Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2004. In der Zeit fragt sich Leon de Winter, ob Moslems überhaupt in der Lage sind, an der anarcho-liberalen Kultur der Niederlande teilzuhaben. Multikulti ist keine Kitschidee, insistiert aber Daniel Cohn-Bendit in der taz. Die FR besucht das neue Moma. Die SZ sinniert über islamistische Snuff Videos. In der FAZ kann Charles Simic nach der Wiederwahl George W. Bushs seine Depression nicht verhehlen. Wir verlinken auf Theo van Goghs Film "Submission".

Zeit, 18.11.2004

Im Dossier denkt der Schriftsteller Leon de Winter nach dem Mord am Filmemacher Theo van Gogh über die Unverträglichkeit von arabisch-islamischer und europäischer Kultur nach: "Der Ton des Briefs von van Goghs Mörder zeigt, dass dieser in seiner Jugend nicht die niederländische individualistische Kultur der persönlichen Verantwortung angenommen hat, sondern vielmehr die Schamkultur der Heimat seiner Eltern. Was die Frage offen lässt, ob Menschen, die in der traditionellen arabisch-islamischen Schamkultur aufgezogen wurden - und das trifft auf viele Kinder marokkanischer Einwanderer zu, wurden sie nun in Rotterdam, Amsterdam oder anderswo geboren -, überhaupt in der Lage sind, an der komplexen, an persönlicher Disziplin und persönlichem Urteil orientierten und oftmals schamlos anarcho-liberalen niederländischen Gesellschaft teilzuhaben, ohne auf ernste Anpassungsschwierigkeiten zu stoßen. Anscheinend gelingt das nur den Stärksten und Klügsten."

Den Kurzfilm von Theo van Gogh und Ayaan Hirsi Ali, "Submission", können Sie übrigens hier sehen (es dauert einen Moment und vorher gibt es kurze Werbung, aber dann kommt's).

Im Feuilleton wünscht sich der Autor Navid Kermani statt der oft geforderten öffentlichen Distanzierungsakte eine ehrliche Debatte innerhalb der islamischen Gemeinden: "Das Beispiel der Hamburger Terrorzelle um Mohammed Atta hat aufgezeigt, wie viele Muslime die Augen schließen vor den Gefahren des Extremismus. Atta und seine Gruppe fanden offenbar ein Umfeld, in dem sie zwar nur von wenigen direkt unterstützt, aber doch weitgehend geduldet wurden. Sie galten dann eben doch als Brüder im Glauben."

Lust und Furcht
überkamen Ralph Geisenhanslüke beim Hören von Eminems neuem Album: "Eminems 'Encore', zu Deutsch: 'Zugabe', besteht darin, am Ende der CD das Publikum niederzumetzeln und dann sich selbst die Kugel zu geben. Klar, ist alles metaphorisch gemeint, wissen wir. Im Rap ersetzen die Worte die Waffen. Und wenn ein Schwarzenegger im Kino alles umnietet, darf ein Rapper das erst recht. Sein Erfolg allerdings könnte irgendwann zum Problem werden. Wie lange wird er noch glaubhaft diese Wut verkaufen können? Wenn Stars mit dem Starsein hadern, ist das meist der Anfang vom Ende."

Weiteres: "Es hat sich bewegt, aber viel zu behutsam", meint Hanno Rauterberg zum neuen MoMA: "Nur zu deutlich ist hier zu spüren, wie schwer sich das MoMA damit tut, seinen modernden Modernebegriff aufzufrischen. Aus Gerhard Richters komplexem RAF-Zyklus hat man kurzerhand die Beerdigungsszene herausgerissen und gleich daneben die öden Staubsauger von Jeff Koons aufgebaut. So zeigt das MoMA von allem ein bisschen und damit nichts." Michael Naumann kann in der Randglosse nicht fassen, dass im Roten Salon der Berliner Volksbühne nicht immer Lenin gehuldigt wird. Evelyn Finger schildert, wie Helmut Richter, Christel Hartinger, Elke Domhardt und andere am Leipziger Literaturinstitut den Herbst 1989 erlebten - "in trotziger Windstille, während draußen die friedliche Revolution tobte. Mit wehenden Fahnen in den Westen zu rennen, das hätte ausgesehen, als habe man vorher nicht bis San Francisco denken können." Georg Blume berichtet von der Verleihung des Kyoto-Preises an Jürgen Habermas. Claus Spahn vermisste bei der Eröffnung von Venedigs Opernhaus La Fenice den legendären Klang. Peter Kümmel würdigt Tankred Dorst, der 2006 in Bayreuth den "Ring" inszenieren wird. Und Claudia Herstatt berichtet von der Münchner Auktionsschau "Höhepunkte der Designgeschichte".

