Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2006. Die taz sieht Kirchners "Berliner Straßenszene" schon im Anwesen eines Putin genehmen Oligarchen verschwinden. Ökonomisches Elend ist Bedingung für die intellektuelle Ausstrahlungskraft Berlins, behauptet die Welt. In der NZZ erinnert sich die Journalistin Lidija Klasic an erste Anzeichen für den Zerfall Jugoslawiens. In der FR befürwortet der Historiker Klaus Naumann hegende Regeln im Krieg. Die FAZ erwartet sich nicht viel von der Klimaschutzkonferenz. Die SZ lockt mit "Green Glamour".

TAZ, 06.11.2006

Brigitte Werneburg diskutiert den Umgang mit den Restitutionsansprüchen von jüdischen Erben auf Kunstwerke in deutschen Museen. Sie fordert, die Politik müsse dem Markt zuvorkommen und dafür ein Budget organisieren. "Vor den Erben profitieren hier regelmäßig Kunsthandel und Rechtsanwaltskonsortien. Denn nach Abzug des Erfolgshonorars und der Versteigerungskosten bleibt den Erben oft weniger, als ihnen die Museen boten. Warum machen sich Letztere diesen Umstand nicht zunutze? Warum kommen sie dem Markt bei womöglich restitutionsbefangenen Werken nicht zuvor und bieten als Erste ihre Hilfe an? Dafür müsste, ähnlich wie im Fall der Zwangsarbeiterentschädigung, die Politik Verantwortung übernehmen und ein Budget organisieren. Da stellt sie sich lieber tot. Und falls die Museen nicht ungeschoren davonkommen, verlieren sie eben ihre Kunstwerke. Das politische Personal hält es ja auch für möglich, kostbare Handschriften für einen außergerichtlichen Vergleich zu verscherbeln. Warum also sollte es irritiert sein, wenn die 'Berliner Straßenszene' im Anwesen eines Putin genehmen Oligarchen verschwindet?"

Weiteres: In seinem Kommentar zur Affäre um Joachim Fests böse Gerüchte über Jürgen Habermas staunt Dirk Knipphals "über so viel - übrigens unbürgerlichen! - Willen zur Gehässigkeit": "Darüber hinaus gilt es aber auch, den Eindruck in Worte zu fassen, dass sich bei der Beschäftigung mit der Nazizeit ein Zug ins Alberne und ins Imaginierende offenbart." Ronald Düker erklärt, warum die Deutsche Bahn, statt die von Beate und Serge Klarsfeld initiierte Ausstellung "11.000 jüdische Kinder. Mit der Reichsbahn in den Tod" zu zeigen, lieber das neue Erinnerungsspektakel "Der letzte Zug" von Joseph Vilsmaier unterstützt. Zu lesen ist außerdem ein Essay des Schauspielers, Drehbuchautors und Regisseurs Rainer Knepperges über Klaus Lemke, ein Vorabdruck aus dem von Brigitte Werneburg herausgegebene und heute erscheinenden Buch "Inside Lemke. Ein Klaus Lemke Lesebuch". "Wundervoll" findet Thomas Winkler die neue CD des britischen Musikers Vert "Some Beans & An Octopus". Christoph Bannat stellt einen Comic von Reinhard Kleist vor, den dieser über das Leben von Johnny Cash gezeichnet hat.

Und hier Tom.

Welt, 06.11.2006

"Berlin war die längste Zeit seiner Existenz ein elendes Nest", schreibt SZ-Kollege Jens Bisky in einem Gastbeitrag auf den Forumsseiten liebevoll: "Das ökonomische Elend der Stadt, das Fehlen einer Oberschicht, ihre Zerklüftung und die vielen Brachflächen, die Schwäche der Verwaltung, die fortwirkende Teilung in Ost und West sind die Bedingungen der lebensweltlichen wie intellektuellen Ausstrahlungskraft Berlin."

Uwe Wittstock empört sich über Jürgen Habermas, der nach den Gerüchten, die Joachim Fest über ihn verbreitet hat, seinerseits gesagt hat: "Fest hat mir offenbar die Kritik an jenen Vordenkern des NS-Regimes übel genommen, die er in seinem Blatt rehabilitieren ließ." Dies, meint Wittstock, werde Habermas "präzisieren müssen". Uwe Schmitt wirft einen Blick auf die Flut von Bush-kritischen Büchern, die den amerikanischen Markt regelrecht überschwemmen. Peter Dittmar staunt über die zahlreichen Menschen- und Körperbilder, die nicht nur die Leipziger Schule, sondern auch chinesische Maler auf dem Kunstmarkt anbieten.
Den Versuch des Projekts Rimini-Protokoll, Karl Marx' "Kapital" auf die Bühne zu bringen, fand Eckhard Fuhr zwar nicht gerade überzeugendes Theater, aber immerhin "keine Minute langweilig". "bru" meldet, dass der "Idomeneo" am 18. und 29. Dezember an der Deutschen Oper Berlin gespielt wird, mit Wolfgang Schäuble im Publikum, aber ohne Islamrat.

