Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2007. Russland nervt. Die Berliner Zeitung berichtet über einen polnisch-russischen Geschichtsstreit in der Gedenkstätte Auschwitz. In der FAZ fürchtet Viktor Jerofejew eine kommende russische Theokratie. Und der NZZ schwant, dass sogar der Wirtschaftsboom des Landes auf tönernen Füßen steht. Die taz schätzt Antikapitalismus, nur nicht beim Papst. Die FR ist erschüttert über Murat Kurnaz' Folterberichte. Die Welt deklariert den heutigen Tag des Buchs zum Tag der Ketten.

Berliner Zeitung, 23.04.2007

Andreas Mix erklärt, warum die russische Ausstellung in der Auschwitzgedenkstätte von Gedenkstättenleitung und Internationalem Auschwitz-Komitee vor Jahren geschlossen wurde und ein erbitterter polnisch-russischer Streit um sie entbrannt ist: "Die Gedenkstätte und das Internationale Auschwitz-Komitee lehnen die Ausstellung ab, weil darin die Bewohner der ostpolnischen Gebiete, die von der Roten Armee besetzt wurden, als sowjetische Bürger bezeichnet werden... Mit der Ausstellung schreibt Russland das sowjetische Geschichtsbild fort. Demzufolge handelte es sich bei der sowjetischen Okkupation von 1939 bis 1941, die ebenso brutal war wie die deutsche Besatzung West- und Zentralpolens, um die Befreiung der Bevölkerung vom 'Joch der polnischen Herren'."

Der Drucker und Autor Martin Z. Schröder schreibt eine kleine Kulturgeschichte der Frakturschrift, über deren Abschaffung als Überschriftenschrift für Kommentare man angeblich bei der FAZ nachdenkt: "Während man bei der FAZ über die Altertümlichkeit der Fraktur grübelt, sind ornamental verzierte gotische Typen schon lange in der Jugendkultur angekommen. 1994 erschien das Rap-Album 'Illmatic' von Nas beim New Yorker Label Columbia mit gebrochenen Lettern. Die Plattenhüllen von Snoop Dogg tragen Old English. Die modifizierte Linotext, die der Amerikaner Morris Fuller Benton 1901 schuf und die für das Cover des Albums 'HipHop Is Dead' von 50 Cent und Whoo Kid verwendet wurde, steht den Kommentar-Überschriften der FAZ aus deren hauseigener Kanzlei-Fraktur auffällig nahe." Na, dann sollte die Fraktur zumindest auf der Schallplatten-und-Phono-Seite beibehalten werden!

NZZ, 23.04.2007

Ulrich Schmid, Osteuropa-Korrespondent der NZZ, zeichnet ein widersprüchliches Panorama des heutigen Russland mit seiner kulturellen Buntheit und politischen Eisesstarre. So ganz will Schmid übrigens nicht mal an die wirtschaftlichen Fortschritte glauben: "Unter Putin gibt es mehr, nicht weniger Korruption als unter Jelzin. Die Mafia schießt weniger, aber sie herrscht noch immer, und Putin lässt sie gewähren. Und die Wirtschaft ist nicht halb so gesund, wie sie erscheint: Sie lebt vom Rohstoffexport. Brechen die Ölpreise ein, stürzt Russland in eine ernste Krise: Eine Industrieproduktion, die den Wert schöpfen könnte, mit dem die gewaltigen Importe zu bezahlen wären, gibt es nicht. Russland ist eine Großmacht mit der Wirtschaft eines Entwicklungslandes. Von einem Willen zur Produktion, wie man ihn beispielsweise in China findet, ist wenig zu spüren."