Besprochen werden: Agnes Jaouis Sittenkomödie über die Kulturschickeria von Saint Germain "Schau mich an!" sowie Peter Konwitschnys und Ingo Metzmachers "grandiose" Inszenierung "Moses und Aron" an der Hamburger Staatsoper.

Im Aufmacher des Literaturteils stellt Peter Hamm den merkwürdigen Liebesbriefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze vor (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 18.11.2004

"So viel Raum und Licht ist man in New York nicht gewohnt," feiert Sebastian Moll Yoshio Taniguchis Erweiterungsbau für das MoMA. "Verglaste Kolonnadengänge geben immer wieder den Blick auf den nun erweiterten Skulpturgarten frei. Kein Raum ist in sich abgeschlossen - das Auge erhascht immer wieder neue und frische Blicke auf andere Räume und andere Ebenen, sowie hinaus auf die Stadt. Matte Scheiben über die ganze Raumhöhe lassen das Treiben der Straße in das Museum, so ist man zwar noch in der Stadt, aber nicht mehr Teil ihres gehetzten Beats."

Der russische Klavierpädagoge Lev Natochenny erklärt im Interview, warum Kinder möglichst früh anfangen sollten zu üben: "Das Instrument ist eine Maschine, es versteht von Talent nichts. Das Klavier versteht nur den physikalischen Anschlag, da müssen alle Ideen schon drin liegen. Klavierspielen hat wenig zu tun mit Begabung und musikalischem Verständnis, verstehen Sie, was ich meine?"

Weitere Artikel: Jamal Tuschik porträtiert den Schriftsteller Martin Mosebach, der den diesjährigen "Blauen-Salon-Preis" des Frankfurter Literaturhauses erhält. In der Kolumne Times Mager beschreibt Martina Meister den vor zehn Jahren verstorbenen französischen Staatspräsidenten Francois Mitterand als schillernden Helden im schummrigen Zwielicht zwischen Krimi und Liebesroman. Auf der Medienseite interviewt Oliver Gehrs den Theaterregisseur Volker Lösch, der von Sabine Christiansen verklagt wurde, weil in seiner Dresdener Inszenierung von Gerhard Hauptmanns "Die Weber" eine Figur davon spricht, sie ermorden zu wollen.

Besprochen werden Nick Caves neues Album "Abattoir Blues / The Lyre Of Orpheus", Kerry Conrans Film "Sky Captain and the World of Tomorrow", Joseph Vilsmaiers Stifter-Verfilmung "Bergkristall" und Agnes Jaouis Film "Schau mich an!".

TAZ, 18.11.2004

"Multikulti ist keine Kitschidee konfliktfreien Zusammenlebens, sondern die Beschreibung der Realität", verteidigt Daniel Cohn-Bendit in der tazzwei die Idee einer multikulturellen Gesellschaft. "Was also meint das Gerede vom Ende der Multikultigesellschaft? In der Konsequenz die Rückführung von Millionen Migranten aus Deutschland. Wer die multikulturelle Gesellschaft verabschiedet, ist entweder ein Idiot oder ein Verbrecher."

Im Kulturteil sind jüdische Solidaritätsadressen (u.a. von Dani Levy und Micha Brumlik) an liberale Muslime abgedruckt, die in Berlin eine Anti-Terror-Demo organisiert haben: "Wir sind bei Euch!" Sebastian Moll erklärt, warum die neue US-Außenministerin Condolezza Rice noch nie als Identifikationsfigur der schwarzen oder der feministischen Bewegung taugte. Sabine Leucht porträtiert de jungen Theaterregisseur Florian Fiedler.

Besprochen werden Terry Zwigoffs böse Komödie "Bad Santa", Agnes Jaouis Komödie "Schau mich an!" (dazu gibt es ein Interview mit der Regisseurin), Peter Payers' Sozialtragikomödiensatire "Ravioli" und Joseph Vilsmaiers Stifter-Verfilmung "Bergkristall".

Schließlich Tom.

