Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.01.2005. In der FAZ bekennt Michael Crichton, dass ihn die Katastrophenszenarien der Medien immer kälter lassen. In der Welt erklärt Wong Kar-wai, warum er Fassbinder lieber mag als Wenders. In der SZ klagt Richard Chaim Schneider, dass den Juden in diesem Jahr des Gedenkens die Statistenrolle zugewiesen wurde.  Die NZZ meldet, dass sie ihre 225 Jahrgänge digitalisieren will.

FAZ, 14.01.2005

Altern hat auch sein Gutes, wenn man dem Bestseller-Autor Michael Crichton (hier ein Auszug aus seinem neuesten Roman "State of Fear") glaubt. Er ist 62 und gesteht auf der letzten Seite des FAZ-Feuilletons, dass ihm die Katastrophenszenarien der Medien immer weniger Angst machen, und er erinnert an Voraussagen, die uns eine Bevölkerungsexplosion oder Rohstoffknappheit an die Wand malten. In den Siebzigern glaubte man auch an die Abkühlung des Planeten: "1975 verkündete Newsweek 'unheilvolle Anzeichen für eine beginnende Veränderung der Wettermuster (. . .) mit weitreichenden politischen Auswirkungen für nahezu jede Nation'. Wissenschaftler prophezeiten, dass 'die daraus entstehenden Hungersnöte katastrophal sein könnten'. Heute steht jedoch fest, dass die Temperaturen zu dem Zeitpunkt, als Newsweek diese Befürchtungen abdruckte, bereits wieder stiegen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher interpretiert der französische Philologe Jean Bollack den jüngst aufgefundenen Brief Paul Celans an Ernst Jünger (mehr hier) als Artikulation des Trennenden zwischen den beiden, in der verwegenen Hoffnung, dass sich Jünger dennoch für Celan einsetzen möge. Jürgen Kaube schreibt zum Tod des Altphilologen Manfred Fuhrmann. Patrick Bahners schreibt eine launige Leitglosse über die Nazipanne des Prinzen Harry. Wolfgang Schneider wirft einen Blick auf kommende Manifestationen des Schillerjahrs. Dieter Bartetzko trauert um den wahrscheinlichen Verlust der Frankfurter Kleinmarkthalle. Katja Gelinsky informiert über einen Steit am amerikanischen Supreme Court über die Strafzumessungsrichtlinien.

Auf der Medienseite berichtet Heinrich Wefing über eine Renovierung der betagten Zeitschrift Internationale Politik. Gina Thomas schildert Auseinandersetzungen um ein von der BBC ausgestrahltes blasphemisches Musical und einen Big Brother-Auftritt der Feministin Germaine Greer. Und Michael Hanfeld hat Details zu einem Streit zwischen dem WDR und der Staatskanzlei des Landes NRW recherchiert.

Auf der letzten Seite berichtet Andreas Rossmann über ein Gerichtsverfahren, das klären soll, welche Firma die Rechte an der weiteren Fertigung der Möbelentwürfe Marcel Breuers hat. Und Henrike Rossbach setzt die FAZ-Leser über die Existenz des Liedes "Schnappi, das kleine Krokodil" in Kenntnis.

Besprochen werden Oliver Stones filmische Castro-Hagiographie (mehr hier), einige Abende eines Richard-Strauss-Festivals unter dem Dirigenten Christian Thielemann an der Deutschen Oper Berlin, Steve-Reich-Konzerte des Ensemble Modern in Frankfurt, eine große Veronese-Ausstellung in Paris und ein Abend des musikalischen Performers Franz Wittenbrink in München.

Welt, 14.01.2005

Regisseur Wong Kar-wai ("2046") erzählt im Gespräch mit Hanns-Georg Rodek, was er an Fassbinders Filmen so bewundert: "Seine Frauen. Wie er seine Frauen inszeniert. Es sind starke Frauen, und er verwickelt sie stets in ein melodramatisches Geschehen. Das bewundere ich an ihm. Vergleichen Sie das mit Wim Wenders, den ich jüngst bei einem Mittagessen getroffen habe: Bei ihm gibt es keine Frauen."
Stichwörter: Wenders, Wim

FR, 14.01.2005

"'Die deutsche Besatzung Frankreichs war nicht besonders unmenschlich'. Mit diesem Satz hat sich Jean-Marie Le Pen, Präsident des rechtsextremen Front National, mal wieder ins Gespräch gebracht", berichtet Martina Meister. Dieter Rulff sieht die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei. Und Daniel Kothenschulte stellt Martin Parrs Kompendium "The Photobook" vor.

