Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2006. In der FAZ bekennt Dunja Melcic ihre Angst vor einer Rückkehr zur nationalistischen Ära Milosevic in Serbien. In der Welt geißelt Klaus Maria Brandauer den Unsinn des Regietheaters. Die NZZ will nicht recht an die Verheißungen des Bürgerjournalismus glauben. Die taz weiß, was dubstep ist. Die SZ bringt eine Übersetzung von Jaron Laniers Essay "Digital Maoism".

NZZ, 16.06.2006

Auf der Medienseite widmet sich Rainer Stadler den Verheißungen des Bürgerjournalismus, der mit der "Readers Edition" der Netzeitung in der vorigen Woche eine neue Plattform gefunden hat. Er findet es paradox, dass diese Idee ausgerechnet in Zeiten zunehmender Spezialisierung und "aufgeklärter Ratlosigkeit" Karriere macht. "Es bleibt höchst unwahrscheinlich, dass durch solche Plattformen eine völlig neue Art von Journalismus entsteht, wie die 'Readers Edition' vollmundig über sich schreibt. Zwar liebäugeln diverse Medienhäuser mit diesem publizistischen Genre, doch sind sie gerade nicht von der Idee des herrschaftsfreien Mediendiskurses geleitet. Vielmehr geht es um den Versuch, die zunehmend untreuer werdende Kundschaft durch interaktive Formen wieder besser an sich zu binden und die Kommunikationsbedürfnisse des Publikums in den hauseigenen Kanälen zu bewirtschaften. Interaktive Plattformen fungieren primär als Fundgruben, als neues Mittel, publikumsnahen Stoff für die Berichterstattung zu erkennen und damit Betriebsblindheit, die jeder durch Routine geprägten Organisation droht, zu vermeiden."

Beim Fußball-Cup der Roboter in Bremen hat Manfred Weise vor allem ein mangelndes Ballgefühl der Bleifüße beobachtet: "Da in der Humanoid League die autonomen Roboter Ball, Tore und andere Spieler an deren Farbe erkennen, muss ihre Bildverarbeitung genau aufs Licht abgestimmt sein. Ein Grund, warum jede WM-Ausschreibung genau die Lichtverhältnisse in der Halle beschreibt und Roboter nicht dieselben Farben wie Spielfeld, Ball und Tor tragen dürfen. Wenn Zuschauer nahe der Aussenlinie ein T-Shirt in der Ballfarbe tragen, kann es schon mal vorkommen, dass der Roboter sie mit dem Ball verwechselt."

Zum Feuilleton: In der Reihe "Was ist gute Religion" fragt sich heute der Soziologe Gerhard Schulze, ob es nicht ein "Kategorienfehler" sei, "gute Religion gleichzusetzen mit nützlicher Religion": "Früher sollte das Weltliche dem Religiösen dienen, heute neigen viele Zeitbeobachter dazu, das Verhältnis umzukehren. Religion wird als Mittel zu guten Zwecken in dieser Welt gesehen." Angelika Timm berichtet in einem "Schauplatz Israel" von Versöhnungsinitiaven zwischen Israelis und Palästinensern.

Besprochen werden die Ausstellung über Joseph Michael Gandys "Soane's Magician" in London und Barbara Freys giftige Inszenierung von Joseph Kesselrings "Arsen und Spitzenhäubchen" im Wiener Akademietheater.

