Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.01.2005. In der FAZ lanciert Michael Lentz zehn Thesen zur Lage der deutschen Poesie. Diagnose: Sie ist zu brav, aber eine bessere gibt es nicht. Die Welt veröffentlicht einen Aufruf von Bill Gates und Bono zur Verbesserung der Welt noch in diesem Jahr. Die NZZ unterwandert die Eiserne Mauer zwischen Indien und Pakistan. Die SZ bringt vier Seiten zu Einstein.

NZZ, 03.01.2005

Pop kann also doch noch subversiv sein! Claudia Kramatschek berichtet von der zunehmenden Unterwanderung der eisernen Mauer zwischen Indien und Pakistan: "Die Mehrzahl der pakistanischen Haushalte etwa wird allabendlich einen der zahlreichen indischen TV- Kanäle auswählen, deren Einschaltquoten den pakistanischen Staatssender PTV vor Neid erblassen lassen. Dort kann man - übrigens Seite an Seite mit amerikanischen Channels, die leicht bekleidete Damen zeigen - nicht nur Serien wie 'Shri Krishna' bestaunen, sondern vor allem all die Hindi-Filme aus Bollywood konsumieren, die eigentlich seit Dekaden verboten sind - doch nunmehr für wenige Rupien auch in jedem der Videoshops angeboten werden. Indische Filmdiven und Filmsongs sind somit längst Bestandteil der pakistanischen Alltagskultur; wo und wann immer etwa eines der rund 70 Millionen Handys in Pakistan klingelt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit ein indischer Filmsong als Erkennungsmelodie ertönen."

Auch sonst ist das Feuilleton schön international: Die Dramarturgin Anneli Klostermeier führt uns durch Londons New-Writing-Szene, wo sich außerhalb des Westends und im Gegensatz zum deutschsprachigen Regietheater das Autorentheater etabliert hat -und zwar "mit Profil, Mut und Klasse": "Das dramatische Schreiben ist für die Briten etwas, was man lernen kann und wozu sie ihren Nachwuchs ermutigen möchten. Durch diese unelitäre Einstellung kommen an den New-Writing-Häusern Geschichten und Stimmen aus allen Milieus zusammen. Das ist spannend für die Zuschauer, die sich gerne einlassen auf den Thrill des ersten Mals in ehemaligen viktorianischen Hotels, Fabrikhallen und Hinterzimmern alter Pubs." Und Urs Schoettli erzählt, wie die Pekingoper, kaum dass sich von der Kulturrevolution erholt hat, gegen den Zeitgeist behaupten muss.

Besprochen werden zwei Ausstellungen zu Alexei von Jawlensky in Wiesbaden, eine Schau der Erotika aus der Bibliothek Nordmann in der Fondation Martin Bodmer in Cologny.

Welt, 03.01.2005

Die Welt veröffentlicht einen dramatischen Aufruf von Bill Gates und Bono, noch in diesem Jahr Armut und Hunger in der Welt abzuschaffen: 2005 findet eine "einmalige Menge von Gipfeltreffen" statt, auf denen sich die Führer aller industrialisierten Länder zu vier wichtigen Schritten entschließen sollten: "Erstens: Verdoppelung der effektiven Entwicklungshilfe ... Zweitens: Die armen Länder brauchen nicht nur Schuldenreduktion, sie brauchen einen kompletten Schuldenerlass. Drittens: Abschaffung unfairer Handelsregeln, so dass die Entwicklungsländer aus eigener Kraft auf die Füße kommen können. Viertens: Förderung der Globalen HIV-Impfungs-Einrichtung, um so die Forschung aggressiver vorantreiben zu können ... Die Geschichte dieses Jahres wird ihre Verzögerer und ihre Anführer haben, und wir werden in einem Jahr sehr genau wissen, wer was war. In der Zwischenzeit liegt es an uns, womit unsere Generation in Erinnerung bleiben wird. Mit dem Internet? Mit dem Krieg gegen den Terror? Oder damit, dass der Geburtsort eines Kindes nicht länger darüber entscheidet, ob es weiter leben kann?"

FAZ, 03.01.2005

Der Lyriker Michael Lentz ("Aller Ding") legt zehn Thesen zur Lage der Poesie in Deutschland vor. Einerseits heißt es da in These IV: "Peter Rühmkorf titelte 'Strömungslehre'. Keine Strömungen derzeit, höchstens Brisen und Rettungsschwimmer, kein Arschloch der Jahrtausendwende. Es herrscht weitgehend eine Bravheit, dass die Verdauungsorgane ihre Tätigkeit einstellen sollten." Und andererseits in These IX: "Die deutschsprachige Poesie ist derzeit die international Bedeutsamste. Allein schon Friederike Mayröcker zu nennen genügt. Beweis: Es gibt keine Gegenbeweise."

