Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2007. Einerseits freut man sich ja mit Florian Henckel von Donnersmarck. Aber hat das "Leben der Anderen" wirklich einen Oscar verdient? Nein, meint der ehemalige Bürgerrechtler Werner Schulz in der Welt. Die taz ist pro und kontra. Die FAZ freut sich halb. Die FR meint: Die Amerikaner sehen den Film als Film über die mögliche eigene Zukunft. Außerdem: Im Perlentaucher nennt Timothy Garton Ash sechs Gründe, Europa zu lieben. In der SZ sucht Documenta-Chef Roger M. Buergel einen dritten Weg zwischen Markt und Gegenwartskunst.

Welt, 27.02.2007

Der ehemalige Bürgerrechtler Werner Schulz ist mit dem Oscar für "Das Leben der Anderen" nicht einverstanden: "Steven Spielberg wäre weltweit zerpflückt worden, hätte er sich Oskar Schindler und dessen Liste ausgedacht. Roman Polanski wäre es mit dem 'Pianisten' ähnlich ergangen. Mit der DDR-Geschichte kann man offenbar losgelöst von historischer Authentizität frei und phantasievoll umgehen. Da wird aus einem harten Hund, einem Spezialisten für Verhörmethoden und Stasi-Dozenten, plötzlich ein Dissidentenbeschützer."

In Spanien tobt seit einigen Monaten ein "Krieg der Todesanzeigen", schreibt Albrecht Buschmann. Es fing an mit der Tochter eines republikanischen Opfers, die in El Pais eine halbe Seite kaufte und ging weiter mit Anzeigen, die von Nachfahren der "Opfer marxistischer Barbarei" geschaltet wurden. Nun ist etwas Ruhe eingekehrt: "Vorerst. Denn unter Spaniens Erde liegen noch mindestens 80.000 nicht identifzierte Opfer von Francos politischen Säuberungen, um deren Exhumierung sich erst seit wenigen Jahren Ehrenamtliche kümmern. Gerade erst 800 hat man bisher gefunden und den Angehörigen zur Bestattung übergeben. Der Staat drückt sich bis heute um seine Verantwortung, nicht einmal vollständig kartografiert sind diese anonymen Massengräber. Es sind viele Tote ohne Grab, denen ihre Nachfahren endlich einsichtbares Zeichen setzen wollen, und seien es nur die 15 mal 25 Zentimeter einer Todesanzeige."

Weitere Artikel: Christine Fischer berichtet von den Oscar-Verleihungen. Peter Beddies unterhält sich mit Oscar-Preisträger Forest Whitaker über seine Darstellung des Idi Amin. Sven Felix Kellerhoff besuchte eine Berliner Ausstellung, die Axel Springers Wirken für die deutsche Einheit würdigt. Michael Pilz stellt neue Alben von Britpop Bands wie Kaiser Chiefs und Arctic Monkeys vor. Und Gerhard Beckmann porträtiert den Schweizer Schriftsteller Christian Haller, der mit seinem Roman "Die besseren Zeiten" eine dreibändige Familiensaga abschließt.

Auf der Medienseite stellt Katrin Wilkens Theo Sommers englischsprachiges Zeitungsprojekt German Times vor.

TAZ, 27.02.2007

Über den deutschen Oscar-Gewinner "Das Leben der Anderen" ist eine Pro- und Contra-Rezension auf den Tagesthemenseiten zu lesen. Stefan Reinecke verteidigt den Film: "'Das Leben der Anderen' ist ein Kammerspiel, fern von Überwältigungsästhetik. Er verflüssigt die Stasi-Klischees, ohne schönzufärben, und öffnet ein Spiel mit Identifikationen. Das ist der Schlüssel des Erfolges. Vielleicht war die Naivität und obsessive Neugier eines Unbeteiligten wie Florian Henckel von Donnersmarck nötig - eines Westlers, der beim Mauerfall 16 Jahre alt war -, um die ausgetretenen Pfade des DDR-Stasi-Themas zu verlassen. Wo also ist das Problem? Im Jahr 2006 lief 'Das Leben der Anderen' nicht als deutscher Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale. Warum nicht? Warum fällt es so schwer, das Produktive dieses Films zu erkennen? Stimmt, Regisseur von Donnersmarck ist mit einem Selbstbewusstsein gesegnet, das von Hybris kaum zu unterscheiden ist. Aber darum geht es nicht. Es geht um einen kulturkritischen Reflex, der längst zur Routine herabgesunken ist - nämlich dass Erfolg zu misstrauen ist. Ein deutscher Thriller, der auch noch eine politische Geschichte erzählt, steht da gewissermaßen unter Generalverdacht."