SZ, 18.11.2004

"Früher waren solche Aufnahmen teuer. Und verboten. Wer sie betrachtete, galt als pervers und machte sich strafbar. Man nannte diese Aufnahmen 'Snuff Movies', und sie zeigten, wie ein Mensch live getötet wurde. Heute kann man sie im Internet herunterladen. Oder in den Nachrichten ansehen." Petra Steinberger beschreibt grausame Ermordungen von Geiseln im Irak als "Snuff-Propaganda" und Mittel der psychologischen Kriegsführung. "Eine Studie der Rand Corporation kam bereits 1977 zu dem Schluss, dass Geiselnahmen nicht irrational oder ineffektiv sind; es besteht eine Chance von 80 Prozent, dass die Terroristen dem Tod oder ihrer Gefangennahme entgehen; eine Chance von 50 Prozent, dass wenigstens einige ihrer Forderungen erfüllt werden; und die hundertprozentige Wahrscheinlichkeit von Öffentlichkeit und Werbung. Die Politik 'keine Konzessionen' wirkt keineswegs abschreckend, sondern beeinflusst eher die Art der Geiselnahme als ihre Häufigkeit - zum Ziel der Kidnapper wird Propaganda statt Konzessionen."

Ingo Petz hat den letzten Deutschen im Kaukasus besucht: "Viktor Klein ist der wohl letzte Nachfahre der Schwaben, die sich ab 1819 im Südkaukasus, auf dem Gebiet des heutigen Aserbaidschan, per Einladung des Zaren Alexander I. ansiedelten. Genauer der letzte Nachfahre, der einen deutschen Namen trägt und noch ein bisschen Schwäbisch kann."

Weitere Artikel: Joachim Dyck erklärt uns, warum sich deutsche Universitäten mit dem Fund Raising bei Ehemaligen schwer tun: "Der Abschied von der Universität verläuft anonym, die Institution hat als Mittelpunkt des sozialen Lebens keine Rolle gespielt. Vielleicht bleibt ein Gefühl für die Stadt übrig, in der man lebte. Und unter diesen Bedingungen sollen Alumni-Clubs für Spenden sorgen?" Bernd Graff schreitet unterschiedliche Argumentationsfronten in der Frage "Wie schädlich sind gewalttätige Video-Spiele" ab. Susan Vahabzadeh berichtet aus Hollywood von der Furcht der liberalen Kinomacher vor einem Rechtsruck. Frank Arnold befragt Ken Loach zu seinem neuen Film "Just A Kiss". "bch" schließlich bereitet uns auf den bevorstehenden weihnachtlichen Kaufrausch vor. Und Alexander Kissler kommentiert das Ende des Rechtsstreites zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Union Liberaler Juden, die sich gegen dessen Alleinvertretungsanspruch durchgesetzt hat und auf richterlichen Beschluss jetzt am Staatsvertrag mit der Bundesrepublik beteiligt wird.

Besprochen werden Peter Tims neuer Film "Mein Bruder ist ein Hund", Agnes Jaouis Film "Schau mich an!", Ömer Faruk Soras Science-Fiction-Komödie "G. O. R. A.", neun europäische Minidramen von je 20 Minuten am Zürcher Schauspielhaus, die Design-Ausstellung "Change" mit Karim Rashids "Blobjects" in Münchens Pinakothek der Moderne und Bücher, darunter Patrick Roths Erzählband "Starlite Terrace" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 18.11.2004

War die vielerorts bewunderte Toleranz, das friedliche Miteinander der niederländischen Multikulturalität etwa nur eine spießbürgerliche Fiktion, fragt sich Roman Bucheli angesichts der jüngsten Demonstrationen, Ausschreitungen und Übergriffe in der post-van-Gogh-Ära. Nicht ganz, aber das, was unter dem Multikulti-Label firmierte, war schon seit Jahren mehr ein Neben- als ein Miteinander und führte zur Isolation auf Seiten der Immigranten. "Wenn die Abschottung geradezu aus politischer Korrektheit gefördert wird - mit staatlich finanzierten Schulen für Minderheiten etwa - und wenn ein solches Nebeneinander als kulturelle Errungenschaft gefeiert wird, mag zwar der Anschein von friedlicher Koexistenz entstehen und kann die Multikulturalität ihre Blüten treiben. Allzu leicht aber, das zeigen die Ereignisse in den Niederlanden, schlägt eine so verstandene Toleranz, die in Wahrheit Indifferenz ist, zunächst in Argwohn und dann in Hass um."

