Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2007. Katharina Wagners "Meistersinger"-Inszenierung stößt bei den Beckmessern und -messerinnen der Jetztzeit weitgehend auf Behagen. Katharina Wagner verzichtet schon mal ganz auf altnürrembergische Knusperkulissen, notiert die erleichterte FR.  Die FAZ sieht den unangenehm streng gescheitelten Hans Sachs als mutige Anspielung auf die Nazizeit. Die NZZ erspäht dennoch Leerstellen. Die SZ  ist mit der Musik nicht ganz zufrieden. Außerdem: ein NZZ-Essay von Dubravka Ugresic über die neuen Barbaren.

NZZ, 27.07.2007

Die Meistersinger von Bayreuth: Marianne Zelger-Vogt ist nicht so überzeugt von Katharina Wagners Inszenierung: "Sachs dankt ab, Stolzing passt sich an, Beckmesser wird zum Bilderstürmer, der die Kunstszene neu aufmischt - ein Kommentar zum heutigen Opernbetrieb im Allgemeinen und zu den Bayreuther Festspielen im Besonderen? So mag es gemeint sein. Doch das Ganze bleibt zu sehr Kopfgeburt, einerseits überfrachtet mit Einfällen und Requisiten, anderseits mit großen Leerstellen - die ganze ideologische Rezeptionsgeschichte der 'Nazi-Oper' 'Meistersinger' bleibt ausgeblendet."

Wir leben in einer "Zeit der neuen Ignoranz und des neuen Barbarentums", meint die in Amsterdam lebende kroatische Autorin Dubravka Ugresic. Als eines der Beispiele für die unter jungen Menschen herrschende Amnesie nennt sie ein Literaturseminar, das sie im letzten Jahr an der FU Berlin gab: "Meine Studenten - es waren junge weltoffene Menschen aus Brasilien, Serbien, Portugal, Deutschland, kurzum eine kleine internationale Gruppe - wussten zwar von Lacan, Derrida und Zizek, hatten aber bis dahin erstaunlich wenige Bücher gelesen. Ich erwähnte Czeslaw Milosz. Sie wussten nicht, wer das war. Ich erwähnte den Samisdat. Sie wussten nicht, was das war. Klar, dachte ich und machte mich daran, alles genauestens zu erläutern. Zunächst erzählte ich, dass man in der ehemaligen Sowjetunion ungestraft ein Manuskript in fünf Kopien tippen und verbreiten durfte, aber dann gelang es mir nicht, zu erklären, was Kohle- und Durchschlagpapier ist, geschweige denn wie überhaupt eine Schreibmaschine funktioniert!"

Weitere Artikel: Knut Henkel porträtiert den kubanischen Krimiautor Amir Valle, dessen Romane mit Themen wie Kinderprostitution, Drogen, Homosexualität gegen den guten Ton verstießen und den die Behörden seines Landes nach einer Auslandsreise einfach nicht wieder einreisen ließen - nun lebt er in Berlin im Exil. Auf der Pop- und Jazzseite erzählt Stefan Hentz die Geschichte des Impulse-Labels, in dem John Coltrane reüssierte. Und Matthias Daum resümiert das 32. "Paleo Festival" in Nyon.

Auf der Medienseite bringt der Düsseldorfer Kommunikationswissenschaftler Gerhard Vowe einen längeren Essay über die Symbolkraft des politischen Händedrucks. Ein namenloser Autor besucht den Blogger Jens-Rainer Wiese, der ein in der Schweiz populäres Blog betrieb und jetzt schließt. Monika Ermert stellt das deutsche System des Jugendschutzes im Internet vor. Sylvia Egli von Matt, Direktorin der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern, resümiert einen Kongress in Singapur, der über die Verbesserung der Ausbildung von Journalisten nachdachte. Marlis Prinzing und Stephan Russ-Mohl resümieren die 50. Konferenz der International Association for Media and Communication Research (IAMCR) in Paris.

