Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.08.2004. In der taz fordert die Österreicherin Marlene Streeruwitz den Ausstieg aus dem Deutschen. In der SZ warnt György Dalos vor dem "lauten, frechen und heimtückischen" Antisemitismus in Ungarn. In der Welt weiß Said die optimale lösung im Streit um die Rechtschreibreform. Die NZZ feiert hundert Jahre isländische Heringkultur. Die FAZ ärgert sich über die miesepetrigen Olympia-Berichte im deutschen Fernsehen.

TAZ, 21.08.2004

Es kommt, was kommen musste. Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz hegt in Sachen Rechtschreibreform separatistische Gedanken: "Hier. In Österreich. Da wird mitdiskutiert. Da wird mitunterschrieben Auf den Reich-Ranickischen Listen. Da werden absurde Koalitionen eingegangen. Linke AutorInnen auf rechten Feuilletonseiten. Tja. Als poetische Intervention schlage ich da den Ausstieg aus dem Deutschen vor. Österreichisch ist eine eigene Sprache. Und sollte sich so auch selbst behandeln." Noch ist viel zu tun: "Der EU gegenüber hat Österreich bisher 23 Vokabeln als österreichisch eintragen lassen. Eine Speisekartenlänge ist das. Pfifferling wird als Eierschwammerl übersetzt. Und alle möglichen Fleischsorten. Mager. Die Regierung ist natürlich dagegen. Der Bildungssprecher der ÖVP sieht keine Notwendigkeit für Österreichisch als Staatssprache."

Außerdem: Meike Jansen stellt die Kunst Martin Eders vor, die als "schwülstige Fantasy-Ästhetik, barocker Neorealismus oder bittere Real-Romantik" umstritten ist. Phillip Bühler hat an Anders Thomas Jensens nicht unkannibalistischer Komödie "Dänische Delikatessen" Gefallen gefunden. Eine kleine "Kulturgeschichte des Springbrunnens" bietet Burkhard Brunn.

In der zweiten taz stellt Judith Hyams den US-Kleiderproduzenten "American Apparel" vor, der - mit Erfolg - ungewohnte Wege geht: "Fast alle amerikanischen Textilfirmen betreiben Outsourcing, sie profitieren von in Entwicklungsländer ausgelagerten Produktionsstätten. Aber auch im eigenen Land herrschen in den so genannten 'Sweatshops' sklavenartige Verhältnisse: Meist illegale Einwanderer liefern dort Höchstleistungen für Minimallöhne. Im Vergleich funktioniert American Apparel wie eine moderne, saubere Manufaktur. Von der ersten Designidee bis zum Vernähen des Etiketts entstehen die T-Shirts in einem pinkfarbenen Fabrikgebäude in Los Angeles." Jutta Heess interviewt den Sportpfarrer Klaus-Peter Weinhold, der derzeit als Athleten-Betreuer in Athen stationiert ist. Steffen Grimberg klärt auf über die Verschleierungstaktiken von McDonalds in Sachen Kalorien- und Fetttabellen.

Für das taz mag hat Christian Schneider Viola Roggenkamp zu ihrem Roman "Familienleben" (mehr) befragt: "Ich habe 'Familienleben' geschrieben zum einen, um meiner Mischpoche in Israel und Amerika etwas an die Seite zu stellen. Von dort kommen viele Romane über jüdisches Leben heute nach der Schoah. Dem wollte ich etwas aus jüdisch-deutscher Sicht hinzufügen. Zum anderen war es mir wichtig, keinen Roman über die Geschichte von Überlebenden zu schreiben. Sondern den jüdischen Nachgeborenen in Deutschland eine Stimme zu geben." Dominic Johnson berichtet von einem Sportfest - im Sudan. Ralph Bollmann war im thüringischen Sondershausen und hat eine Ausstellung über deutsche Kleinstaaterei besucht.

Besprochen werden unter anderem die Autobiografie von Simon Peres ("weder nobel noch weise") und ein Buch von Kenneth Lewan, das die FAZ-Berichterstattung zu Israel der Ideologie zu überführen sucht. An Belletristischem: Ralph Rothmanns neuer Roman "Junges Licht", Jakob Heins Bericht über den Krebstod seiner Mutter und gleich drei neue Kriminalromane in Kolja Mensings Crime Scene (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 21.08.2004

Die abseitigsten Geschichten schreibt immer noch Island: Aldo Keel blickt auf Glanz und Elend der hundertjährigen isländischen Heringkultur zurück: "Das Heringfieber erreichte in den wilden Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt. Einar Karason erzählt im Roman 'Die Goldinsel' von tollkühnen Männern, die sich von hohen Plattformen in die Heringhaufen hinunterstürzten, während aus Fenstern und Türen der Heringwalzer dröhnte."