Cristina Nord dagegen mag den Film nicht. "Seltsam daran ist nur, dass das Politische in 'Das Leben der Anderen' als Schwundstufe seiner selbst auftritt. Man muss nicht so weit gehen und dem Regisseur vorwerfen, er arbeite mit unmoralischen Kamerafahrten. Doch jede Trennschärfe, jeder analytische Zugang gehen verloren, da 'Das Leben der Anderen' zu jener Spielart von Erzählkino gehört, die politische Sachverhalte als menschlich nachvollziehbar darstellt."

Mehr zu den Oscars: Bert Rebhandl resümiert die Oscarverleihung. In der zweiten taz wundert sich Scott Foundas, der "Das Leben der Anderen" im L.A. Weekly verrissen hat, wie empfindlich der Regisseur darauf reagierte. Adrienne Woltersdorf registriert in den USA einen grundsätzlichen Appetit auf Deutsches.

Im Kulturteil klagen Gunnar Schnabel und Monika Tatzkow, Autoren des "Handbuch Kunstrestitution weltweit", im Interview mit Brigitte Werneburg über das ärgerliche Zögern deutscher Auktionshäuser und Museen, die Herkunft ihrer Bilder zu erforschen. "Wir sagen nicht, im Ausland sei alles besser. Aber es lässt sich Grundsätzliches festhalten. Auch ein Bild, das wie der Kirchner erst nach drei oder vier Weiterveräußerungen erworben wurde, wird in den USA oder in England, Ländern, die nun wirklich nichts mit den Nazis zu tun hatten, grundsätzlich restituiert. Das ist moralische Selbstverständlichkeit. Bei uns heißt es erst mal: Welches Gesetz verlangt das? Das war auch in Österreich lange so. Deshalb musste Alma Mahler-Werfel 50 Jahre um ein Bild streiten, das ihr juristisch eindeutig zustand und das ihre Enkelin jetzt tatsächlich bekam."

Weiteres: Saskia Draxler findet auf der New Yorker Kunstmesse Armory Show nicht nur Spekulanten, sondern auch kleinere private Kunden, die schon ab zehntausend Dollar zugreifen. Besprochen werden Nuran David Calis Inszenierung von Wedekinds "Frühlings Erwachen" am Schauspiel Hamburg und ein Konzert des Jazzsaxofonisten Ornette Coleman in Essen.

NZZ, 27.02.2007

Der Berliner Architekt Jürgen Mayer H. hat in Karlsruhe ein Mensagebäude gebaut, das fast schon wieder an die brutalistische Uni-Architektur der Siebziger erinnert. Es ist aber ökologisch korrekt und ganz aus Holz, auch wenn man es nicht sieht, schreibt Roman Hollenstein: "Aus ästhetischen, aber auch aus hygienischen Gründen wurde es nämlich mit einer 2 Millimeter dicken Haut aus Polyurethan überzogen, wie sie sonst im Brückenbau angewendet wird. Nicht nur das ebenso einprägsame wie diskrete, der Normfarbe RAL 1000 entsprechende Gelbgrün dieses Überzugs erinnert an das Design der siebziger Jahre, sondern auch die abgerundeten Ecken, die dem sperrigen Objekt optische Elastizität verleihen."

Weitere Artikel: Claudia Schwartz schreibt zum Tod von Heinz Berggruen. Rüdiger Görner gedenkt des Dichters Henry Wadsworth Longfellow, der in diesen Tagen 200 Jahre alt geworden wäre. Joachim Güntner resümiert eine Weimarer Tagung über "Bielefeld als Denkstil". Martin Zähringer schildert das Kunstbuch als globalisiertes Medium. Inzwischen schicken selbst kleinere deutsche Verlage wie Hatje und Cantz oder Birkhäuser Vertreter nach China und bringen chinesische Übersetzungen für den dortigen neuen Mittelstand heraus. Martin Krumbholz gratuliert Peter Hamm zum Siebzigsten.

Besprochen werden Verdis "La Traviata" in Bern und Handkes neues Prosabuch "Kali".

FR, 27.02.2007

Die Amerikaner sehen "Das Leben der Anderen" gar nicht als einen Film über ein deutsches Thema, meint Arno Widmann in seinem Oscar-Kommentar: "Zu viele Passagen des Films erinnern die Amerikaner zu sehr an die aktuellen Debatten über patriotisches und unpatriotisches Verhalten in Zeiten des Krieges gegen den Terrorismus . Sie erkennen nicht uns, sondern sich wieder in diesem Film. In den USA ist 'Das Leben der Anderen' kein Film über die Vergangenheit, schon gar nicht die deutsche, sondern die Warnung vor einer möglichen eigenen Zukunft."

Die Lyrikerin Silke Scheuermann erklärt im Interview im Interview, es störe sie nicht unbedingt, dass ihr Debütroman "Die Stunde zwischen Hund und Wolf" als "Porträt einer Generation" gefeiert wird, "weil das ja heißt, dass sich viele in dem Buch wiedererkennen beziehungsweise etwas darin sehen, das zeitgemäß ist. Andererseits ist 'Die Stunde zwischen Hund und Wolf' natürlich keine soziologische Studie und war auch nicht als Generationenroman gemeint. Vielmehr ging es mir um Identität und um das Problem des Identitätsverlustes. Der Ausgangspunkt war ein ganz persönlicher - der Besuch einer Ausstellung von Francis Bacon, der in seinen Porträts das Unheimliche im Menschen, das Tierische zeigt; den Augenblick, in dem der Mensch sich verliert und nur noch Instinkte da sind."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte verbeugt sich vor Oscar-Gewinner Florian Henckel von Donnersmarck und seinen Produzenten Max Wiedemann und Quinn Berg. Diese "haben allen Grund, stolz zu sein". "Ekelhaft" findet der Autor F.C. Delius im Interview mit Ina Hartwig, dass der Rotbuch-Verlag mit dem Verkauf an die Eulenspiegel-Gruppe jetzt in einem Verlag gelandet ist, in dem "Stasi-Offiziere publizieren". Claudia Schmölders präsentiert die neue Zeitschrift für Ideengeschichte. Mirja Rosenau schreibt zum Tod des Kunstsammlers und -händlers Heinz Berggruen. Ina Hartwig verfasst einen Nachruf auf den Schweizer Schriftsteller Jürg Federspiel. Eine Besprechung widmet sich Stephan Kimmigs "fulminanter" Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Hamburger Thalia Theater.

FAZ, 27.02.2007

In einem Kommentar auf der ersten Seite der FAZ freut sich Verena Lueken nur halb über den Oscar für "Das Leben der anderen": "Niemand will vom deutschen Film offenbar, was etwa der mexikanische mit seinen drei Oscar-Anwärtern 'Children of Men', 'Babel' und 'Pans Labyrinth' in diesem Jahr zeigte: überwältigenden Bildreichtum, weltumspannende Thematiken, visuell komplexe Erzählstrategien. Vom deutschen Kino will man deutsche Themen, am besten aus der Geschichte des Landes, nichts Phantastisches, nichts Atemnehmendes, auch möglichst nichts Kontroversentaugliches, nichts Humoristisches und keinesfalls etwas Grenzgängerisches, wie es inzwischen durchaus Eingang in die Welt der Oscars gefunden hat."

Im Feuilleton freut sich Michael Althen über die Oscars für Martin Scorsese (bester Film, beste Regie): "Und bevor man nun sagt, das sei doch zu viel der Ehre für 'The Departed', sollte man lieber froh sein, dass nicht immer nur die Filme mit vermeintlich gewichtigen Themen ausgezeichnet werden, sondern gelegentlich einfach nur jenes inspirierte Handwerk, das Hollywood besser beherrscht als irgendwer sonst. Im Übrigen ist dies das erste Mal, dass ein Remake mit diesen Ehren ausgezeichnet wurde, denn 'The Departed' ist eine Neuverfilmung des Hongkong-Thrillers 'Infernal Affairs' von Andy Lau und Alan Mak aus dem Jahr 2002."

Weitere Artikel: Was die Wahlfreiheit in Erziehungssachen angeht, findet Patrick Bahners, dass es diese nur gibt, wenn Frauen fürs Zuhausebleiben genauso viel Geld bekommen wie für den Krippenplatz. Klaus Ungerer spottet über die EU, die ihren Bürgern im Auswärtigen Amt die Gelegenheit gab, mal zu sagen, was sie von Europa halten. In der Glosse erläutert Dirk Schümer, warum sich zwei Erben des Hauses von Savoyen jetzt vor Gericht darum streiten, wer das wahre Oberhaupt der einst königlichen Sippe ist. Julia Spinola gratuliert dem Geiger Gidon Kremer zum 60. Den Nachruf auf den Schweizer Schriftsteller Jürg Federspiel hat Pia Reinacher verfasst.

Auf der letzten Seite porträtiert Gina Thomas den Harry-Potter-Darsteller Daniel Radcliffe, der sich in London als seriöser Theaterschauspieler versucht. Mark Siemons hat den chinesischen Künstler Chao Hai in seinem Atelier besucht. Aus Spanien berichtet Paul Ingendaay von einem Torero, der sich mit 53 Jahren noch einmal in die Arena wagt - und von einer Studie, die zum Schluss kommt, dass die Stiere dank Endorphinausschüttung gar keine Schmerzen verspüren.