FR, 27.07.2007

Als durchaus ernstzunehmende Interpretatorin hat sich Katharina Wagner Hans-Klaus Jungheinrich mit einer nicht perfekten, aber wohl recht anregenden "Meistersinger"-Inszenierung präsentiert. "Mit der strikten Vermeidung von altnürrembergischen Knusperkulissen betrat diese Szenografie fürwahr kein Neuland. Auffällig war aber doch das Abgehen von allen noch so vorsichtig historisierenden Ansätzen. Gnadenlos war dieses Spiel in die Gegenwart gezogen. Und statt der gewohnten atmosphärischen Gemütlichkeit schienen Kälteströme die Darstellungsenergie zu stimulieren. Herzlichkeit und tümliches Gewese hatten unlängst auch in avancierten Annäherungen das übel korrumpierte deutschnationale Pathos des Werkes gemildert. Nichts davon mehr bei Katharina Wagner."

Weiteres: Die pakistanische Schrifstellerin Kamila Shamsie erinnert sich daran, wie sie unter der Diktatur "Scham und Schande" von Salman Rushdie las. In einer Times mager deutet Harry Nutt den Verzicht auf das Gelbe Trikot bei der "Tour der Junkies" als Zeichen des Verfalls.

Besprochen werden die Aufführung der Arbeiten "Annäherung an die Idee des Misstrauens" und "Cruda" von Rodrigo Garcia in Avignon, wo auch eine Schildkröte mit Kamera zum Einsatz kommt, sowie eine Ausstellung von Gardar Eide Einarsson im Frankfurter Kunstverein, darunter die Arbeit "Your wages, your blankets and your right to suck cocks won't do any good, because we'll all drown".

FAZ, 27.07.2007

Muss man gesehen haben, meint Eleonore Büning über die "Meistersinger"-Inszenierung Katharina Wagners in Bayreuth, auch wenn Hans Sachs am Ende die Stimme versagte. "Man kann kritisieren: längst abgefrühstückt, viel zu spät. Aber die Verstrickung der Rezeption Wagnerscher Musik in den Nationalsozialismus ist kein Thema, das einen Schlusspunkt zulässt. Man könnte auch sagen: viel zu grobklotzig, alles überinszeniert. Doch immerhin kann niemand behaupten, er habe den röhrenden Hirsch in Gold zwischen den brekerartigen Übermenschenstatuen am Ende des Abends nicht bemerkt oder die Gesten nicht verstanden, mit denen der auf einmal so unangenehm streng gescheitelte Hans Sachs das Brandopfer ins Werk setzt."

Weitere Artikel: In der Reihe "Gefahr durch Islamisten" widmet sich Kerstin Holm der Situation in Russland, wo man offenbar kein längerfristiges Terrorbekämpfungskonzept pflege und mal auf Härte, mal auf Wohltaten setze. Matthias Hannemann verweist auf neu freigegebene Akten der CIA im Internet von 1970, die auch einen polnischen Bericht (pdf) über den deutschen "Überlegenheitskomplex" enthalten. Joseph Hanimann resümiert das Theaterfestival Avignon. Andreas Rossmann meldet einen Austausch an der Spitze der Universität Witten/Herdecke: der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Birger P. Priddat löst den Informatiker Wolfgang Glatthaar ab. Tobias Döring schreibt zum Achtzigsten des amerikanischen Lyrikers John Ashbery.

Auf der Medienseite erklärt der CDU-Politiker Bernhard Vogel im Interview, warum er in den siebziger und achtziger Jahren private Fernsehsender befürwortete. Auf der letzten Seite porträtiert Maria Holzmüller den bayerischen Regisseur Marcus Hausham Rosenmüller. Und der Genforscher Christof von Kalle spricht im Interview über Risiken und Möglichkeiten der Gentherapie.

Besprochen werden die Ausstellung "100 Jahre deutscher Werkbund" in der Münchner Pinakothek der Moderne, der Film "Die Simpsons" und Bücher, darunter Eva Tenzers Meer-Buch "Einfach schweben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 27.07.2007

Bereuen muss Katharina Wagner ihre "Meistersinger" nicht, nachbessern schon, befindet Manuel Brug nach der Premiere in Bayreuth: "Selten sah man eine so konsequente und - paradox - so inkonsequente 'Meistersinger'-Inszenierung. Die so spitz in den Nerv dieses Stückes aus Typenkomödie und deutscher Nabelschau, Kleinstädterei und Weltbehauptungsanspruch trifft. Die so zwingend den Streit zwischen Tradition und Aufbruch am Beispiel des Gesangs aktuell in ein Duell der boomenden Bildenden Künste zwischen restaurativen und avantgardistischen Tendenzen verwandelt. Die Sachs, Stolzing, Beckmesser und Eva so eindeutig miteinander ideologisch in Beziehung setzt. Die sich aber auch wieder kindisch verhaspelt, pubertär im Ungefähren bleibt und anfängerhaft ungeschickt hantiert."