Auf der Sachbuchseite nimmt Lorenz Jäger das Erscheinen einer Geschichte der RAF (Butz Peters: "Tödlicher Irrtum" - Die Geschichte der RAF, Argon-Verlag) zum Anlass für scharfe Angriffe auf den Autor Peter O. Chotjewitz, den er des Sympathisantentums bezichtigt und für eine Forderung nach weiterer Nachforschung gegen "Citizen Schily", der seinerzeit als Rechtsanwalt für die RAF wirkte: "Wer den Innenminister kürzlich bei Sabine Christiansen sehen konnte, wie er im Ton eines Ober-Sheriffs jedem über den Mund fuhr, der den leisesten Dissens zur EU-Türkei äußerte, findet in dem schneidend-anklagenden Ton, den er in Stammheim anschlug, manche Parallelen, sei es auch nur im kaum gezügelten Willen zur Macht." Wer für den Eintritt der Türkei in die EU ist, muss auch mal mit Terroristen sympathisiert haben!

Weitere Artikel: In der Leitglosse äußert Christian Geyer fromme Gedanken zur Tsunami-Katastrophe. Heinrich Wefing sieht den Berliner Kultursenator Thomas Flierl nach dem Rücktritt Christoph Heins von der ihm versprochenen Intendantenposition am Deutschen Theater in der Kritik. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Jazzklarinettisten Artie Shaw. Nilas Maak gratuliert dem Architekten Meinhard von Gerkan zum Siebzigsten. Der Historiker Peter Bender kritisiert die Schleifung slawistischer Institute an zahlreichen deutschen Universitäten und besonders an der Freien Universität Berlin. Edo Reents gratuliert dem Rockmusiker Stephen Stills zum Sechzigsten. Bettina Erche beschreibt Umbaupläne für das Landesmuseum Mainz.

Auf der Medienseite empfiehlt Michael Jeismann eine Serie über Justizirrtümer, die heute in der ARD beginnt.

Auf der letzten Seite legt Irmela Hijiya-Kirschnereit, ehemals Direktorin des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio (mehr hier) einen Essay über das Selbst- und Fremdbild Japans als eines Lands des Schönen vor. Katja Gelinsky beschreibt, wie die Kreationisten mit dem Trojanischen Pferd der Theorie des "Intelligent Design" (Artikel bei Wikipedia) Zugang zum Biologie-Unterricht amerikanischer Schulen suchen. Und Dirk Schümer berichtet, dass der Prozess der Seligsprechung Pius XII. durch neue Dokumente ins Stocken gerät - demnach hat der Papst 1946 gefordert, dass jüdische Kinder, die zum Schutz vor den Nazis getauft worden waren, nicht aus der Obhut der Kirche entlassen werden sollten.

Bersprochen werden eine Dramatisierung von Lars von Triers Film "Idioten" in Frankfurt, eine Ausstellung zum Gedenken an den Bildhauer Ernst Rietschel in Dresden und Sachbücher, darunter zwei neue Bände des Kunsthistorikers Reinhard Liess über die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts und über Velazquez.

FR, 03.01.2005

"Idioten eben, aber auch Schauspieler." Peter Michalzik hält Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Lars von Triers Dogma-Film "Idioten" in der Frankfurter Theater-Außenstelle Schmidtstraße für unvollendet, aber auch interessant. "Zunächst mal sind diese Idioten Instant-Theater mit allen Vorzügen und Nachteilen. Wie bei löslichem Kaffee ist der Geschmack nicht differenziert, aber der Genuss desselben ist schnell und unkompliziert. Da wird vieles an- und aufgerissen, viel auf- und abgetreten, viel Musikuntermalung von Hand gemacht: Mehr Output bei weniger Probenzeit war nie (...) Mit einem Wort: Wir waren auf einer Probe. Und Theater kann, eine alte Theatereinsicht, nie schöner und vor allem wahrer, aber auch banaler, als während der Probe sein."

Weitere Artikel: Hans-Jürgen Linke verabschiedet den Klarinettisten und Bigband-Leader Artie Shaw. Der Antipode von Benny Goodman und Schöpfer des Klassikers Begin the Beguine (Download im MIDI-Format hier, zum Anhören in der Version von Perry Como hier) ist im Alter von 94 Jahren verstorben. Jamal Tuschick schickt Impressionen von seiner Frankfurter Silvesternacht. Harry Nutt sinniert in Times mager über das Biblische an der Flutkatastrophe in Südostasien. Kurz gemeldet wird außerdem, dass der Tsunami auch einige Stätten des Weltkulturerbes beschädigt habe. Auf der Medienseite zieht Silke Hohmann den Hut vor der Design-Zeitschrift form, die 1957 gegründet nun ihre 200. Ausgabe feiert und immer "eher auf Substanz bedacht war als auf Effekt".

Besprochen wird Elmar Goerdens Version von Becketts "Warten auf Godot" im Münchner Residenztheater.