Der Sprachwissenschaftler Horst Sitta verteidigt die Rechtschreibreform gegen ihre Kritiker, die vor allem einen Wortverlust beklagen. "Wörter bleiben doch, unabhängig davon, wie sie geschrieben werden, sie selbst. Ich kann die Schrift so hoch unmöglich schätzen. Eine Rechtschreibreform reformiert die Rechtschreibung, mehr nicht."

In der Beilage Literatur und Kunst betrachtet Katharina Mommsen den Einfluss der arabischen Poesie auf deutsche Dichter. Mevina Puorger erinnert an die vor dreißig Jahren gestorbene Engadiner Lyrikerin Luisa Famos. Andreas Oplatka porträtiert über den ungarischen "Reformpolitiker und liberalen Gründergeist", Graf Stephan Szechenyi.

Außerdem gibt es natürlich jede Menge Rezensionen: Besprochen werden Cedric Kahns knisterndes, lust- und qualvolles Beinahe-Roadmovie "Feux rouges" und Bücher, darunter Claudia Otts Neuübersetzung von "Tausendundeine Nacht", Robert Houghs Roman über Mabel Stark, die berühmteste Tigerdompteuse der Welt, Nagib Machfus' Erzählung "Die Reise des Ibn Fattuma" und Josan Hateros Parabel "Der Vogel unter der Zunge" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und in der Frankfurter Anthologie stellt Hanjo Kestings Schillers Gedicht "Würde des Menschen vor". Kurz ist es:

"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen,
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."

Welt, 21.08.2004

Acht Schriftsteller äußern sich in der Literarischen Welt zur Rechtschreibreform: Monika Maron, Helmut Krausser, Peter Schneider, Frank Goosen, Burkhard Spinnen, Said, Michael Lenz und Uwe Tellkamp.

Monika Maron will sich von keinem Bürokraten vorschreiben lassen, wie sie schreiben soll: "Es ist ganz gleichgültig, welche Partei wir wählen, den sich selbst als Sinn genügenden bürokratischen Apparat wählen wir immer mit. Aber wie wehrt man sich gegen etwas, das von Natur aus so machtgierig ist, das in jeden Spalt, jeden Riss im noch unreglementierten öffentlichen Leben hemmungslos hineinwuchert, das aber nicht abwählbar ist? Man kann es nur boykottieren, wenn man kann. Und diesmal können wir."

Said erinnert an einen Vorschlag zur Güte: "zur blütezeit der diskussion um die rechtsschreibreform unterbreitete harald weinrich 'Ein(en) Vorschlag zur Güte': 1. "Scharfes S" entschärfen. 2. Drei gleiche Konsonanten entzerren. 3. Nur eine einzige Kommaregel beachten. 4. Silbentrennung als unwichtig ansehen. 5. Grenzfalltoleranz üben. dieser vorschlag ist leider im getöse untergegangen. er hätte uns einiges erspart und ist auch heute die optimale lösung."

Außerdem: Bernhard Schlink bespricht ausführlich "Der Mann mit dem Fagott", die Familiengeschichte von Udo Jürgens. Anne Chaplet singt ein Loblied auf die amerikanische Krimiautorin Elizabeth George (mehr). Und "Amerikas literarischer Mystiker" David Guterson spricht im Interview über das Weibliche, den christlichen Fundamentalismus und seinen neuen Roman "Unsere Liebe Frau vom Wald".

