Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2005. In der Berliner Zeitung fragt Alain Touraine, warum die Franzosen die gegenwärtige Krise so schlecht verstehen. In Le Monde möchte Tariq Ramadan die Ausschreitungen allein sozial, aber nicht religiös oder ethnisch verstanden wissen. In der Welt ächzt der Berliner Schriftsteller Günter de Bruyn über die "Pest der Ostanalyse". Die FAZ wirft Lars von Trier didaktische Rhetorik und laubgesägte Ideologie vor.

Berliner Zeitung, 09.11.2005

"Die Franzosen müssen darüber nachdenken, warum sie für das Verständnis der gegenwärtigen Krise so schlecht gerüstet sind und sie dadurch zu verschärfen drohen", schreibt der französische Soziologe Alain Touraine. "Es sind nicht nur die 'Benachteiligten', die eine veränderte Haltung der Gesellschaft brauchen. Die französische Gesellschaft kann auch für sich selbst zur Bedrohung werden, wenn es ihr nicht gelingt, Integration und Unterschiede, Universalismus und individuelle kulturelle Rechte zu verbinden; wenn sie nicht den Gegensatz zwischen einem Republikanismus voller Vorurteile und Gruppenidentitäten voller Aggressivität überwindet... Wir dürfen nicht mehr so tun, als sei Frankreich die Hüterin universeller Werte, und als hätte Frankreich in dieser Mission das Recht, all jene zu Bürgern zweiter Klasse zu machen, die diesem idealen 'nationalen Ich' nicht entsprechen." (Hier der Originaltext aus Le Monde)

Weitere Medien, 09.11.2005

Le Monde lässt Tariq Ramadan, der als gemäßigter Islamist gilt, zu den Jugendunruhen schreiben. Er betrachtet sowohl das multikulturelle britische als auch das republikanische französische Modell der Integration als gescheitert und will die Unruhen nicht religiös oder ethnisch, sondern sozial definieren: "Man scheint besessen von der Idee, dass der Islam Probleme macht, dass er eine Bedrohung für den sozialen Frieden darstellt. Wir beobachten hier ein sehr ungesundes politisches Spiel, mit dem Wählerstimmen aus dieser Angst herausgeschlagen werden sollen, indem man Themen verbreitet, für die früher allein die extreme Rechte stand: Sicherheitsdiskurse, nationale Präferenz, Diskriminierung werden mit der Frage der Immigration verbunden. Die Integrations- und Identitätsbesessenheit sind Ausweis eines doppelten Phänomens: einerseits der Unfähigkeit, die muslimischen Stimmen wahrzunehmen, die seit Jahren versichern, dass der Islam kein Problem ist und dass Millionen Muslime sich als Europäer fühlen. Und andererseits des mangelnden Willens, die wirklichen sozialen Fragen anzugehen."

FR, 09.11.2005

"Unter die Räuber gegangen" sei Martin Scorsese für seine Dokumentation "No Direction Home", in der er Unmengen von Filmmaterial über Bob Dylan verarbeitete, befindet Daniel Kothenschulte. Geklaut hat er vor allem beim Kollegen D.A. Pennebaker, einem Protagonisten des "direct cinema", der Dylan 1966 auf seiner legendären Europatournee begleitete. Zwar dankt Scorsese Pennebaker "neben anderen im Abspann und interviewt ihn einmal kurz über Nebensächliches - über das Projekt 'Eat the Document', das so aufschlussreich ist für Dylans Hang zur ständigen Neuedition seiner eigenen Arbeit und der steten Veränderung seiner selbstfabrizierten Identitäten aber sagt er nichts. Wie kann ein Regisseur, der einen Großteil seiner Zeit der Aufarbeitung von Filmgeschichte widmet, der großzügig Filmrestaurierungen unterstützt, die Arbeit eines Kollegen so wenig würdigen? Es ist wie mit Dylans geklauter Plattensammlung und den abgeschauten Akkorden zu 'House of the Rising Sun': Erst kommt die Kunst, und dann kommt die Moral. Dass dies die Prioritäten sein müssen, hat uns Scorsese die ganze Zeit gepredigt. Künstler wie Gangster gehen über Leichen."

Besprochen werden die Ausstellungen "Migrationen 1500-2005" und "Die Hugenotten" im Deutschen Historischen Museum Berlin, die beide einen Blick auf das "Zuwanderungsland Deutschland" werfen. Außerdem Bücher, darunter Norbert Müllers dritter Roman "Feierabend", die erste deutschsprachige Ausgabe von Gertrude Steins Erzählgedicht "Winning his Way", das Buch "Elfter Roman, achtzehntes Buch" von Dag Solstad, der Roman "Strategie" von Adam Thirwell, eine "imponierende" Studie über nationalsozialistische Massenmörder von Harald Welzer, die Lebensgeschichte der ehemaligen Folksängerin Hülya Kandemir sowie zwei Bände über innere Sicherheit (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 09.11.2005