Besprochen werden das neue Album von Eminem ("souverän und abwechslungsreich ... teilweise konventionell"), der Dogma-Film "In deinen Händen" von Annette K. Olsen, die "irgendwie" um das Thema "Stadt" kreisende Ausstellung ArchiLab in Orleans, ein Konzert von Tom Waits im Berliner Theater des Westens und Bücher, darunter Liane Dirks' Roman "Narren des Glücks" und eine Streitschrift gegen die "kleinen und großen Heucheleien" der Geisteswissenschaften von Hans Ulrich Gumbrecht (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 18.11.2004

Der Lyriker Charles Simic (mehr hier) nimmt den Abgang Colin Powells zum Anlass, um in den Chor der deprimierten Stimmen nach Bushs Wiederwahl einzustimmen. Mit Powell habe er jedenfalls so wenig Mitleid wie mit John Kerry, sagt er eingangs: "Diese beiden Männer, die ihrem Land in der Vergangenheit hervorragend gedient hatten, erwiesen sich letztlich als Feiglinge. Beide wussten sehr viel klarer, als sie es je aussprachen, dass es töricht war, gegen den Irak in einen Krieg zu ziehen, und sie scheuten sich, die offensichtlichen Konsequenzen klar zu benennen. Sie folgten der Sichtweise des Präsidenten, obwohl sich längst gezeigt hatte, dass sie aus Lügen und Selbsttäuschungen bestand. Viele Amerikaner fühlten sich hintergangen."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier trifft den Niederländer Carel Halff zum Gespräch, der den Konzern Weltbild im Auftrag der katholischen Kirche mit Billigbüchern zum Aldi der Literaturbranche machte. Michael Jeismann hörte in Essen einigen Reden Adolf Muschgs über die große Frage "Was ist europäisch?" zu. Dietmar Dath glossiert ein kleines Missgeschick des Science-Fiction-Autors G.P. Taylor, der aus Versehen das Manuskript zu seinem nächsten Roman verbrannte und nun offensichtlich neu anfangen muss. Hans-Peter Riese gratuliert dem Maler Oskar Holweck zum Achtzigsten

Auf der Medienseite informiert uns Jürg Altwegg, dass der Unternehmer Vincent Bollore bei der Pariser Zeitung Liberation einsteigt. Michael Hanfeld kritisiert die deutsche Debatte anlässlich der Bilder eines amerikanischen Soldaten, der einen verletzten Aufständischen in Falludscha erschoss. Jörg Bremer meldet, dass die israelische Zeitung Jerusalem Post an ein Investorenkonsortium verkauft wurde (nicht an Haim Saban wie lange gemutmaßt).

Auf der Kinoseite resümiert Andreas Kilb das Filmfestival von Sevilla, und Peter Körte meldet, dass sich der Hauptsponsor Sat 1 von der Berlinale verabschiedet - ein neuer Sponsor soll aber schon gefunden sein.

Auf der letzten Seite besucht Alexandra Kemmerer den Vordenker des Empire und jetzt der Multitude Michael Hardt in Durham, North Carolina, wo er an der Duke University lehrt (Hardt äußert sich auch zu Bushs Wiederwahl: "Die Präsidentenwahl sei eine globale gewesen, wohl die erste. George W. Bush repräsentiere, wie ein Feudalherr, die ganze Welt - eine Form appropriierter Repräsentation im Sinne der von Max Weber geprägten Typologie.") Paul Ingendaay meldet die Entdeckung eines neuen Augenzeugenberichts über die Niederlage der Armada (wer spanisch kann, kann hier nachlesen). Und Reiner Burger stellt die neue Wissenschafts- und Kunstministerin des Landes Sachsen, Barbara Ludwig, vor.

Besprochen werden ein Konzert des norwegischen Saxofonisten Trygve Seim und seines Ensembles beim Festival Enjoy Jazz in Mannheim, eine neue (von Andreas Platthaus ungnädig aufgenommene) Folge des "Exorzisten", eine "Zauberflöte" und "Haroun" nach Salman Rushdie als Kinderoper in New York und ein "Lear", inszeniert von Tadashi Suzuki in Moskau.

Online finden wir jetzt die in der letzten Woche veröffentlichte Großinvektive des Großkritikers Gerhard Stadelmaier gegen seine kleineren Kollegen, die so unbeantwortet verhallte, und Hans Dieter Seidels schöne Kritik des Films "Schau mich an!" von Agnes Jaoui und Jean-Pierre Bacri.