TAZ, 03.01.2005

In der Integrationsdebatte plädiert Niels Werber auf den ersten Blick recht taz-untypisch für eine liberale Law-and-Order-Politik. "Tatsächlich lässt die Herrschaft des Gesetzes den Migrationsgruppen den allergrößten Freiraum für ihre kulturelle Identitätsbildung. Denn kein Gesetz schreibt vor, wie man in einem von weiblichen Gästen unbehelligten kurdischen Verein Domino spielt und Tee trinkt, ob jemand auf der Straße Schleier oder Turban trägt, ob Spätaussiedler untereinander russisch sprechen, ob Muslime den Koran auf Arabisch oder Juden die Thora auf Hebräisch lesen." Das CDU-Modell der Leitkultur dagegen ziele auf weit mehr, nämlich die Assimilation der Werte, schreibt Werber. "Es sucht in der gesamten Gesellschaft Einfluss darauf auszuüben, dass die Migranten nicht häufiger in Konflikt mit dem Recht geraten als Deutsche, indem es beide Gruppen mit dem Ziel ihrer statistischen Ununterscheidbarkeit integriert. Wer wollte dies auch nur wollen?"

Weitere Artikel: Cristina Nord besucht die Dreharbeiten zu Ulrich Köhlers "Montag kommen die Fenster" in Kassel. Köhler, der für sein Spielfilmdebüt "Bungalow" den Hessischen Filmpreis erhalten hat, setzt auf verschlossene Figuren und wenig Dialog, berichtet Nord. Christian Bröcking schreibt den Nachruf auf den Swing-Star Artie Shaw, der es auch als Scheidungsexperte zu Ruhm brachte.

Besprochen wird Hunter S. Thompsons Frühwerk "The Rum Diary" in der deutschen Erstübertragung.

Und Tom.

SZ, 03.01.2005

Das Einstein-Jahr hat begonnen, und die SZ lässt es sich nicht nehmen, gleich in die Vollen zu gehen und widmet dem Entdecker der Relativitätstheorie vier Extra-Seiten im Feuilleton. Fritz Göttler untersucht, was den Mythos Einstein ausmacht und zitiert Roland Barthes. "Es gibt ein einziges Geheimnis der Welt, und dieses Geheimnis findet Platz in einem Wort; das Universum ist ein Stahltresor, zu dem die Menschheit die Chiffre sucht. Einstein hat sie fast gefunden."

Des weiteren schildert Jürgen Neffe Einsteins Beziehung zu Gott. Jürgen Renn betont die Bedeutung der Denkkollektive, in die Einstein eingebunden war. Jürgen Ehlers fragt sich, was von der Relativitätstheorie geblieben ist. Martin Urban widmet sich dem Verhältnis zu Sigmund Freud. Nur aufgelistet werden eine Auswahl an Neuerscheinungen zum Thema. Gerd Graßhoff erzählt aus Einsteins Zeit in Bern und von den Wochenmarktbesuchen in Filzpantoffeln. Johan Schloemann verweist auf Einsteins interdisziplinarisches Interesse. Christoph Schrader informiert, dass manche Überlegungen zum Teil erst heute überprüft werden können. Ulrich Kühne entdeckt das Eigenleben von Einsteins Gedankenexperimenten. Hubert Filser klärt, warum es für die Relativitätstheorie keinen Nobelpreis gab. Patrick Illinger lobt die Skepsis des Wissenschaftlers auch den eigenen Gedanken gegenüber.

Im weiteren Feuilleton stellt Birgit Sonna Stefan Kalmar vor, den neuen Leiter des Münchner Kunstvereins. Anke Sterneborg spricht mit Jamie Foxx, dem Ray-Charles-Darsteller, über den Schock des plötzlichen Erfolgs. Ralf Dombrowski verabschiedet den in Kalifornien verstorbenen Jazz-Klarinettisten Artie Shaw. Dirk Meyhöfer schreibt zum Siebzigsten des Architekten Meinhard von Gerkan. Und Fritz Göttler spekuliert mit dem Guardian über den Aufenthaltsort der Asche von Luis Bunuel. Auf der Literaturseite werden berühmte literarische Zitate versammelt und auch erläutert, unter anderem Kafkas schneidendes Diktum: "Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." Auf der Medienseite empfiehlt Holger Liebs den Comic-Schwerpunkt auf Arte.

Besprochen werden Elmar Goerdens Abschied aus München mit Becketts "Warten auf Godot" am Residenztheater, Anna Viebrocks und Johannes Harneits' musikalisch szenische Aufbereitung von Heimito von Doderers "Dämonen" in Berlin ("Wieder einmal zeigt sich, dass ein Abend aus dem Geist der Dekonstruktion Leere hinterlässt", weiß Jürgen Otten) sowie Kwang-hoon Lees Kampffilm "Legend of the Evil Lake".