Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.09.2004. In der SZ erklärt Götz Aly, wer den modernen, sozialpolitisch warmgehaltenen Gefälligkeitsstaat erfunden hat: die Nazis. Die taz beklagt den Abschied vom Denken in Alternativen. Die Welt prophezeit die Erneuerung der Gesellschaft aus der Moma-Schlange. Leipzig brodelte nicht, schreibt die FAZ über Lafontaines Rede.

SZ, 01.09.2004

"Wer den Führer-Grusel liebt, der kommt im Bunker auf seine Kosten", meint der Historiker Götz Aly über Oliver Hirschbiegels Film "Der Untergang". Dieser zeige zwar die "letzten Meter des Absturzes in Zeitlupe", nicht jedoch "Hinweise auf die Gründe" dafür. Weder Hitler noch Goebbels seien "für sich genommen besonders aufregend" gewesen, interessant sei nur "wie und warum sie für die Deutschen zu Medien des politischen Willens wurden". Aly schreibt: "Wer den destruktiven Erfolg des Nationalsozialismus verstehen will, der sollte sich die Schauseite der Vernichtungspolitik anschauen - den modernen, sozialpolitisch warmgehaltenen Gefälligkeitsstaat. Die deutschen Soldatenfrauen erhielten im Zweiten Weltkrieg das Doppelte an Familienunterhalt wie ihre britischen und US-amerikanischen Kolleginnen. Sie verfügten über mehr Geld als im Frieden." Es war Hitler, der den "Umverteilungsstaat par excellence" errichtet habe: "Das Ehegattensplitting, das die Konservativen während der Kabinettsbildung im Jahr 2002 so mannhaft verteidigten, stammt von 1934. Die Kilometerpauschale, die der Bayerischen Landesregierung am Herzen liegt, findet sich in demselben Steuerreform-Gesetz ..."

Weitere Artikel: Thomas Thiel erklärt den Anfang der neunziger Jahre entstandenen Transhumanismus, dessen Vertreter sich aus der "kalifornischen Informationselite" rekrutierten, den "Glücksrittern des technischen Fortschritts". Jörg Häntzschel stellt den neuen iMac G5 vor, der aussieht "wie der Papa vom iPod", die Hardware "zum Verschwinden" bringt und sich auch "an die Wand hängen" lässt. Kristina Maidt-Zinke porträtiert die "kongeniale" Sopranistin Claudia Barainsky (mehr). Fritz Göttler kommentiert die heute beginnenden Filmfestspiele in Venedig. Volker Breidecker erinnert an ein Ereignis in Rüsselsheim, wo sich vor sechzig Jahren die "Mordlust eines Mobs" an amerikanischen Kriegsgefangenen entlud, denen jetzt ein Denkmal gesetzt wurde. Im Grammatikkurs "Vom Satzbau" schwärmt Oskar Pastior vom "Listenbau" und der "blauen Parataxe" ("Herrlich. Bis man anfängt mit ihr und sie einen auseinanderliest an der Stelle, an der sie grad liest").

Gottfried Knapp berichtet über den heute beginnenden Abriss des Kleinen Festspielhauses in Salzburg, das durch ein neues "Haus für Mozart" ersetzt werden soll. Alexander Kissler informiert über das Ende der Beratungen zur Sterbehilfe durch die zuständige Enquetekommission ("die notwendige Debatte gewinnt an Fahrt"). Jörg Königsdorf berichtet aus dem finnischen 10.000-Seelenort Kuhmo, wo sich das größte Kammermusik-Festival der Welt mit jährlich 40-50 000 Besuchern etabliert hat. Andrian Kreye verfolgte den Auftritt von Michael Moore auf dem Parteitag der Republikaner, wo sich der Zorn gegen ihn entlud und ihn so als "Ikone der Linken" bestätigt habe. "mea" verteidigt das Gebaren des unlängst gestorbenen Erben von Francis Bacon gegen Kritik und "falsche Freunde", und "skoh" weiß von Fahrlässigkeiten im Osloer Munch-Museum.