Weiteres: Mit der Ankündigung Disneys, in seinen jugendfreien Filmen keine rauchende Menschen mehr zu zeigen, habe das Studio den Schritt von der Diskussion zur Orthodoxie vollzogen, konstatiert Hanns-Georg Rodek in der Randspalte. Berthold Seewald beobachtet anhand neuer Veröffentlichungen, wie Geschichtsschreibung in Osteuropa der nationalen Identitätsstiftung dient. So berufe sich Rumänien etwa immer stärker auf die Romanisierung der Provinz Dakien.

Besprochen werden die Ausstellung zu 300 Jahren amerikanischer Kunst "Neue Welt" im Moskauer Puschkin Museum, die Schau "Dali & Film" in der Londoner Tate Modern und eine weitere Ausstellung zum alltäglichen Antisemitismus in der DDR im Schulmuseum Leipzig und die Reisekorrespondenz von Goethes Sohn August "Wir waren sehr heiter".

Tagesspiegel, 27.07.2007

Ziemlich beeindruckt, aber nicht ganz überzeugt zeigt sich Christine Lemke-Matwey von Katherina Wagners "Meistersingern" in Bayreuth: "Diese Frau ist als Kämpferin, Blutsschwester und Verbündete, als Hebamme, Nanny und eventuell sogar als feste Größe in einer wie auch immer konstruierten Festspielleitung der Zukunft unbedingt wünschenswert. Denn so viel Bauch am rechten Fleck, ein solch rasendes Tigerinnenherz macht ihr so schnell keine nach. Katharina Wagner graust es vor nichts: weder vor der ranzigen Rezeptionsgeschichte der 'Meistersinger' auf dem Grünen Hügel noch vor den einschlägigen Ingredienzien des Regietheaters. Die 'Kathi' ist ein Kind ihrer Zeit. Kennt alles, kriegt alles. Und weiß dann aber auch nicht weiter. Ein Vorwurf? Eine Diagnose. Die 29-Jährige mag Kraft haben, Courage, einen Willen zur Macht - die Mutter Neu-Neu-Bayreuths ist sie nicht."

Berliner Zeitung, 27.07.2007

Einfach bieder findet Peter Uehling Katharina Wagners "Meistersinger": "Dass vom Schuhemachen und von der Liebe nicht unprominent die Rede, auf der Bühne jedoch nichts davon zu sehen ist, lässt weite Teile der Musik sinnlos vorüberziehen. Vor allem werden auf diese Weise Ambivalenzen kassiert. Lösen die Schuhe und das Schustertum im Stück weitverzweigte Anspielungen aus, so stehen sie hier lediglich für Anpassung, zudem in einer dramaturgisch unvermittelten Symbolhaftigkeit. Katharina Wagner setzt negative Vorzeichen vor Momente, die bei ihrem Urgroßvater gar nicht so eindeutig positiv gemeint waren, jetzt aber jede Mehrdeutigkeit eingebüßt haben. Ihre schlichte Lösung des Kunstdiskurses ist sauberer und damit spießiger als die des Stücks: Hier der dumme Mainstream, dort der gute Avantgardist. Der Klamauk, den sie statt einer Komödie inszeniert, ist dabei selbst der grässlichste Mainstream."

TAZ, 27.07.2007

Die taz hat wohl keine Karten für die A-Premiere bekommen. Aber Katrin Bettina Müller sammelt Reaktionen auf Katharina Wagners "Meistersinger"-Inszenierung. In der zweiten taz beklagt Raphael Bollmann, dass die Meritokratie weder im deutschen Schulsystem noch auf dem Grünen Hügel praktiziert wird. Martin Kaluza reist nach Santiago de Chile, um den dorthin ausgewanderten Frankfurter Musikproduzenten Uwe Schmidt zu treffen, der auch als Senor Coconut bekannt ist.

