Heute in den Feuilletons

Agressiv, reißt andere in Stücke

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2008. Die taz muss an Hate-Mails denken, wenn sie die FAZ aufschlägt. Wer dieselbe heute liest, erfährt aus den Tagebüchern von Susan Sontag: "Mein Denken=King Kong." In der Welt ärgert sich Richard Ford über die Kurzgeschichte als Pausenfüller. Die FR untersucht Angstkulturen, während die SZ das Jahr der Kartoffel begeht. Die Berliner Zeitung beklagt die Lücken, die im Filmgedächtnis der BRD klaffen.

TAZ, 19.01.2008

In einem bissigen Kommentar zur aktuellen Feuilleton-Schlammschlacht zum Thema Rentnerspießer und Jugendgewalt meint Dirk Knipphals: "Kürzlich wurde landauf, landab über das Verhältnis von Qualitätsjournalismus und Blog-Öffentlichkeit debattiert. Der aktuelle Fall spricht eher für die Künstlichkeit einer solchen Trennung. Schließlich gibt es auch im Feuilleton einen Journalismus, der sich als Versuch verstehen lässt, solche Erregungskurven, wie sie sich in Hate Mails zeigen, zu orchestrieren - die Anstrengungen von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, Denken nicht als Reflexion, sondern stets als Tat zu inszenieren (Gesellschaft retten, Tom Cruise heiligen, Ausnahmezustände ausrufen - oder so ähnlich), zielen in diese Richtung. So ein Journalismus ist mit Hate-Mail-Phänomenen verbündet."

Weitere Artikel: Ralf Sotscheck war dabei, als Ringo Starr das Liverpooler Kulturhauptstadtjahr eröffnete. In seiner Hessenwahl-Kolumne erzählt Klaus Walter diesmal, wie aus Krankfurt Mainhattan wurde. Auf der Meinungsseite mustert Marcia Pally die amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und erkennt im evangelikalen Republikaner Mike Huckabee eine Art Wiedergänger von Bill Clinton, nur dass er "noch predigerhafter, noch kumpelhafter, noch populistischer" sei. Im Interview mit Thomas Winkler warnt der HipHop-Experte Tobias "Toxik" Kargoll im Zusammenhang mit den Schüssen auf den Berliner Rapper Massiv: "Man muss da grundsätzlich sehr vorsichtig sein, immer gleich eine Inszenierung zu unterstellen."

In der zweiten taz hat Jürgen Gottschlich eine patriotische Schauergeschichte aus einer türkischen Schule zu erzählen: "Zwei Monate lang zapfte sich jeder Schüler und jede Schülerin der Klasse jeden Tag in Eigenbehandlung Blut ab, bis sie am Ende genug für ihr großes Werk zusammenhatten: eine türkische Landkarte zu malen, im leuchtenden Rot der türkischen Fahne." Klaus-Peter Klingelschmitt setzt sich mit dem hessischen Wahlkampf und seinen Plakaten auseinander. Rainer Borcherdings Einschätzung zur Stammzellforschung lautet lapidar: "Es kommt drauf an, was man draus macht." Auf der Medienseite informiert Jürgen Gottschlich über den Stand der Dinge bei der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos, deren Gründer Hrant Dink vor einem Jahr ermordet wurde.

Für das taz mag hat Andreas Fanizadeh den einstigen radikalen 68er-Literaten Paul-Gerhard Hübsch besucht, der heute als Imam Hadayatullah Hübsch in Frankfurt am Main lebt. Außerdem gibt es einen Bericht des Fotografen Jan Banning, dessen Fotoserie über Armut in Malawi leider nur im Print zu sehen ist.

Besprochen werden unter anderem Dirk Baeckers soziologische "Studien zur nächsten Gesellschaft", Eva Horns Untersuchungen zur Spionage "Der geheime Krieg" und Hans Magnus Enzensbergers fiktionalisierte Historien-Recherche "Hammerstein oder der Eigensinn" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 19.01.2008

"Der grundlegende Charakterzug der Kurzgeschichte, über ihre Kürze hinaus, ist ihre Verwegenheit. Mehr noch als die Sestine ist die Kurzgeschichte der Hochseilakt der Literatur", meint der Schriftsteller Richard Ford in einem Text, den die Literarische Welt aus dem Band "The New Granta Book of American Short Story" übernimmt. Völlig unverständnlich also der schikanöse Umgang der Verlage mit Kurzgeschichten: "Als ich selbst - Mitte der Achtziger - bei Esquire herumschlich und hin und wieder eine Kurzgeschichte veröffentlichte, vertraute mir der Chefredakteur des Augenblicks über einem Abendessen an, dass er überhaupt gar keine Kurzgeschichten in Esquire veröffentlichen würde (wo Hemingway, Fitzgerald, Capote, Carver, Bellow, Roth, Updike, Salter, Beattie erschienen waren), wenn er nur wüsste, was er sonst zwischen die Anzeigen quetschen sollte."

Im Feuilleton berichtet Dirk Pilz von den Verwerfungen bei der Plattenfirma EMI: Der neue Boss, der Finanzinvestor Guy Hands, hat angekündigt, 2000 Mitarbeiter zu entlassen und "faule Stars" rauszuschmeißen. Die Rolling Stones, Paul McCartney und Radiohead haben das Label schon verlassen, Robbie Williams, Coldplay und The Verve sind im Bummelstreik. Dabei sei Hands gar nicht an der Misere des Labels schuld, meint Pilz: "Er hat die wilden Aufkäufe der frühen Neunzigerjahre nicht getätigt. Ihm bleibt nur das Staunen darüber, dass überhaupt nur jeder siebte Künstler noch Gewinn für ihn und seine Kapitalpartner erwirtschaftet, und dass horrende Kosten anfallen für die Vernichtung unverkäuflicher CDs."

Weiteres: Manfred Quiring berichtet von der Einschüchterungskampagne, die den British Council dazugebracht haben, seine Fillialen in Petersburg und Ekaterinenburg zu schließen: "Der Leiter der Petersburger Niederlassung, Steven Kinnock, wurde zeitweilig festgenommen, weil er angeblich angetrunken Auto gefahren sei." 30 Mitarbeiter wurden anschließend vom FSB verhört. Hanns Georg Rodek meldet, dass Hollywoods Regisseure einen neuen Tarifvertrag bekommen haben, der für die streikenden Drehbuchautoren wegweisend sein könnte. Im Interview mit Matthias Greuling erklärt Regisseur Michael Haneke, warum er nun ein Remake seinen Films "Funny Games" dreht. Alexander Kluy geht unserer Faszination für verlorene Schriften nach.

Besprochen werden das Comesback Angelica Domröse und Winfried Glatzeder mit "Paul und Paula" auf der Bühne in Potsdam und die Zürcher Inszenierungen der Opern "La Juive" und "El Cid".

FAZ, 19.01.2008

In der Beilage Bilder und Zeiten werden Schnipsel aus Susan Sontags (mehr) vor Selbstbewusstsein strotzenden Tagebüchern abgedruckt. Am 1. Juni 1966 heißt es da: "Ich habe nichts übrig für Leute, die sich nicht schützen können, nicht für sich eintreten. Mein Denken=King Kong. Agressiv, reißt andere in Stücke. Ich halte es die meiste Zeit unter Verschluss - und kaue Nägel."

Weiteres: Henning Ritter erinnert sich an den Religionssoziologen und Philosophen Jacob Taubes. Gina Thomas tourt durch die europäische Kulturhauptstadt Liverpool. Regisseur Wong Kar-wai fleht Verena Lueken im Interview auf der letzten Seite an, von schlüpfrigen Themen abzulassen. "Sie müssen mir einfach glauben, dass Erotik nicht so wichtig ist für mich."

Mark Siemons weist im Feuilleton darauf hin, dass auch China gewalttätige Jugendliche hat, und zwar angeblich immer mehr. Christian Geyer hat mit dem achtstufigen Gymnasium den Grund der Wahlkampfübel Roland Kochs identifiziert. Alexander Müller referiert ein Gespräch zwischen den Autoren Thomas Glavinic (mehr) und Georg M. Oswald (mehr) im Münchner Literaturhaus. Joseph Croitoru erfährt aus osteuropäischen Zeitschriften mehr über das angespannte Verhältnis von Christen und Muslimen auf dem Balkan.

Die Schallplatten- und Phonoseite beschäftigt sich mit der "Jukebox" von Chan Marshall alias Cat Power und der elektroakustischen "molecular Gastronomy" von Food.