Besprochen werden Bücher, darunter ein Sammelband mit Aufsätzen über Projektmacher und Erfinder, ein Band über "Peenemünde - Mythos und Geschichte der Rakete" und das nun digitale Grimmsche Wörterbuch (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 01.09.2004

Auf der Meinungsseite denkt Klaus Kreimeier in seinem Schlagloch über die Schwierigkeit der Konstruktion von "nationalen Mentalitäten" nach. Ausgehend von einem Tolstoi-Zitat aus "Anna Karenina" ("Es war Freitag, und im Speisezimmer zog der deutsche Uhrmacher die Uhr auf") fragt er sich unter anderem, ob die Deutschen "für automatisches Funktionieren besonders prädestiniert" seien. Man fände, so Kreimeier, in der gegenwärtigen deutschen Politik "durchaus ähnliche Akteure und vergleichbare Strukturen, aber weitaus weniger Tragik" wieder. "Die Uhrmacher haben das Sagen. Sie werden von den Medien aufgezogen. Alle sind, genau genommen, am Ende ihrer Weisheit, aber niemand schießt sich eine Kugel durch den Kopf. Der Determinismus beherrscht die Hirne, und jeder verfolgt seine eingefahrene Spur. Keiner will Determinist sein, aber jeder nennt sein Programm alternativlos. In der Tat lässt sich die Uhrmacher-Gesinnung von heute am besten als Abschied vom Denken in Alternativen beschreiben."

Auf den Kulturseiten resümiert Eva Behrendt die 5. Internationale Sommerakademie am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm, die sich zu einem wichtigen "Trainingscamp und Kommunikationspool" für Junge Performancekünstler und Theatermacher entwickelt hat, die hier für die nächste Saison "auftanken". Niklaus Hablützel interviewt anlässlich des heute in Halle startenden Medienkunstfestivals Werleitz Biennale den Internet-Aktivisten Sebastian Lütgert (mehr), der den Begriff des "geistigen Eigentums" für überholt hält. Mit Beginn der 61. Filmfestspiele von Venedig gibt es ab heute auch wieder tägliche Berichte vom Lidokino. Den Auftakt macht Christina Nord mit einem Bericht über den obligatorischen Streit um die Leitung im Vorfeld, die der Sinologe und Ethnologe Marco Müller nun endgültig für sich gewinnen konnte.

Und hier Tom.

FR, 01.09.2004

Thomas Winkler porträtiert die Berliner Band 2raumwohnung - namentlich Inga Humpe und Tommi Eckart - und ihr neues Album "Es wird Morgen". Dabei warnt er davor, "Naivität in diesem Falle mit Unbedarftheit" zu verwechseln. "Es mag sein, dass das Paar schon zur Mittagszeit wie naturbreit wirkt, Humpe kaum einen Satz zuende bekommt und Eckart umständliche, ziellose Geschichten erzählt über hundertjährige Pianistinnen oder über Pharell Williams, deren Beitrag zum Gespräch rätselhaft bleibt. Aber die beiden haben es geschafft, mit der von ihnen propagierten Symbiose von Song und Club den gerne apostrophierten Sound von Berlin wesentlich mit zu bestimmen".

Weiteres: Daniel Kothenschulte stimmt auf die Filmfestspiele in Venedig ein, die heute Abend mit Steven Spielbergs Film "The Terminal" eröffnen. Und in Times mager informiert uns Ruth Fühner über entschieden andersgeartete Auffassungen von "hündischer Geselligkeit" in Frankreich.

Besprochen werden Sophie Dannenbergs Debütroman "Das bleiche Herz der Revolution", Alain de Bottons Überlegungen zur "Statusangst", der siebte Band der Werkausgabe von Jean Genet mit Gedichten und Larry Sultans Fotoband über das Pornofilmzentrum "The Valley" nahe Los Angeles (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 01.09.2004

Heute wird der millionste Besucher in der Berliner Moma-Ausstellung erwartet. Die Besucherschlange ist inzwischen ein Ereignis, das mit der Ausstellung konkurrieren kann. Wie lässt sich "die Nachhaltigkeit dieser sozialen Konfiguration" erklären? Ekkehard Fuhr macht einen Versuch: "Man soll nicht unterschätzen, welche Sehnsucht nach Spiritualität und Bildungsreichtum in diesem Ereignis steckt. Die MoMA-Schlange ist vital, sie zeugt sich fort. Sie ist von ganz anderer Natur als die Hartz-Protest-Schlangen, die medial immer mühseliger hochgegeigt werden. Die MoMA-Schlange wird nicht auf Dauer verschwinden. Aus ihr kommt die Erneuerung der Gesellschaft, da mag am Standort Deutschland herumbasteln, wer will."

NZZ, 01.09.2004

Georges Waser hat die Ausstellung "Swinging Sixties" in der Tate Britain besucht und fragt sich: "Aber war die Kunst der Sixties wirklich so revolutionär, wie es die Legende will?". Seine Antwort: "Was die sechziger Jahre brachten, war das lang anhaltende und schließlich katastrophale Überhandnehmen unter dem Inselvolk von Geschmack und Werten Amerikas - der Kniefall einer reichen, einheimischen Kultur vor dem grellen Glanz einer importierten, die dann statt fruchtbringend nur Ersatz sein konnte."

Weitere Artikel: Sabine Haupt schlendert über das 28. Batie-Festival in Genf und ehrt die gelungene "Verdichtung und Vernetzung aller Kunstsparten". Wo, fragt sie, "könnte man sich einen besseren Überblick verschaffen darüber, was die Westschweizer Theater-, Tanz-, Kunst- und Musikszene zurzeit interessiert und bewegt?" Marli Feldvoss stellt das Programm der 61. Filmfestspiele in Venedig vor.

Besprochen werden der dritte Band von Walter Rüeggs Geschichte der Universität in Europa und John Le Carres Roman "Absolute Freunde" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 01.09.2004

Oskar Lafontaine wurde in Leipzig auch vom FAZ-Feuilleton beobachtet. Der Auftritt hat Heinrich Wefing allerdings reichlich kalt gelassen: "Lafontaine redet und redet und redet. Redet den Platz leer. Längst schon hat ein rührender kleiner Chor begonnen, 'Alle Menschen werden Brüder' zu singen, aber viele dieser Brüder gehen davon." Auch sonst waren keinerlei revolutionäre Tendenzen zu bemerken: "Zu behaupten, die Straße tobe, der Osten koche über, ist absurd. In Leipzig jedenfalls brodelt nichts, hier tobt niemand an diesem Spätsommerabend." Und zum Schluss noch eine dialektische Volte: "Es ist ein dezidiert antirevolutionärer Umzug an diesem Montag in Leipzig, eine geradezu staatstragende Versammlung."

Weitere Artikel: Dietmar Dath informiert über transatlantische Literaturbetriebsunruhen: Dem Autor und Kritiker Dale Peck passt die ganze postmoderne Richtung nicht - und weil er das nicht ohne Gehässigkeit und Verrisslust sagt, wurde er jetzt von einem kritisierten Autor geohrfeigt. Die Feuilletons toben. Andreas Kilb bespricht "Anything Else" (mehr), den neuen Film von Woody Allen, der in den USA ganz ohne Erwähnung von dessen Namen beworben wurde. Thesen zum "Erziehungsauftrag der Rentner" verkündet Donata Elschenbroich. Der Schriftsteller Gerhard Roth porträtiert den letzten österreichischen Kaiser Karl I. von Habsburg, der gerade auf Betreiben der "pressure group" "Kaiser-Karl-Gebetsliga für den Frieden" seliggesprochen wird.

Rainer Stamm informiert über neue Erkenntnisse zum geplanten "Führermuseum" in Linz, mit dem Hitler nicht die Konkurrenz zum Louvre, sondern "eine europäischen Altmeistersammlung, kombiniert mit einer Abteilung deutscher und österreichischer Malerei des 19. Jahrhunderts" im Sinn hatte. Heimlich, still und leise werden am bedeutenden Baudenkmal Regensburger Dom gravierende Veränderung des "inneren Erscheinungsbilds" vorgenommen, darauf will Richard Strobel die Öffentlichkeit aufmerksam machen. Bernd Rüthers erinnert an den zum Stauffenberg-Kreis gehörenden Hauptmann Friedrich Karl Klausing.

Auf der letzten Seite: Ein Porträt des "Einmischers" Bernd Eichinger. Ursula Harter informiert darüber, wie Max Beckmann zu seinem an Atlantis angelehnten Amerikabild gekommen ist. Gina Thomas berichtet, dass sich in Asien Internate nach englischem Vorbild verbreiten.

Besprochen werden eine Ausstellung zum Thema "Massenware Luxusgut" im Technischen Museum Wien, ein Roman von Jana Scheerer und Karl Eibls Buch mit "Bausteinen zu einer biologischen Kultur- und Literaturtheorie" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).