TAZ, 14.01.2005

Der Kulturhistoriker Sander L. Gilman vergleicht im Interview die Integration der Juden im 19. Jahrhundert mit der von Muslimen heute. Er sieht viele Parallelen, aber auch einen wichtigen Unterschied: "Das Problem der Muslime ist, dass ihnen die 'Bildung', die den Juden vom 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert alles ermöglicht hat, schwer zugänglich ist. Sich über die Schulen und Universitäten wirtschaftlich und gesellschaftlich zu integrieren, ist heutzutage mit zu vielen Schwierigkeiten verbunden. Die Gefahr ist, dass eine permanente Unterklasse entsteht, wenn es die Mehrheit der Migranten in mehreren Generationen nicht schafft, sich über den Faktor 'Bildung' zu integrieren. Die europäischen Länder müssen die Bildungseinrichtungen für Minderheiten zugänglich machen. Das läuft in England und Frankreich allerdings bedeutend besser als in Deutschland."

Besprochen werden die neuen CDs der Rapper Nas und Saul Williams sowie Oliver Stones Castro-Film "Commandante".

Schließlich Tom.

NZZ, 14.01.2005

Der Soziologe Ulrich Beck macht sich Gedanken über Naturkatastrophen in der heutigen globalisierten Welt. Drei Folgen skizziert er: Zum einen stifte die Katastrophe "Weltöffentlichkeit. Sie macht den ausgeschlossenen Anderen zum Nachbarn in der Falle, zu der die Welt geworden ist. Sie zwingt zum kommunikativen und tätigen Brückenbau über alle Sprachgrenzen und Gegensätze von ethnischen Gruppen, Nationen, Religionen hinweg." Zum anderen suchen entzweite Welten jetzt notgedrungen "nach Wegen der Zusammenarbeit. Da liegt der ideologische Missbrauch nahe. Aber das eine oder andere könnte auch gelingen: Eine entzweite Insel, Sri Lanka, versucht, über die Wunden des Bürgerkriegs hinwegzukommen." Und schließlich "zeichnet sich ab, dass in der Dritten Welt die Fremdgefährdung durch den Westen als Gefahrendefinition an Boden gewinnt. Danach sind es die Industrienationen mit ihrem umweltzerstörerischen Verhalten, die für immer mehr Naturkatastrophen die Verantwortung tragen." Am Ende könne die Flutkatastrophe "einem kosmopolitischen Blick zum Durchbruch verhelfen oder aber dem antimodernen Fundamentalismus Auftrieb geben".

Weitere Artikel: Marc Zitzmann stellt das neue, von Francis Soler gebaute Kulturministerium in Paris vor. Hans-Albrecht Koch schreibt zum Tod des Altphilologen Manfred Fuhrmann.

Besprochen werden die Ausstellung "Les Allobroges" im Genfer Musee d'art et d'histoire und ein Konzert von R.E.M. in der ausverkauften Arena Genf.

Auf der Filmseite stellt Jörg Becker den armenischen Regisseur Artavazd Peleschjan vor, über dessen bedeutendsten Film "Unser Jahrhundert" gerade ein Buch erschienen ist. Zit. meldet, dass die französische Filmwirtschaft 2004 ein Rekordjahr verbuchen konnte. Besprochen werden Volker Schlöndorffs Film "Der neunte Tag", Mike Leighs filmisches Frauenporträt "Vera Drake" und Dieter Gränichers Episodenfilm "Ferien im Duett".

Die Medien- und Informatikseite meldet stolz, dass zur Zeit die 225 Jahrgänge der NZZ elektronisch erschlossen werden. Im Sommer soll die Arbeit abgeschlossen sein.