Besprochen werden die neue Platte des Rappers Ta'Raach, das Düsseldorfer Auftaktkonzert zur Deutschlandtournee der "genialen Musikpanscherin" Nelly Furtado, Stephan Kimmigs Kurzfassung von Schillers "Maria Stuart" im Hamburger Thalia Theater, eine Ausstellung der Videokünstlerin Aleksandra Polisiewicz, die Hitlers Architekturpläne für Warschau zeigt, und Ariane Grundies Romandebüt "Am Ende ich" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Perlentaucher, 27.02.2007

Timothy Garton Ash nennt im Perlentaucher sechs Gründe, Europa zu lieben. Einer davon ist die Freiheit: "Der Großteil der gegenwärtigen EU-Mitgliedsstaaten waren vor nicht allzu langer Zeit noch Dikaturen. Italiens Präsident Giorgio Napolitano kann sich sehr lebhaft an Mussolinis faschistisches Regime erinnern. Der Präsident der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, wuchs in Portugal unter Salazars Diktatur auf. Der EU-Außenbeauftrager Javier Solana weiß noch, wie er Francos Polizei entwischte. Elf der siebenundzwanzig Regierungschefs, die sich im Frühjahr am Runden Tisch zum Europäischen Rat versammeln werden, einschließlich der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, waren vor weniger als zwanzig Jahren der kommunistischen Herrschaft unterworfen. Sie wissen, was Freiheit ist, weil sie wissen, was Unfreiheit ist." Garton Ashs europäische Vorschläge lassen sich hier diskutieren.

SZ, 27.02.2007

Jörg Häntzschel sucht auf der New Yorker Kunstmesse Armory Show nach Authentischem und findet doch immer wieder Pose. "Die grassierende Cleverness, das Können aber nicht Müssen macht einen großen Teil der ausgestellten Kunst so frustrierend. Hat schon mal jemand mit einer Schrotflinte auf ein Gemälde geschossen? Nein? Also mache ich das jetzt, fertig ist Bild samt sexy Videoarbeit. - Maoistische Propagandaästhetik sieht toll aus. Die könnte man doch zu einem 'Protestplakat' gegen die Kunstwelt umfunktionieren. So entstand Wang Guanjyis 'Art Museum No!' Oft genügt für ein Werk ein einziger Trick: Ersetze ein Material durch ein anderes, schon ist er fertig, der porzellanen dekorative Revolver."

Weiteres: Roger M. Buergel, der Leiter der zwölften documenta in Kassel, will mit einem dritten Weg zwischen Markt und Gegenwartskunst zu einer "ästhetischen Ethik des Miteinander" finden, wie Holger Liebs zu erklären versucht. Susan Vahabzadeh konstatiert bei der Oscarverleihung nach den politischen Appellen der Vergangenheit eine neue Gelassenheit der Hollywoodianer. Andrian Kreye identifiziert Al Gore, der für seinen Umweltfilm "Eine unbequeme Wahrheit" einen Oscar bekam, als Patron des "Green Glamour". Die fünf jungen Libanesen, die Spencer Platt auf dem World Press Photo 2006 verweigt hat, sind ihrem Land nicht so entfremdet wie es scheint, berichtet Sonja Zekri. Harald Eggebrecht schlägt das alte Odeon-Theater als Standort für die geplante Konzerthalle in München vor. Wolfgang Schreiber unterhält sich mit dem nun sechzigjährigen Geiger Gidon Kremer. Dirk Peitz resümiert, wie Musiker im Berliner Haus der Kulturen der Welt über "Wut, Musik und Widerstand" diskutiert haben.

Im Medienteil porträtiert Irmela Schwab die als Bloggerin bekannt gewordene Studienabbrecherin Katharina Borchert, die seit vergangenem Jahr als Online-Chefredakteurin der WAZ fungiert.

Besprochen werden Stephan Kimmigs Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" und Christian Pades Version von Brechts "Der gute Mensch von Sezuan", beide in Hamburg, die Ausstellung "Auktion 392" über den deutschen Kunsthandel zur Zeit des Nationalsozialismus im Leo Baeck Institute in Manhattan, ein Auftritt von Sting in München (Kristina Maidt-Zinke findet im beigestellten Interview heraus, warum er sich derzeit für Renaissancemusik interessiert), und Bücher, darunter Ingolf U. Dalferths Essay über "Das Böse", Judy Budnitz' Erzählungsband "Nice Big American Baby" sowie Dita von Teeses Wende-Bildband "Die Kunst der Burlesque/Die Kunst des Fetisch" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).