Weitere Artikel: Martin Meyer denkt noch einmal über das Massaker von Blacksburg nach ("Es mag schon sein, dass der Trieb die Nachahmung benutzt, die aus den Vorlagen von Gewalt und Tod medialer Präsenz - ob real oder simuliert - verführerisch wirbt. Doch sollten wir uns hüten, alles daraus abzuleiten"). Besprochen werden die Ausstellung "Vor 12.000 Jahren in Anatolien" in Karlsruhe, Friedrich Kappelers Dokumentarfilm "Das Wolkenschattenboot" über den Schriftsteller Gerhard Meier, Konzerte der Stanser Musiktage und Mozarts "Figaro" in Lausanne.

TAZ, 23.04.2007

Robert Misik hält den Bestseller des Papstes über "Jesus von Nazareth" für ein Krisensymptom der Kirche. "Der Fluchtpunkt seiner Lektüre ist es, seine Kirche als dissidente, gegenstrebende Kraft in der Gegenwart zu verankern. Immer wieder ruft er aus, wie aktuell das Ganze doch sei: dass man sich 'der Kultur des Habens' entgegenstellen soll, 'dem Diktat der herrschenden Meinungen' nicht beugen möge. Entfremdet sei der Mensch in einer Welt, 'in der es nur auf Macht und Profit ankommt'. Da hat er schon recht, der Papst. Aber das sieht jeder 16-jährige Juso-Aktivist exakt genauso und Oskar Lafontaine auch - bloß, dass nicht einmal der es wagen würde, das derart plump zu formulieren. Und die benötigen dafür auch keine exegetischen Abstraktionen."

Regisseur (und Bio-Kaffee-Vertreiber) David Lynch versucht Stefan Grissemann im Interview zu erklären, wie er seine Filme macht. "Es gibt Emotion, es gibt Intellekt - und es gibt die Intuition. Am untersten Ende des Farbspektrums finden Sie Rot, ganz oben ist das Blau. Wenn man nun Rot und Blau mischt, erhält man Violett: Das ist für mich dann das Höchste, weil es ein bisschen vom Tiefsten und ein wenig vom Höchsten hat. So sehe ich auch die Intuition: Sie ist ein Instrument, aber auch das benutze ich nicht wirklich."

Weiteres: Christian Broecking schreibt zum Tod des Jazzmusikers Andrew Hill. In der zweiten taz betont Jony Eisenberg, dass es Epressung ist, von den RAF-Häftlingen für ihre Freilassung Informationen zu verlangen. Barbara Dribbusch stellt achtzigjährigen Lesern mögliche Rollenmodelle vor. Auf der Medienseite erklärt Steffen Grimberg, worum es bei dem im Mai zu erwartenden Grundsatzurteil des Bundesverfassunggserichts zur Rundfunkgebühr geht.

Matthias Buschle berichtet von der Ausstellung "Die Situationistische Internationale (1957-1972)" im Basler Museum Jean Tinguely.

Und Tom.

FAZ, 23.04.2007

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew sieht das gegenwärtige Russland als "driftende Eisscholle" - und dass diese Scholle weder in Richtung Westen noch in Richtung Zivilgesellschaft und Demokratie driftet, scheint ihm klar. Besonders bedrohlich findet er den wachsenden Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche: "Allmählich bilden sich Elemente einer Theokratie heraus. Noch kann man sie von ihrer Bedeutung her kaum mit dem religiösen Fundamentalismus Irans vergleichen, aber auch sie stimulieren eine ähnliche Verneinung fremder Kulturen und einen Argwohn gegenüber jedem Gespräch über die allgemeingültigen Werte. Die Losung des zaristischen Russlands 'Rechtgläubigkeit, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit' wurde in einem gewissen Grad schon zur gegenwärtigen Realität."