Verena Lueken will sich durch Lars von Triers auf einer Studiobühne inszenierten Filmen "Dogville" und jetzt "Manderlay" ganz und gar nicht überzeugen lassen: "Die Kamera wirkt als Verstärker der didaktischen Rhetorik, die von Trier sich beim Berliner Ensemble im Keller geklaut hat. Zusammen mit seiner laubgesägten Ideologie und einem Erzähler (John Hurt), der auf geschickte Weise die Szenen miteinander verbindet und die Leerstellen der dargestellten Geschichte füllt, ergibt das eine Form, in der europäische Kritiker seit 'Dogville' die Zukunft des Kinos vermuten. Weil uns endlich mal jemand zeigt, dass das Kino in seiner gewöhnlichen Gestalt eine Illusionsmaschine ist. Wie lange genau sollen wir geschlafen haben, um das für eine Enthüllung zu halten, die nun auch ästhetisch glaubhaft auf die Leinwand kommt?"

Weitere Artikel: Dietmar Dath wundert sich im Aufmacher nicht über die Pariser Jugendunruhen, da sie ein Symptom des Kapitalismus sind. Patrick Bahners echauffiert sich über Äußerungen des Berliner Festspiele-Chefs Joachim Sartorius, der eine Erhaltung des Staatsministeriums für Kultur gefordert hatte. Felicitas von Lovenberg greift den Fall eines Hochstaplers auf, der sich unter Angabe eines Adelstitels Dinge und Leistungen erschlich. Heinrich Wefing fürchtet Jugendunruhen auch in Deutschland angesichts der "finalen Ununterscheidbarkeit der beiden großen Parteien". Kerstin Holm liest russische Zeitschriften. Hannes Hintermeier schreibt zum Tod des Schriftstellers John Fowles. Gina Thomas gratuliert dem Londoner Leo-Baeck-Institut zum Fünfzigsten.

Auf der Medienseite liest Stefan Niggemeier Studien, die die Einschätzungen der ARD sowie der Fusion von Springer und Pro 7 Sat 1 durch die Presse analysieren. Und Michael Hanfeld kommentiert ein Urteil des BGH, welches bewirkt, dass auch Radioanstalten nur dann aus den Stadien berichten dürfen, wenn sie dafür Gebühren an die Bundesliga entrichten.

Auf der letzten Seite plädiert Malte Herwig angesichts einer dürren Datenlage für eine neue Volkszählung in Deutschland und fürchtet auch keinen Widerstand mehr wie bei der Volkszählung im Jahr 1987. Jürgen Kaube kommentiert ein Urteil, das die Zahlung von Bafög bei erneuerten Studiengängen betrifft. Und Jürg Altwegg stellt den französischen Schriftsteller Azouz Begag vor, der aus ethnischer Korrektheit als Minister für Chancengleichheit in die französische Regierung aufgenommen wurde und seitdem - auch in der Frage der jüngsten Unruhen - verstummt ist.

Besprochen werden die große Dada-Ausstellung in Paris, ein Konzert der Band Sigur Ros in Köln, ein Berliner Auftritt des Tänzerpaars Akram Khan und Sidi Larbi Cherkaoui, die mit ihren Mitteln über die Lage der Immigranten reflektieren und Konzerte des Berliner Jazzfests.

TAZ, 09.11.2005

In einer Reportage aus den "Kampfgründen" spürt Sebastian Lütgert auf den Kulturseiten den Hintergründen der Krawalle in Frankreich nach. "Was unerklärlich ist, sind nicht die Krawalle, sondern ihr jahrelanges Ausbleiben - und nicht einmal den reaktionärsten Kommentatoren gelingt es, diesen ersten Eindruck völlig zum Verschwinden zu bringen."

Weiteres: Katrin Bettina Müller resümiert einen Kongress zur Wirkungsmacht von Schillers Ästhetik in Weimar. In tazzwei stellt Heide Oestreich den neuen "kruden und kuriosen" Film über die Frauenbewegung von Helke Sander vor: "Mitten im Malestream". Rezensiert wird schließlich der neue Roman von Martin Mosebach "Das Beben" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 09.11.2005

Der Berliner Schriftsteller Günter de Bruyn ächzt angesichts der "Pest der Ostanalyse", in die Westdeutsche immer noch gern ausbrechen, und stellt klar: "Die schlechte Laune im Osten wäre schon längst gewichen, gäbe es nicht das ostwestliche Wohlstands- oder auch Armutsgefälle, das der nur psychologisierende Betrachter nicht sehen will. Nicht die sicher in den Köpfen noch vorhandenen DDR-Überbleibsel sind es, die in erster Linie die verbreitete Missstimmung erzeugen und das Protestwählen fördern, sondern die vielen Menschen, die arbeitslos und ohne Hoffnung auf Arbeit sind. Der stalinistische Großvater, den mancher Ostanalytiker schon zum Schuldigen machte, würde selbst in den nostalgischsten roten Kreisen nur komisch wirken, stünden alle Frauen und Männer in auskömmlichem Lohn und Brot."

Friedrich Rößler weist darauf hin, dass französische Rapper wie Nique Ta Mere (N.T.M.) und 500 One bereits vor Jahren den Ausbruch von Unruhen in den Vorstädten ankündigten: "Frankreich saß seit langem auf dem Pulverfass, und alle schauten weg. Bis auf die, die es betraf. Darunter auch die Rapper. Dass niemand sah, wie die Zündschnur brannte, liegt auch daran, dass kaum einer aufmerksam hinhörte."

Weiteres: Hanns-Georg Rodek stellt den ungewöhnlichsten Film des Jahres vor: Philip Grönings Porträt der Mönche der Grande Chartreuse "Die große Stille". Reinhard Wengierek erinnert an Max Reinhardts Antritt als Direktor des deutschen Theaters vor hundert Jahren - die Geburtsstunde des Regietheaters. Kirstin Wenk verdankt der derzeit in München zu sehenden Wanderausstellung "Dschingis Khan und seine Erben" einen etwas positiveren Blick auf die Mongolen.

NZZ, 09.11.2005

Aldo Keel gibt einen Ausblick auf das Ibsen-Jahr 2006, auf dessen Programm 3000 Veranstaltungen stehen. Allerdings, räumt Keel ein, findet auch in jedem anderen Jahr jeden zweiten Tag eine Ibsen-Premiere auf der Welt statt. Sieglinde Geisel unterhält sich mit der Kinderbuch-Verlegerin Helene Schär über außereuropäische Kinderliteratur.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Peet Pienaar in Bern, eine Ausstellung der Schätze aus Herculaneum im Pergamonmuseum Berlin und Bücher, darunter Wolfgang Benz' und Barbara Distels Geschichte der Konzentrationslager "Der Ort des Terrors" und zwei Jugendbücher über Migration (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 09.11.2005

Alexander Kissler fasst die "bestürzenden" Ergebnisse einer neuen Studie der Bonner Stiftung Haus der Geschichte zusammen, für die Deutsche, Polen und Tschechen über ihr Bild von Flucht und Vertreibung befragt wurden. "Entstanden ist ein Lehrstück in der Kunst des Aneinandervorbeiredens und der Wissensscheu." So belege die Studie etwa, "dass die große Mehrheit der Polen keinen Unterschied macht zwischen der dubiosen 'Preußischen Treuhand GmbH', die auf Rückgabe von 'Grundeigentum und anderen Vermögenswerten' drängt, und der Haltung der Bundesregierung." 61 Prozent der Polen glauben demnach, "es sei wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich, dass die deutsche Regierung ,eines Tages ehemalige deutsche Gebiete und Besitztümer zurückfordern (...) wird".

Weitere Artikel: Horst Junginger berichtet über ein bisher unbekanntes Gutachten des antisemitischen Theologen Gerhard Kittel über den polnischen Juden Herschel Grynszpan. Kittel behauptete damals, dass das Attentat auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst von Rath in Paris 1938 einen "Angriff des internationalen Weltjudentums auf das Dritte Reich darstelle - und dass die Pogrome somit eine legitime Gegenwehr seien". Christine Dössel resümiert eine Weimarer Tagung zum Thema "Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne": Im Verbund mit einer Inszenierung von "Maria Stuart" und einer "kruden" Text-Musik-Video-Perfomance über die "Räuber" habe sie vor allem gezeigt, "wie weit Theorie und Praxis auseinander liegen". Christiane Kohl erzählt die Geschichte des Menzel-Bildes "Ein Nachmittag im Tuileriengarten" der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, das nach seiner Rückgabe an die Erben der jüdischen Besitzer nun nach London weiterverkauft wurde. In einem Nachruf wird der britische Bestsellerautor John Fowles gewürdigt.

Die Schallplattenseite ist heute ganz dem Streichquartett gewidmet. So erklärt der Bratschist des Artemis Quartetts, Volker Jacobsen, in einem Interview, weshalb an Beethoven keiner vorbeikommt. Ein kleines ABC der Streichquartette stellt die bekanntesten Ensembles vor. Besprochen werden Beethoven-Einspielungen von Artemis, Henschel, Endellion und Mosaiques, sowie ein Projekt des Minguet Quartetts, das sich sämtliche Streichquartette von Wolfgang Rihm vorgenommen hat.

Besprochen werden außerdem Philip Grönings Film "Die große Stille" über das Klosterleben der Karthäusermönche von Chartreuse, eine Ausstellung über "Heinrich und Thomas Mann in Italien" in der Casa di Goethe in Rom, ein Münchner Musikabend mit dem London Symphonie Orchestra und Bücher, darunter eine Studie zur "Philosophie des Bildes" von Lambert Wiesing, die Autobiografie "Es wird Abend" von Otto Flake und der Roman "Glücksvogel" von Viktoria Tokarjewa. (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).