Besprochen wird ein Jerome-Robbins-Abend des Staatsballett Berlin. Auf der DVD-Seite gehen Empfehlungen an "American Shortfilms", Filme mit Louise Brooks Henri-George Clouzots Karajan-Aufnahmen.

NZZ, 06.11.2006

Die Journalistin Lidija Klasic erinnert sich an die unscheinbaren ersten Anzeichen für den Zerfall Jugoslawiens: "Wie gefährlich es war, dass sich in Jugoslawien niemand ernsthaft mit der Weltkriegsvergangenheit auseinandergesetzt hatte, habe ich damals nicht begriffen. Nicht einmal dann, als mein Mann, als Schauspieler beim Drehen einer Fernsehserie in Ustascha-Uniform gekleidet, von einer älteren Frau in Zagreb auf der Straße angesprochen wurde mit den Worten: 'Ich bin so froh, dass ihr wieder da seid.'"

Seit der Abschaffung der Buchpreisbindung konzentriert sich der britische Buchhandel auf Bestseller und macht deren Autoren zu Stars, berichtet Georges Waser. Das lässt die jüngere Generation nicht unbeeindruckt: "In Großbritannien ist die Idee vom Schriftsteller als 'Celebrity', verbunden mit Pressemeldungen über riesige Vorschüsse für Erstlingsromane, anscheinend unwiderstehlich geworden. Zumindest unter jungen Leuten. Während nämlich vor zehn Jahren ein höherer Abschluss im Fach 'Creative Writing' an weniger als 10 Universitäten angeboten wurde, gehört dieses heute in 85 Hochschulen zum Programm; und an einem Drittel aller Universitäten ist das kreative Schreiben auch schon ein Bestandteil der sogenannten 'undergraduate courses'."

Weitere Artikel: Thomas Sprecher, Leiter des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich, freut sich, dass sein Haus drei Lenbach-Porträts von Mitgliedern der Familie Mann erworben hat. Jan-Heiner Tück plädiert dafür, dass die katholische Kirche den Limbus aufgeben sollte, in den nach gängiger Lehre ungetauft gestorbene Kinder eingehen. Klaus Bartels klärt über die Geschichte des Paragraphen auf. Und Martina Wohlthat bespricht Marius Petipas Ballett "Don Quixote" in Heinz Spoerlis Choreographie am Opernhaus Zürich.

FR, 06.11.2006

Klaus Naumann, Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung, denkt anlässlich der Totenkopf-Fotos über die Bundeswehr und die Folgen des "kleinen Krieges an der Heimatfront" nach. Mit dem Argument, Krieg sei eben "so", würden "zweierlei Tagesforderungen verspielt". "Zum einen die Bekräftigung der aufgeklärten Illusion, auf der unsere Zivilisation beruht und an der wir - wie beim Strafrecht - festhalten, auch wenn der Regelverstöße kein Ende ist. Gerade weil sich das Gewalthandeln, wie Hannah Arendt betonte, immer wieder der Zweck-Mittel-Rationalität zu entziehen droht, braucht es nicht nur Vorkehrungen gegen den Krieg, sondern auch hegender Regeln im Krieg und für seine Betreiber."

Weiteres: Harry Nutt schreibt über die Berliner Suche nach einem neuen Kultursenator. Und in Times mager fragt sich Christian Schlüter, weshalb Joachim Fest die unwahre Habermas-Passage "wider besseres Wissen" in seine Biografie aufgenommen hat.

Besprochen werden die Ausstellung "The Secret Public" über die ästhetischen Folgen des Punk im Kunstverein München, eine Inszenierung des von Heiner Müller ins Deutsche übertragenen Theaterstücks "Quai West" von Bernard-Marie Koltes in der Naxos-Halle in von Frankfurt und - in Form eines Interviews mit zwei Kindern - eine Aufführung von "König Arthur" am Schauspiel Frankfurt.