Weitere Artikel: Andreas Kilb hat sich die Antrittsvorlesung des Schriftstellers Ilija Trojanow für die Heiner-Müller-Gastprofessur der FU Berlin angehört. Heinrich Wefing freut sich über die Einrichtung des "Richard von Weizsäcker-Fellowship" an der Berliner American Academy. In der Glosse warnt Christian Geyer vor dem "Kurzschluss der Causa Klar mit der Causa Buback". Wolfgang Sandner konzentriert sich bei einer ausführlichen Bestandsaufnahme zur staatlichen Förderung von Gedenkstätten und Festivals für klassische Musik auf die "Konferenz Mitteldeutscher Barockmusik". Bei seinem Blick in amerikanische Zeitschriften hat Jordan Mejias viel Ökologisches entdeckt. Aus England meldet Gina Thomas, dass manche Schulen aus Angst vor antisemitischen Äußerungen muslimischer Schüler den Holocaust im Geschichtsunterricht nicht mehr erwähnen. Reinhard Wittmann schreibt den Nachruf auf den bedeutenden Lektor Herbert W. Göpfert. Auf der Medienseite informiert Rainer Hermann über die Hintergründe der Schließung der militärkritischen türkischen Zeitschrift Nokta.

Auf der letzten Seite porträtiert Martina Lenzen-Schulte den mit dem Leibniz-Preis ausgezeichneten Fettleibigkeitsforscher Jens Brüning, Leiter der Abteilung für Mausgenetik und Metabolismus der Universität Köln. Paul Ingendaay berichtet von der spanischen "Frauenkarawane", einer Veranstaltung "zwischen Partnervermittlung und Bauernfiesta".

Auf der Sachbuchseite finden sich Rezensionen zu Murat Kurnaz' Guantanamo-Bericht "Fünf Jahre meines Lebens", neue Bücher zum Thema Willensfreiheit und Hans-Ulrich Grimms Tierfutter-Schwarzbuch "Katzen würden Mäuse kaufen". Außerdem wird unter anderem T Coopers Roman "Lipshitz" rezensiert (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Mario Testino in Düsseldorf, die Ausstellung "Das Kapital - Blue Chips & Masterpieces" im Frankfurter Museum für Moderne Kunst und Andreas Kriegenburgs Inszenierung der Theater-Version von Ingmar Bergmans "Aus dem Leben der Marionetten" in Hamburg (Irene Bazinger findet sie "gepflegt, prätentiös und banal").

FR, 23.04.2007

Eckhard Stengel möchte Murat Kurnaz' Erinnerungen an Guantanamo "Fünf Jahre meines Lebens" zur Pflichtlektüre für Steinmeier&Co machen. "Einmal fühlte sich Kurnaz an seine Grundschule erinnert. 'Das ist wie Apfelessen', dachte er beim Anblick einer Wasserwanne: Bei Schulfesten sollten die Kinder in einen schwimmenden Apfel beißen. 'Doch da war kein Apfel in der Wanne.' Sie würden ihn jetzt zum Reden bringen, hätten die Vernehmer ihm gesagt und dann seinen Kopf unter Wasser gedrückt, wobei Soldaten ihm in den Bauch geschlagen hätten. Kurnaz: 'Ich hätte ihnen alles gesagt. Aber was sollte ich ihnen sagen?' Und dann noch die Sache mit dem Fleischerhaken. 'Fünf Tage war ich aufgehängt', schätzt er - die Arme über Kopf, die Füße über dem Boden schwebend. Dreimal am Tag habe ein Arzt seinen Puls gemessen. 'Okay', sagt er. Die Soldaten ziehen mich wieder hoch.'"

Außerdem denkt Harry Nutt in der Times mager bei den Trierer HeiligRock-Tagen an Woodstock. Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Dramatisierung von Ingmar Bergmans Film "Aus dem Leben der Marionetten" am Hamburger Thalia Theater, Bob Dylans Konzert in Frankfurt und das zweite Album der kanadischstämmigen Popsängerin Feist, "The Reminder".