Besprochen werden eine Schau mit sowjetischen Frauenbildnissen im Russischen Museum in St. Petersburg, eine Ausstellung mit Bildern Cennino Cenninis in der Berliner Gemäldegalerie, Eduardo de Filippos Komödie "Filomena Marturano" am Hans-Otto-Theater in Potsdam, Richard Wagners "Fliegender Holländer" in der Version von Ian Judge bei den Winterfestspielen in Baden-Baden, und Bücher, darunter A.F.Th. van der Heijdens Roman "Die Movo-Tapes"und Ralf Isaus Roman über den New Yorker Inuit "Minik" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 19.01.2008

Der Historiker Jan Plamper unterhält sich mit dem Politologen Corey Robin über Angstkulturen. Unter anderem, so Robin, "benutzen Politiker Angst als Negativfundierung für Politik immer dann, wenn es ihnen an positiven Gesellschaftsvisionen und -programmen mangelt - ich denke etwa an ein klares Bekenntnis zu Gleichheit und Umverteilung. Angst stellt Politikern eine Ersatzsprache für Politik bereit, eine Sprache, in der sie nicht sagen müssen, wofür sie eintreten, und warum sie für etwas sind, sondern nur noch wogegen sie sind."

Weitere Artikel: Ben Redelings war aus aktuellem Anlass mit der sogenannten Nokia-Bahn zwischen den Hauptbahnhöfen von Bochum und Gelsenkirchen unterwegs. Aus demselben Anlass denkt Peter Michalzik über die "Generation Nokia" nach und informiert Richard Wagner über die Folgen der Nokia-Fabrikation in Rumänien. Christian Schlüter kommentiert mit Verweis auf Mahmud Ahmadinedschads Auftritt an der Columbia-University die durch Studentenproteste im Vorfeld verursachte Absage eines Papst-Vortrags an der römischen Sapienza-Universität. Daniel Kothenschulte macht sich darüber Gedanken, wie man den Kindern die Sache mit dem Blow Job in Til Schweigers ab sechs frreigegebenem Film "Keinohrhasen" erklären soll. Von heftigen Protesten gegen die Subventions-Umschichtungen des britischen "Arts Council" berichtet Peter Nonnenmacher. In ihrer USA-Kolumne erzählt Marcia Pally diesmal, wie aufwendig es sein kann, sich einfach nur für ein Abendessen zu verabreden.

Besprochen werden ein Frankfurter Konzert des "dritten Münchner Geigenwunders" Arabella Steinbacher und der zum Auftakt des "Africa alive"-Festivals gezeigte Film "Africa Paradis".

Berliner Zeitung, 19.01.2008

In der deutschen Filmgeschichte klaffen erstaunlich große Löcher bis in die siebziger Jahre hinein, beklagt der Direktor des Filmmuseums Berlin, Rainer Rother, im Interview mit Ralf Schenk. "Sehr schlimm steht es etwa um die Überlieferung des Stummfilms und des Films der Weimarer Republik. Nur fünfzehn Prozent der in Deutschland hergestellten Stummfilme sind noch vorhanden, beispielsweise von siebenhundert Filmen des Jahrgangs 1913 nur ganze sechzig! Phasen, in denen eine verbindliche Regelung zur Aufbewahrung von Filmen existierte und durchgesetzt wurde, waren hier zu Lande regelmäßig auch Zeiten der Diktatur. So gründeten die Nationalsozialisten 1935 das Reichsfilmarchiv und führten eine Art Pflichtabgabe für Filme ein. In der DDR mussten nicht nur die Defa-Produktionen an das Staatliche Filmarchiv übergeben werden, sondern alle Filme, die in den Verleih kamen. Das war eine ungleich bessere Situation als in der Bundesrepublik."

NZZ, 19.01.2008

In der Wochenendbeilage Literatur und Kunst frönt Andreas Kilcher dem Stöbern in fünf alten Konversationslexika, die in der Digitalen Bibliothek wieder auferstanden sind. "Was weiß das 'Damen-Conversations-Lexikon' (in der Auflage von 1834 ff.) von Afrikas Frauen? Dass der Niedergang der Kultur mit der Missachtung der Frau begonnen hat: 'Die ritterliche Galanterie der Mauren (...) ist verschwunden. Schön und muthig, ja verwegen und tollkühn im Kampfe sind die Männer im Norden von Afrika noch, wie vor 500 Jahren; (...) aber die Poesie ist aus ihrem Leben gewichen, seitdem sie dem edlen Weibe die Freiheit genommen, (...) seitdem sie das idealere Geschlecht sich untergeordnet haben.'"