FR, 21.08.2004

Im Kölner Museum Ludwig hat man zum Tod des Fotografen Henri Cartier-Bresson kurzerhand eine Ausstellung aus dem Jahr 1967 wieder aufgelegt. Interessant findet das Daniel Kothenschulte, der daraus viel über die Zeit gelernt hat, als die Fotografie noch nicht so richtig als Kunst betrachtet wurde: "Im Museum Ludwig kann man das Gefühl bekommen, versehentlich den Weg ins Depot eingeschlagen zu haben. Nur die ergänzenden, kleinformatigen Abzüge aus der Sammlung Gruber, darunter etliche Porträts des Fotografen aus der Hand seiner Kollegen, sind hinter Glas gerahmt. Der überwältigende Rest hingegen, zweihundert auf Spanplatten aufgezogene Arbeiten Bressons, lehnt in unterschiedlichsten Formaten an den Wänden - oft noch ein Etikett mit der Jahresangabe darauf. Die ursprüngliche Hängung ist nicht dokumentiert, so hält man es lieber mit dem Charme des Trödlers, was immer eine reizvolle Form der Annäherung ist: Fast möchte man den Wärter nach den Preisen fragen."

Außerdem: Ulrich Holbein steckt Karlheinz Stockhausen in seine Sprachhäckselmaschine. Von Einreise- und Cocktailschwierigkeiten berichtet die Schriftstellerin Antje Ravic Strubel, die mit einem Stipendium in Los Angeles war. Florian Malzacher zeigt sich erfreut über Susanne Winnackers gelungene Neuerfindung des Theaterfestivals "Welt in Basel". Eher gemischte Gefühle hat Hans-Klaus Jungheinrich zum Ende der Salzburger Festspiele - und ein erstes Resümee der im nächsten Jahr erst endenden Ära Peter Ruzicka gibt's auch schon. An der Neuköllner Oper hat Georg-Friedrich Kühn das Schauspiel einer Oper über Hannelore Kohl erlebt: "respektabel" war's. In Times Mager meditiert Ursula März über Kanzlerfotos, solche, die es gibt und solche, die man kennt, obwohl es sie gar nicht gibt.

Berliner Zeitung, 21.08.2004

Michaela Schlagenwerth verteidigt den Choreographen Felix Ruckert, den die Bild-Zeitung mit Schlagzeilen wie "Da platzt einem doch der Knoten: Fesselsex-Künstler bekommt noch einmal 150.000 Euro vom Senat" zu diskreditieren sucht. Im Magazin spricht Nike Wagner, Leiterin des Kunstfests Weimar, über Heimweh, ostdeutsche Kaffeepausen und den mächtigen Toten in ihrem Leben.

FAZ, 21.08.2004

Im Aufmacher geißelt Andreas Platthaus die germanozentrische - und dabei so hämische - Olympia-Berichterstattung von ARD und ZDF: " Wir sollen uns nach Kommentatorenmeinung fortwährend ärgern über die Dreistigkeit von hochgeförderten Athleten, die nicht siegen mögen."

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage ist Werner Spies' gestern in Dresden gehaltene Laudatio auf Gerhard Richter zu lesen: "Richter gehört früh zu den Künstlern und Intellektuellen, die gegen die unbegründbare, genialische Geste und die agile Inspiration kritisches Bewusstsein stellen." Dass Richter der einzige europäische Künstler in der Berliner MoMA-Schau ist, hält Spies übrigens für pure Kulturpolitik: "Die Entscheidung, die europäische Kunst der letzten fünfzig Jahre allein durch den Baader-Meinhof-Zyklus zu illustrieren, verweist auf ein gefährliches Europa."

Heinrich Wefing wirft einen Blick auf die mexikanische Einwanderung nach Kalifornien, die derzeit mit einiger Aufgeregtheit, wenn nicht gar Panik von Autoren wie Samuel Huntington ("Who Are We") oder Davis Hanson ("Mexifornia") diskutiert wird. Immerhin: Für die nächsten fünfundzwanzig Jahren rechnet Kalifornien noch einmal mit sechs Millionen Einwanderern.

Den relativ gelassenen Umgang der Österreicher mit der Rechtschreibreform erklärt Erna Lacker mit dem Heinweis, dass dort "Rechtschreibregeln so oder so, also ohnehin nicht richtig munden". In der Leitglosse mokiert sich "igl" über Hessens Kultusministerin Karin Wolf, die an der Rechtschreibreform festhalten möchte. In seiner Kolumne "Geschmackssachen" nimmt Jürgen Dollase die Kopisten am Herd aufs Korn. Jordan Mejias schwant bei Blättern durch amerikanische Zeitschriften, dass die New Yorker Presse dem republikanischen Parteitag keinen wohlwollenden Empfang bereiten wird. Jürgen Kesting verabschiedet "den größten französischen Sänger der letzten Jahrzehnte", Gerard Souzay. Eleonore Büning schreibt zum Siebzigsten des Musikwissenschaftlers Reinhold Brinkmann.

Besprochen werden Simon Rattles konzerte "Rheingold"-Aufführung mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment in London, ein Konzert von Franz Welser-Möst mit seinem Cleveland-Orchestra, eine Ausstellung zu dem Grafiker Ladislav Sutnar im Neuen Museum Nürnberg, und neue Platten, unter anderem von Agnetha Fältskog und aus der unsterblichen Welt der Operette.

Selbstverständlich werden auch Bücher rezensiert, darunter Dezso Kosztolanyis Roman "Ein Held seiner Zeit", DBC Pierres "Jesus von Texas" und Günter Grass' "Lyrische Beute" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 21.08.2004

Der Schriftsteller György Dalos warnt vor dem aufkeimenden Antisemitismus in Ungarn, der zwar nicht stärker sei, als in "vergleichbaren Staaten sozialistischer Provenienz", jedoch "fraglos lauter, frecher und heimtückischer als anderswo".

Weitere Artikel: Gleich drei Londoner Ausstellungen befassen sich mit dem "Wandel physiognomischer Vorstellungen in den Künsten" - Willibald Sauerländer berichtet. Die erneute Diskussion um die Gestaltung des Berliner Kulturforums rekapituliert Jens Bisky. Thomas Thiel präsentiert entmutigende Zahlen: Ein-Euro-Arbeiter gibt es längst, es sind die freien Künstler. Gottfried Knapp zweifelt an der Berechtigung der Vorschusslorbeeren, die der Weinjahrgang 2003 schon erhalten hat. Überraschend gelungen findet Christian Seidl das neue Album der Band "The Prodigy", die nie eine richtige Band war und zuletzt ohnehin nur noch ein "trauriger Witz". Ralph Dombrowski erinnert an Count Basie, der heute 100 geworden wäre. Einen kurzen Nachruf auf den Schauspieler Andreas Ebert hat Christine Dössel verfasst.

Außerdem: Reinhard Schulz hat in Salzburg von Hugh Wolff dirigierte Musik der Moderne gehört. Gemischte Gefühle hat Rainer Gansera angesichts des "Garfield"-Films - und verdächtigerweise kommt er in seiner Kritik ziemlich schnell auf Halle Berrys Catwoman zu sprechen. Alexander Menden hat in Edinburgh Fernando de Rojas "Celestina" gesehen - in einer durchaus kongenialen Inszenierung des finster-katholischen Skandalregisseurs Calixto Bieito. Aus Polen berichtet Thomas Urban von Streit um den jüngst verstorbenen Czeslaw Milosz wegen dessen "antipatriotischer Pöbeleien".

Besprochen werden unter anderem Martin Heideggers Nietzsche-Lektüren und Navid Kermanis einst in der Frankfurter Rundschau erschienene Texte "Vierzig Leben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende verkündet Ulrich Schäfer deutschlandkritische und Hartz-IV-freundliche Parolen "Vielleicht begreifen wir irgendwann, dass unsere Sozialromantik uns schadet und nicht nützt. Vielleicht kommt ja der Kanzler aus seinem Regierungsbunker, vielleicht ziehen Clement, Merkel und Stoiber über die Marktplätze der Republik. Vielleicht erklären sie uns, warum Hartz IV trotz aller Mängel richtig ist - und warum noch andere Umbauten notwendig sind. Vielleicht geht es diesem trübsinnigen, panischen, jammernden Land dann wieder besser." Marcus Jauer, auch nicht faul, bringt irgendwie Evolutionstheorie, den Quastenflosser und Florida-Rolf in einen Zusammenhang.

Außerdem: Johannes Willms hat die Pariser Künstlerkolonie "La Ruche" besucht, in der Chagall, Leger und Brancusi lebten. Die Wochenenderzählung "Tatjanas Emanzipation" stammt von dem in Deutschland als Krimiautor bekannten griechischen Schriftsteller Petros Markaris. Im Interview spricht Christian Mayer mit Ulrich Matthes über Verführer - und vor allem über Joseph Goebbels, den Matthes in der Bernd-Eichinger-Produktion "Der Untergang" spielt.