Welt, 16.06.2006

Im Magazin unterhält sich Roger Köppel mit dem Schauspieler Klaus Maria Brandauer. Einig sind sich die beiden über den "Unsinn des Regietheaters": "Alle Beseelten bewegen sich auf dünnem Eis. Natürlich lassen sich Theaterleute leicht verunsichern von einem, der, sagen wir, Literatur und Philosophie studiert hat. Der Schauspieler ist sein eigenes Instrument, das ist kein Honigschlecken, manchen fehlt der intellektuelle Überbau. Da fällt man halt auf Scharlatane herein. Kommt noch ein ganz gescheiter Kritiker hinzu und ein Kulturpolitiker, der vielleicht auch gerne Künstler geworden wäre, dann haben Sie den Salat... Man betreibt Theater als ideologische Zwangsbeglückung, leider oft am Publikum vorbei. Der Grund ist einfach: Wenn Sie ein großartiges Stück mit zehn schauspielerischen Begabungen inszenieren, kommen Sie als Regisseur nicht vor. Das ist für manche kränkend. Viele Schauspieler leiden zwar unter dem sogenannten Regietheater, aber sie würden sich nicht trauen, gegen den Trend anzureden. Man will ja arbeiten."

Im Feuilleton: Der Historiker Gregor Schöllgen untersucht das Verhältnis von deutschen WM-Titeln und Lage der Nation: "Folgt man der Logik von Fußball und Nation in Deutschland, dann gilt: Je deutlicher die Einstellung der Mannschaft die Lage des Landes und das Bewusstsein seiner Bürger reflektiert, um so größer die Erfolgsaussichten." Zum Abgang des Liberation-Chefs Serge July schreibt Jochen Hehn. Dankwart Guratzsch berichtet von den regen Reisen Dresdner Politiker nach Paris: Sie wollen verhindern, dass ihnen die Unesco wegen der geplanten Waldschlösschenbrücke den Welterbestatus fürs Elbtal aberkennt. Uta Baier spricht mit Nicolaus Schafhausen, dem neu gewählten Kurator für den Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2007. Einen Künstler hat er sich offenbar schon ausgewählt, verrät aber nicht welchen. In seiner WM-Kolumne erinnert Thomas Brussig an das schönste Spiel seiner Generation : "WM 78, Schottland - Peru."

FAZ, 16.06.2006

Dunja Melcic nutzt den Redaktionsauftrag, über die Handke-Affäre zu schreiben, zur Darstellung der gegenwärtigen Lage in Serbien. Sie erinnert an das liberale Erbe Zoran Djindjics und erwähnt nebenbei, dass zwei Zeugen, die im Prozess gegen die Mörder Djindjics aussagen sollten, jüngst umgebracht wurden. Und sie registriert mit Sorge eine "Rückkehr zur nationalistischen Ära Milosevic": "Das Programm der Radikalen besteht in der Hauptsache aus der Wunschvorstellung von Großserbien - zusammen mit Kosovo und den verlorenen Teilen in Kroatien. Entsetzen erregte ein breit kolportiertes Reimchen, eine blutrünstige Huldigung an Ratko Mladic und das Massaker von Srebrenica, die zum Abschlachten von Bosniaken auffordert. Der Titel lautet: 'Töte, Mladic, töte'. Die serbische Mehrheitsgesellschaft schwelgt im Hass gegen alle ihre Nachbarn - wozu jetzt auch das 'Brudervolk' der Montenegriner gehört."

Weitere Artikel: Christian Geyer schildert die Schwierigkeiten des Arbeitens an einem Brückentag (in Teilen der Republik war am Donnerstag bekanntlich Feiertag). Eberhard Rathgeb nutzte die Stille des Tages zu einer Meditation über die Erfindung eines Springseils ohne Seil und füllt damit die Leitglosse. Andreas Platthaus schreibt zum Tod des belgischen Comiczeichners Jean Roba (Erfinder von "Boule & Bill"). Andreas Kilb schreibt über die Eröffnung eines neuen Literaturportals durch Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Christian Schwägerl konstatiert mit Schrecken, dass der Berliner überall Currywurst reicht, sogar an den "Terrassen am Mahnmal" mit Blick auf Eisenmans Stelen, während am Mahnmal für die Bücherverbrennung mit feist-fröhlichen Buddy-Bären für ein Unesco-Projekt geworben wird. Gina Thomas gratuliert dem britischen Museumsleiter Neil MacGregor zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite schreibt Rainer Schulze über das fortgesetzte Wirken der Armeezeitung Stars and Stripes, für die schon Klaus Mann im Einsatz war. Nina Rehfeld berichtet über neue Formen der Internetwerbung auf den Adressen der großen amerikanischen Fernsehsender. Und Oliver Bilger stellt das deutschsprachige Programm der Voice of Vietnam vor. Auf der letzten Seite unterhält sich Melanie Mühl mit der Modedesignerin Gabriele Strehle über Qualität und Geschmack. Kerstin Holm schreibt über Xenia Sobtschak, eine Art russischer Paris Hilton, die im Fernsehen Big-Brother-Shows moderiert. Und Tilmann Lahme porträtiert den Sportlehrer Konrad Koch, der am Braunschweiger Gymnasium Matino-Katharineum den Fußballsport einrichtete und damit diese Sportart im 19. Jahrhundert in Deutschland einführte.

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von Joseph Kesselrings "Arsen und Spitzenhäubchen" in Wien, die Oper "Der Pfeifertag" des möglicherweise zurecht vergessenen Max von Schilling und der Film "American Dreamz" mit Hugh Grant.

TAZ, 16.06.2006

Daniel Fersch klärt über die neueste Musikrichtung aus London auf: Dubstep (mehr hier): "Die Wurzeln gehen auf UK Garage zurück, eine Mischung aus Breakbeats und House." Einer der Protagonisten der Szene nennt sich Skream (Hörprobe), "ist gerade mal 20 Jahre jung und hat doch die stilistische Entwicklung des Genres ebenso entscheidend mitgeprägt wie die Digital Mystikz. Er zeichnet für 'Midnight Request Line' verantwortlich, den ersten Dubstep-Track, der auch den Weg in die Plattentaschen genrefremder DJs gefunden hat. Das Stück besitzt einen minimalistischen Beat und würde auch auf jeder Technoparty für einen veritablen Höhepunkt sorgen. Skreams vom Publikum gefeiertes DJ-Set bei 'DMZ' besteht fast ausschließlich aus unveröffentlichten Eigenproduktionen; Mutmaßungen über die Zusammenstellung seines für den Sommer angekündigten Debütalbums füllen seit Monaten die Internetforen der Szene."

Weitere Artikel: Dorothea Hahn meldet, dass die Bibliothek des Pariser Goethe-Instituts drastisch verkleinert werden soll. Besprochen werden die neue CD von Sonic Youth und der Film "Malen oder lieben".

Auf der Medienseite stellt Anne Haeming einige neue europäische Internetportale vor, darunter die Presseschau Eurotopics der Bundeszentrale für politsche Bildung, die vom Perlentaucher mit produziert wird.

Und Tom.

FR, 16.06.2006

Beeindruckt kehrt Christian Thomas aus der Ausstellung "Die Eroberung der Straße" in der Frankfurter Schirn zurück, die Paris' und Berlins künstlerischen Aufbruch in die Moderne vergleicht. "Wo der Impressionismus das Großstadtgetriebe als ästhetisches Phänomen erschloss, machte der Expressionismus den urbanen Schauplatz zum existenziellen Schlachtfeld und zur sozialen Vorhölle. Schließlich, an der Schwelle zum Futurismus und Kubismus, entdeckte die Avantgarde im städtischen Organismus nur noch ein abstraktes Räderwerk. Die urbanen Errungenschaften schienen eine kritische Masse erreicht zu haben. Nicht nur eine technische Erfindung wie die Elektrizität hatte den Bewohner unter Strom gesetzt. Ein Bild Carl Saltzmanns feierte 1884 die elektrische Bogenlampe als zivilisatorischen Gewinn, die den Citoyen auch in den Nachtstunden auf der Straße die Zeitung lesen ließ. Dreißig Jahre später enthüllt das Kunstlicht der Großstadt in den Bildern eines George Grosz nurmehr Fratzen einer umfassenden sozialen Prostitution."

Weitere Artikel: Die sechste Manifesta, die mit einer temporären Schule im zypriotischen Nikosia die Verständigung fördern wollte, ist selbst an Kommunikationsproblemen zwischen Kuratoren und der Stadt gescheitert, notiert Mirja Rosenau mit Bedauern. Stefan Schickhaus unterhält sich mit dem Countertenor Christopher Robson, der bei David McVicars Version von Händels Barockoper "Agrippina", die nun in Frankfurt gezeigt wird, den Narciso singt. Joachim Lange berichtet von den weltältesten Händel-Festspielen in Göttingen und der Konkurrenzveranstaltung in Halle an der Saale

Eine Besprechung widmet sich der Aufführung der Stücke von sieben Nachwuchsdramatikern auf den Autorentheatertagen des Hamburger Thalia Theaters.

SZ, 16.06.2006

Die SZ druckt einen Auszug aus einem im Onlinemagazin edge veröffentlichten Essay, in dem der Computerwissenschaftler Jaron Lanier sich über das blinde Vertrauen in Wikipedia wundert und "die Wiederauferstehung der Idee, dass das Kollektiv über eine allwissende Weisheit verfügt, die man zentral bündeln und lenken muss. Dies ist das Gegenteil von Demokratie und Meritokratie. Wenn die extreme Rechte oder die extreme Linke in der Vergangenheit versucht hat, uns diese Idee aufzuzwingen, hatte das jedes Mal grausame Konsequenzen. Dass uns heute prominente Technologen und Futuristen diese Idee nahe bringen wollen, macht sie nicht ungefährlicher."

Dreiundreißig Kandidaten treten bei den Präsidentschaftswahlen im Kongo an, berichtet Svante Weyler, darunter viele altbekannte und notorische Gestalten wie "der junge Lumumba, der so jung übrigens nicht mehr ist, schon 55 Jahre alt. Er hatte den Kongo verlassen, bevor sein Vater ermordet wurde, wuchs in Ägypten auf und sagte 'Onkel' zu Nasser. Jetzt hat er mit seinem Bruder und seiner Schwester eine eigene Partei gegründet, eine von hunderten, die sich zur Wahl stellen. Fast jede von ihnen hat sich um eine Einzelperson herum formiert, und kaum eine lässt sich mit einer fassbaren Ideologie identifizieren, sieht man einmal ab von 'Frieden, Transparenz und gutem Führungsstil', wofür sie angeblich alle stehen."

Weiteres: Jörg Königsdorf zieht den Hut vor Kent Nagano, der vom Berliner Symphonie-Orchester nun ans Bayerische Staatsorchester wechselt. Peter Laudenbach erfährt von der mittlerweile achtzigjährigen Anarchistin und Gründerin des Living Theatre, Judith Malina, warum sie in New York ihr fünftes Theater gründet. Von der geschäftigen Kunstmesse in Basel liefert Holger Liebs einen Stimmungsbericht. Angela Köckritz kolportiert, dass die von der Band Slut eingespielte Version der Dreigroschenoper von den Erben nur zur Hälfte freigegeben wurde.

Im Medienteil spricht der Vorsitzende der Technikkommission von ARD und ZDF, Herbert Tillmann, im Interview über die Projekte zum mobilen Fernsehen. Auf der Literaturseite kündigt Alexander Menden an, dass die London Library am St. James's Square nun nach 100 Jahren wieder einmal renoviert wird.

Besprochen werden Lee Breuers und Bob Telsons auf Ödipus basierendes Musical "The Gospel at Colonus" auf den Wiener Festwochen, Paul Weitz' Film "American Dreamz" und Bücher, darunter Hugo von Hoffmannsthals Briefwechsel mit Walther Brecht und Pierre-Michel Mengers Gedanken über die Entwicklung des Arbeitnehmers "Kunst und Brot" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).