Außerdem zählt Andrea Gnam einige aktuelle Fotokünstler auf, die den Computer als Stilmittel entdeckt haben. Verena Huber Nievergelt beschreibt, wie der Schweizer Hugo P. Herdeg nach seinem Tod vom Industriefotografen zum Künstler wurde.

Warum in Finnland wieder Rufe nach einem Lenin-Denkmal laut werden, erklärt Aldo Keel im Feuilleton. Ulrich Ruh, Chefredakteur der katholischen Herder-Korrespondenz, lobt den vom Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz zurücktretenden Karl Kardinal Lehmann als Pragmatiker und Kommunikationstalent. Die "Herdprämie" ist aus Schweizer wie kulinarischer Sicht gar kein Schimpfwort, konstatiert Joachim Güntner. Andrew Mortons "nicht autorisierte" Biografie des Scientology-Thetanen Tom Cruise lohnt die Lektüre nicht, schreibt Andrea Köhler.

Besprechungen widmen sich der "facettenreichen" Ausstellung zu Lucas Cranach dem Älteren im Frankfurter Städel-Museum, der Möbelmesse "imm cologne" in Köln, der Schau "Die große Kette der Wesen" zur frühneuzeitlichen Naturgeschichte in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel und Büchern wie Eric-Emmanuel Schmitts Roman "Adolf H. Zwei Leben" oder einem Band mit den neu herausgegebenen Erzählungen von D. H. Lawrence (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 19.01.2008

2008 ist das "Jahr der Kartoffel". Zeit, sie aus dem Dunkel des Kellers ins Licht des Feuilletons zu holen, findet Christine Dössel und erklärt uns nach dem Besuch des Münchner Kartoffelmuseums, was wir an ihr haben. Der Theologe Peter Dabrock wägt Für und Wider in der Debatte um die Verschiebung des Stammzell-Stichtags ab - und schlägt sich auf die Seite der Kompromissbereitschaft. Fritz Göttler fragt sich nicht als einziger, warum die FSK Til Schweigers Film "Keinohrhasen" ab sechs Jahren freigegeben hat, obwohl darin von einem Blow Job die Rede ist. Mit Autor Stephen King und Regisseur Frank Darabont hat sich Jörg Häntzschel über die Erzählung "Der Nebel" und ihre Verfilmung unterhalten; "brillant" findet Doris Kuhn in ihrer Rezension den Film. Volker Breidecker gratuliert dem Autor und Generalsekretär der Humboldt-Stiftung Manfred Osten zum Siebzigsten. Auf der Medienseite informiert Hans-Jürgen Jakobs über den Erbenstreit im Hause Springer.

Besprochen ein "Iron & Wine"-Konzert in Dachau und eine Münchner Aufführung von Hector Berlioz' dramatischer Legende "Damnation de Faust". Andrian Kreye nimmt das nur aus Cover-Versionen bestehende neue Album von "Cat Power" zum Anlass, eine kleine Geschichte des Cover-Songs in der Rock- und Popmusik zu erzählen.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende erklärt uns ebenfalls Andrian Kreye die Liebe der US-Amerikaner zu ihren Schusswaffen. Er kommentiert damit die im Magazin abgedruckten Aufnahmen, die der Fotograf Kyle Cassidy geschossen hat. Magda Webering schreibt eine Hommage an die Jeans. Auf der Literaturseite wird ein Auszug aus Erik Orsennas und Isabelle Autissiers Buch "Großer Süden. Eine Reise in die Welt der Antarktis" vorabgedruckt. Im Interview mit Alexander Gorkow spricht die Schauspielerin Helen Mirren über "Image" und die Untugenden der 68er: "Gott, die Hippies, ich meine: Was waren wir Frauen denn für die? Sexobjekte, und zwar öffentliche Sexobjekte, sehr regressiv runtergestuft von Kerlen, die ständig alles befreien wollten, das Land Vietnam, das Proletariat, den Penis, die Vagina."