Besprochen werden das neue Album "Jamaica" der Punkband Kommando Sonne-nmilch sowie die neuen Platten der amerikanischen Rapper Pharoahe Monch und Common.

Im Gespräch mit Daniel Bax zweifelt die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer im Meinungsteil daran, dass die Türkei als Vorbild für einen gemäßigten Islamismus dienen könnte. "Dafür ist die außenpolitische Anbindung der Türkei an den Westen und ihr gutes Verhältnis zu Israel zu speziell - und ihre Einflussmöglichkeit auf arabische Länder zu begrenzt."

Und Tom.

SZ, 27.07.2007

Einen "erfrischenden" Meistersinger-Abend hat Reinhard J. Brembeck in Bayreuth erlebt. Während er das unangestrengte Inszenieren Katharina Wagners lobt, hätte er von der Musik gerne mehr Profil gesehen. "Dirigent Sebastian Weigle hat seine liebe Not mit Orchester und Akustik. Fast nie geht die Initiative von ihm aus, der lieber begleitet, statt vorausschauend zu gewichten, zu formen und überlegen den Hörer durch die Riesenformen der 'Meistersinger' zu führen. Er liebt einen warmen, weichen Streicherklang, der zum Üppigen neigt. So verunglücken viele Nuancen dieser an Details so übervollen und häufig mit abrupten Stimmungs- und Ausdruckswechseln arbeitenden Partitur. "

Nach dem Wahlsieg der AKP merkt das Bürgertum, dass es nicht alleine ist in der Türkei, meint Kai Strittmatter und zitiert hämisch aus dem Bürgerblatt Cumhuriyet. "Kolumnist 1: 'Wer unter den Wählern benutzt eigentlich sein Hirn? Wer handelt aus freiem Willen?' Kolumnist 2: 'Wir konnten nicht damit rechnen, dass der Wähler seine Stimme für zwei Säcke Kohle und 300 Lira einer Partei geben würde.' Kolumnist 3: 'Nicht umsonst hat Aziz Nesin (ein verstorbener Romancier, die Red.) gesagt, die Hälfte des türkischen Volkes seien Idioten.' Ziemlich genau die Hälfte der Wähler hat nämlich für die AKP gestimmt. Cumhuriyet, das sollte man hinzufügen, ist jene Zeitung, die einmal diese Schlagzeile druckte: 'Das Volk hat die Strände überflutet, die Bürger können nicht baden'. Hier der Bürger, dort das Volk."

Weiteres: In Russland haben Wissenschaftler vor dem wachsenden Einfluss der orthodoxen Kirche gewarnt, berichtet Sonja Zekri. "Verheißungsvoll" klingt laut Susan Vahabzadeh das Programm für die Filmfestspiele in Venedig, das Marco Müller in Rom verkündete. Das 1985 nach den Plänen von Richard Meier errichtete Frankfurter Museum für Angewandte Kunst muss wohl die nächsten drei Jahre saniert werden, meldet Gerhard Matzig. Der Prater, die zweite Spielstätte der Berliner Volksbühne, soll nach den Informationen von David Gels dagegen im Frühjahr 2009 fertig sein. In Ludwigsburg richtet Baden-Württemberg eine Theaterakademie ein, die in einem Jahr den Unterrichtsbetrieb aufnehmen soll, weiß Jürgen Berger. Andreas Dorschel denkt über die ihm irgendwie unappetitliche Tätigkeit des Entlarvens nach.

Gegen Alexander Ruzicka, den ehemaligen Europa- und Afrika-Chef der Media-Agentur Aegis, ist nun Anklage wegen Untreue erhoben worden, schreibt Klaus Ott ,der auf der Medienseite die Verdachtsmomente noch einmal aufzählt.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung über die Künstlerin Anna Oppermann im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, und Büchern, darunter Adriano Prosperis Geschichte eines Kindsmordes "Die Gabe der Seele" sowie Renate Prochnos Studie über "Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst".