsche chauvinistische Klischees. "Die wirkliche Frage lautet: WELCHES EUROPA? Das ist die Frage, die Großbritannien quält, seit wir vor etwa zehn Jahren aufwachten und feststellen mussten, dass man uns 1972 getäuscht und belogen hatte. Es ist keine Frage, die Deutschland jemals gequält hätte, denn die Deutschen werden wie immer genau das tun, was man ihnen befiehlt. (Die Formulierung 'Befehl ist Befehl' konnte nur in Deutschland entstehen. Das britische Äquivalent lautet: 'Warum sollte ich?')" Gott, der Mann hat Esprit.

Außerdem erfahren wir vom irischen Autor Colm Toibin: "Irland ist noch lange nicht bei sich angekommen."


SZ, 30.04.2004

"Wir kommen von draußen", raunt der Schriftsteller Andrzej Stasiuk, und meint damit natürlich Osteuropa. Abseits vom allgemeinen Freudentaumel blickt er in einem hier gekürzt abgedruckten Vortrag vor dem Literarischen Colloquium in Berlin wehmütig auf Vergangenes und betont das Unnormierbare mancher EU-Neulinge. "Ich fuhr in das Städtchen Krompachy, um mir die unheimliche Siedlung an dem steilen Felshang anzusehen. Sie sah aus wie eine Vogelkolonie, an den Abhang geklebt. Die Zigeuner hatten sie aus Abfällen gebaut, aus Fetzen, aus verrostetem Blech, alten Brettern, modernden Balken. Wie durch ein Wunder hielt das alles zusammen und wurde nicht vom Wind weggeblasen. Das war wirklich ein Wunder, ein Triumph der Zigeuner über die Gesetze der Schwerkraft. Auf der anderen Straßenseite im breiten, flachen Flusstal der Hornad spielten die Kinder aus dieser himmelhohen Siedlung. Es war leichtes Tauwetter, ideal zum Bauen von Schneemännern und Schneeburgen. Auf der großen weißen Wiese lagen zahlreiche riesige weiße Kugeln, Dutzende davon. Die dunkelhäutigen Kinder rollten immer neue. Als wollten sie auf diese Weise die ganze Wiese vom Schnee befreien. Das war geradezu unwirklich schön."

Beunruhigt kehrt Ralf Berhorst von der großen OSZE-Tagung zum Antisemitismus in Berlin zurück. So einmütig die Teilnehmer aus 55 Staaten das Phänomen auch verdammten, seine Virulenz wurde dadurch nur umso deutlicher. Tilmann Buddensieg klagt über den lieblosen Umgang der Berliner mit ihren alten Gewerkschaftsbauten. Alexander Gorkow erzählt hingerissen vom lebenssüchtigen Musiker Neil Hannon und dessen fulminantem Auftritt in London. Gerwin Zohlen informiert über die deutschen Planungen für die Architekturbiennale in Venedig: "Man will sich abwenden vom 'elitären, humorfreien Ästhetizismus' der Architektur."

Innerhalb der Reihe "Die Bewegungsmelder" porträtiert Sonja Asal den Berliner Philosophen Volker Gerhardt auf der Literaturseite. Und auf der Medienseite schildert Marcus Jauer die schwierige Fusion der Fernsehanstalten von Berlin und Brandenburg.

Besprochen werden Oliver Bukowskis neues Stück "Stand by" am Deutschen Theater Berlin ("Am ehesten als Dokument einer allgemeinen Ratlosigkeit" sieht es Simone Kaempf), die Uraufführung von Martin Smolkas Oper "Nagano" in Prag, eine Ausstellung über die "epochale Hassliebe von Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert" in der Münchner Hypo-Kunsthalle, eine Schau zu Friedrich Schillers Reise nach Berlin vor 200 Jahren in der Berliner Landesvertretung von Baden-Württemberg, Sören Kragh-Jacobsens "ungebärdig und launischer" Film "Skagerrak" und Lars Rensmanns Untersuchung des deutschen Antisemitismus "Demokratie und Judenbild" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende schreibt der irakische Autor Najem Wali über die erste Reise in seine Heimat, die er 1980 verlassen hatte. "Erst jetzt, nach Enttäuschung und Rückkehr, weiß ich, dass ich mir bei allem, was ich tat, dieses Land immer wieder nach meinen Vorstellungen neu ausgemalt habe. Während all dieser Jahre habe ich das Land unter der Achselhöhle getragen, um es eine andere Lunge besitzen zu lassen als diese kaputte Lunge, die es besaß. Ich habe es eine andere Luft atmen lassen als die verpestete Luft, die die Diktatur verbreitete, die Luft von Gefängnissen, Kriegen, Giftgas und leicht begangenen Morden. Selbst wenn man dabei seine Verwandten zweiten Grades umbringt und egal weswegen! Dieses Land hat in dreißig Jahren Millionen von Soldaten, Killern und Geheimdienstleuten produziert, und jetzt drohen die meisten von ihnen, arbeitslos zu werden."

Außerdem: Der Schriftsteller Joachim Bessing schimpft über das Mobiltelefon, das sich längst zu einer bösen Macht entwickelt habe. Hans Leyendecker hat den MobilCom-Chef Gerhard Schmid besucht, der einmal zwei Milliarden Euro schwer war und alles verloren hat, bis auf seine Frau. Schließlich spricht Evelyn Roll auf der letzten Seite mit Franz Müntefering. Ausgerechnet über Gefühle.