Welt, 23.04.2007

Wieland Freund erklärt zum Tag des Buches, dass die Branche zwar Gewinne verzeichnet, diese aber auf die großen Unternehmen konzentriert sind: Nur 24 von insgesamt 5132 Buchhandelsunternehmen erwirtschaften 42 Prozent des Gesamtumsatzes: "Nun bedeutet der Siegeszug der großen Ketten, die ihren 'Harry Potter' gern in babylonischen Türmen präsentieren, nicht notwendig den Untergang des Abendlandes - auch hier gibt es ja den 'Hamlet' zu kaufen. Die literarische Vielfalt jedoch leidet. Gerade kleine Verlage können ein Lied von rigider Einkaufspolitik und gewaltigen Rabattforderungen singen. Die Literatur aber braucht Liebhaber."

Im Feuilleton schwärmt Josef Engels von dem Trompeter Nils Wülker, dessen Musik tatsächlich etwas "Substanzielles und Nachhaltiges" für den deutschen Jazz leisten könnte: "Sie ist nachvollziehbar und kann gesummt werden, aber an keiner Stelle ist sie so flach wie der fett- und seelenreduzierte Macchiato-Jazz, der den Lounges und Boutiquen im Lande gern als Klangtapete dient. Sie ist klug und ausgefuchst, ohne sich etwas darauf einzubilden."

Gernot Facius weist darauf hin, dass in dem vorkonziliaren Messritus, den einige Feuilleton-Katholiken so gern wieder eingeführt sähen, auch für die "Bekehrung der Juden" gebetet wird, die in "Verblendung" und Finsternis" verhaftet seien.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Bergmann-Adaption "Aus dem Leben der Marionetten" am Hamburger Thalia Theater, eine Ausstellung zu den Architekten Werner Ruhnau und Hardt-Waltherr Hämer und neue DVDs, unter anderem mit Charlie-Chan- und Mr.-Moto-Filmen.

Auf den Forumsseiten ist der Text von Francis Fukuyama zu lesen, in dem der amerikanische Theoretiker erklärt, dass der Regimewechsel einfach nicht klappt, wenn die Menschen keine Demokratie haben wollen (Online ist der Text nicht bei der Welt, aber beim Project Syndicate kann man ihn lesen) Ansgar Graw schreibt zu Murat Kurnaz' Bericht aus Guantanamo "Fünf Jahre meines Lebens", der heute in den Handel kommt.

SZ, 23.04.2007

Für Andrian Kreye offenbart die Familiendiskussion deutsche Defizite in punkto Integrationsfähigkeit, Einkommenssituation und Debattenkultur. Der amerikanische Historiker Paul Kennedy warnt Europa davor, die Marine zu vernachlässigen. Dirk Peitz erscheint Feist, seiner Meinung nach die derzeit schönste Frauenstimme des Pop, irgendwie "abwaschbar". Fritz Pleitgen verrät Sonja Zekri im Interview, was er für das Ruhrgebiet als Europäische Kulturhauptstadt 2010 plant. In den Nachrichten aus dem Net besucht Jörg Häntzschel den Online-Friedhof mydeathspace und fragt nach den filmischen Vorbildern des Amokläufers von Blacksburg. Im Literaturteil resümiert Volker Breidecker zwei Debatten in der Mainzer Akademie der Wissenschaften zu den Fragen "Gibt es Gesetze des Erzählens?" und "Religiöse Dichtung - im 21. Jahrhundert?".

Besprochen werden eine Ausstellung des Videokünstlers Douglas Gordon im Kunstmuseum Wolfsburg, die "stupende" Schau über den Bildhauer Praxiteles im Louvre, Andreas Kriegenburgs Dramatisierung von Ingmar Bergmans Film "Aus dem Leben der Marionetten" im Hamburger Thalia Theater, George Aperghis' in Mannheim inszenierte Märchen-Oper "Rotkäppchen", Florian Borchmeyers Dokumentarfilm über die "Neue Kunst Ruinen zu bauen" in Havanna, Filme von Raoul Walsh, Kim Sung-Su und David Jacobsohn auf DVD, und Bücher, darunter Per Pettersons Roman "Kielwasser" sowie Dagmar Leupolds Roman "Grüner Engel Blaues Land" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).