Ras. berichtet vom Neujahrstreffen der Schweizer Medienbranche: "Während die Pressevertreter das Wort Konkurrenz geradezu scheuten, inszenierten die Vorkämpfer der digitalen Welten einen sportlichen Wettkampf. Swisscom-Chef Jens Alder und Cablecom-Chef Rudolf Fischer veranschaulichten in ihrem Rededuell, wie Konkurrenz die Entwicklung vorantreibt. Dank dieser belege nun die Schweiz bei der Nutzung von Breitband-Internet einen Spitzenplatz, sagte Fischer." Die Presse dagegen, wurde festgestellt, muss zusammenarbeiten, um mit dem Internet konkurrieren zu können: Mit Blick auf die USA empfahl Moritz Wuttke, bei der PubliGroupe für Business Development zuständig, "den Verlegern, im Internet-Rubrikenmarkt zusammenzustehen und so Branchenfremde zu bekämpfen - das haben Schweizer Verleger bereits versucht, allerdings erfolglos. 'Es gibt keinen Umschwung, wenn Sie nicht die richtigen Leute um sich haben': Diesen Ratschlag gab der Geschäftsführer der Süddeutschen Zeitung, Klaus Josef Lutz, dem Publikum mit auf den Weg."

Recht skeptisch stellt Stefan Krempl einen neuen Dienst von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales vor: "Wikimedia heißt das jüngste Kind der Gemeinschaft. Hier sollen tagesaktuelle Nachrichten durch eine Kooperation von Amateuren entstehen. Es handle sich um ein Experiment, schwächt Wales allzu hohe Erwartungen ab. Eine Art Abfallprodukt zur Verwertung der Energie, die bei Wikipedia aufgrund ihres zu ereignisbezogenen Charakters nicht berücksichtigt werden könne. Doch der Anspruch ist groß: Die Wikimedianer sollen laut ihrem Propheten die Voreingenommenheit eliminieren, die sich auch in Qualitätsblätter einschleicht."

SZ, 14.01.2005

"Das Jahr 2005 böte noch einmal, ein letztes Mal, die Möglichkeit, die jüdischen Zeitzeugen zu hören, zu befragen, auf sie einzugehen und von ihnen zu lernen. Nur - wird das geschehen", fragt Richard Chaim Schneider und antwortet sich selbst bitter: "Wohl kaum. Man kann davon ausgehen, dass Juden in dem diesjährigen Gedenktrubel lediglich die Statistenrolle zugewiesen wird. Gewiss, sie werden überall als Ehrengäste dabei sein. Man wird sich um sie bemühen, ihnen Redezeit zubilligen und ihnen Sendungen im Fernsehen widmen. Doch wie Gedenken generell zusehends zum sinnentleerten Ritual verkommt, so droht diese Gefahr auch in der medialen Aufbereitung... Es fehlen die Worte oder alternative Bilder, erklären Autoren und Filmemacher achselzuckend, ein wenig wehleidig und wurstig zugleich."

Weiteres: Heribert Prantl fordert ein neutrales Verfahren zur Klärung der Vaterschaft, das nicht wie die Anfechtungsklage auf einer Lossagung vom Kind beruht. Stefan Koldehoff erklärt angesichts ihres ersten verhandelten Falles das grundsätzliche Scheitern der Beratenden Kommission für Raubkunst, die sich seiner Meinung nach seit achtzehn Monaten von den deutschen Museen an der Nase herumführen lässt. Der Dirigent Ingo Metzmacher erzählt im Gespräch mit Reinhard Schulz, was ihm am Komponisten Karl Amadeus Hartmann so imponiert, zum Beispiel, "dass Hartmann einen wesentlichen Beitrag zur Frage geleistet hat, ob man im 20. Jahrhundert noch eine Sinfonie schreiben kann - nachdem man gesagt hat, nach der Neunten von Mahler sei Feierabend". Ingo Petz erklärt, warum Weißrussland jetzt ein Radioquote von 75 Prozent für nationale Musik einführt, obwohl dem russophilen Autokraten Lukaschenko die weißrussische Kultur ein subversiver Dorn im Auge ist! Michael Ott fragt sich, ob man Schiller nicht anders gedenken kann als einbändig, fünfbändig oder zehnbändig. Gustav Seibt verabschiedet den Altphilologen Manfred Fuhrmann.

Besprochen werden die "kleine, aber sensationelle" Caravaggio-Schau in Neapels Museo di Capodimonte, Christoph Hochhäuslers Film "Milchwald" ("Ein Film über emotionale Kälte und bleierne Entfremdung, aus großer Distanz erzählt - aber dann doch wieder so dramatisch nah, dass man den Figuren oft an die Gurgel gehen möchte."), der "Lord von Barmbeck" mit Ulrich Tukur am Hamburger St.-Pauli-Theater, Christian Thielemanns "Rosenkavalier" an der Deutschen Oper Berlin , eine Ausstellung zu Arthur Conan Doyle in der British Library und Martin Kaufholds "Wendepunkte des Mittelalters" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).