FAZ, 06.11.2006

Heute beginnt in Nairobi die Klimaschutzkonferenz. Die größte Dreckschleuder, die USA, die laut Joachim Müller-Jung inzwischen "ein Viertel der weltweiten Kohlendioxyd-Emissionen zu verantworten" haben, will der Umweltverschmutzung jedoch auf keinen Fall mit Gesetzen entgegentreten. "Die Bekanntmachung der Weltmeteorologiebehörde vom Wochenende, wonach die Konzentration der Treibhausgase im vorigen Jahr ein neues historisches Hoch erreicht hat und die Steigerungsraten ungebrochen sind, verpufft denn auch im Dunstkreis Washingtons genauso schnell wie das Manifest vier amerikanischer Energiefachleute vom Freitag, die in der internationalen Wissenschaftszeitschrift Science ihrem Heimatland eine 'neue, ambitionierte Formel' zur Verringerung der Gasemissionen aufschrieben."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann schildert Pariser Kabalen um die Verleihung der Literaturpreise. Hannes Hintermeier sieht das Goethe-Nationalmuseum in einer Krise: die Dauerausstellung "Wiederholte Spiegelungen" ist ein Flop. Jordan Mejias wirft einen Blick in amerikanische Zeitschriften, die über die Folgen eines Siegs der Demokraten bei den Kongresswahlen nachdenken. Lorenz Jäger gratuliert dem Germanisten Heinz Roellecke zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite beschreibt Dirk Schümer die grässlichen Folgen eines Verkaufs von Pro Sieben Sat.1 an Berlusconi, dem es schon in Italien gelungen sei, "Anspruch, Ästhetik und geistiges Niveau des Fernsehens nachhaltig herunterzuschrauben". Auf der letzten Seite porträtiert Christian Schwägerl die "Vorbildphysikerin" Monika Ritsch-Marte. Cord Riechelmann hat das Smithsonian Tropical Research Institute (STRI) in Panama City besucht. Dort fürchtet man, der beschlossene Ausbau des Panama-Kanals könnte die tropischen Regenwälder um den Kanal gefährden. Heinrich Wefing berichtet, dass in Folge der scharfen Kritik an der Rückgabe von Kirchners "Berliner Straßenszene" Kulturstaatsminister Bernd Neumann rund zwanzig Museumsvertreter und Juristen eingeladen hat, "Erfahrungen aus der Restitutionspraxis" auszutauschen.

Besprochen werden ein Konzert von Keith Jarrett in Paris, ein Ballettabend mit Choreographien von Jerome Robbins in Berlin, ein Konzert von Lambchop in Frankfurt, eine "Faust"-Inszenierung von Thirza Bruncken in Dortmund und Bücher, darunter Stefan Collinis bisher nur auf Englisch erschienener Band "Absent Minds" über die Intellektuellen in Großbritannien und Sonja Gabbani-Hedmans Buch über "Zeitvorstellungen in Japan" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 06.11.2006

Gerhard Matzig beschreibt das Phänomen "Green Glamour", hinter dem sich ein Ökologie-Boom in Architektur, Design und Mode verbirgt. "Tatsächlich tauchen auf Architekturkongressen, in Designschauen und auf den Automobilmessen immer öfter Leute auf, die aussehen, als ob sie die Zeitschrift Hedonism Quarterly herausgeben - in Wahrheit interessieren sie sich für energieeffiziente Häuser, stromsparende Haushaltsgeräte, hybridgetriebene Autos und das Kyoto-Protokoll."

Weitere Artikel: Zu den bevorstehenden Zwischenwahlen in den USA beschreibt Andrian Kreye, wie offenbar gezielte Enthüllungen die "religiöse Authentizität" der Bushregierung in Frage stellen. Tobias Moorstedt informiert über das Projekt Videothevote (VTO), in dem amerikanische Netzaktivisten als Bürgerreporter mit ihren Videokameras den Wahlverlauf überwachen wollen. Stefan Koldehoff begrüßt den geplanten Krisengipfel zum Umgang mit Restitutionsansprüchen, zu dem Kulturstaatsminister Bernd Neumann Museumsdirektoren und Rechtsexperten geladen hat. Und Andrian Kreye informiert über weltweite Proteste gegen die Ermordung des Dokumentarfilmers Brad Will in Mexiko.

Besprochen werden die große Velazquez-Ausstellung in der Londoner National Gallery, das neue Projekt der Gruppe Rimini Protokoll, die am Schauspielhaus Düsseldorf "Karl Marx: das Kapital, Erster Band" auf die Bühne bringt, das dritte Album der Berliner Band Naomi, ein Konzert der Münchner Philharmoniker unter Christian Thielemann mit Alfred Brendel, die Uraufführung von Paul McCartneys Oratorium "Ecce Cor Meum" in der Londoner Royal Albert Hall, der dritte Santa-Clause-Film "The Escape" und Bücher, darunter ein Band mit Briefen von Golo Mann und das Romanfragment "Angelo" von Luchino Visconti. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).