Heute in den Feuilletons

Mit Karacho in den Tod

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2008. Im Standard rufen Andre Glucksmann und Bernard Henri Levy zu ein bisschen weniger Rücksicht auf Russland auf. Die Blogs diskutieren mal wieder über die Frage, ob Internet, Qualität und Journalismus zusammenpassen. NZZ und FAZ versuchen zu erklären, warum Bernd F. Lunkewitz den Aufbauverlag mindestens dreimal kaufen musste, bevor er ihn besaß. In der SZ annonciert Paolo Flores d'Arcais mindestens zwölf Jahre Berlusconi. Spiegel Online macht sich Sorgen um das deutsche Kino.

Standard, 02.04.2008

Zum bevorstehenden Nato-Gipfel in Bukarest fordern Bernard-Henri Levy und Andre Glucksmann in einem gemeinsamen Brief an Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, der Ukraine und Georgien nicht den Weg in das Bündnis zu versperren. "Ist uns die Welt heute so wohlgesinnt, dass wir uns weigern können, die wenigen Länder, die auf eigenes Risiko unser politisches Modell übernehmen, zu Verbündeten zu machen? Seit Jahrzehnten haben wir Verfechter der Menschenrechte und verfolgte Demokraten auf der ganzen Welt unterstützt. Dieses eine Mal, in Bukarest, geht es nicht darum, eine Diktatur zu verdammen oder einen Tyrannen zu boykottieren, sondern den Weg der freien Entscheidung freier Völker anzuerkennen und sie in unsere politisch-militärische Familie zu integrieren. Was von uns verlangt wird, ist sehr einfach. Und doch scheint es seltsam kompliziert. Das Problem ist einmal mehr, dass unsere Gemeinschaft von Nationen sich spaltet. Aus einer obsessiv nachgebeteten Sorge, sich nicht mit Russland anzulegen, sträuben sich bestimmte Regierungen, die jungen Demokratien Georgiens und der Ukraine zu unterstützen."

Aus den Blogs, 02.04.2008

Heute ist in Berlin eine Podiumsdiskussion über Qualität in Medien und Blogs angesagt. Es diskutieren die Alphablogger Thomas Knüwer, Stefan Niggemeier und Mercedes Bunz. Thomas Knüwer schreibt in seinem Blog Indiskretion Ehrensache über die traurige Tatsache, dass sich kein Printjournalist und Blogkritiker einladen lassen wollte. Don Alphonso lässt in seiner Blogbar aber auch die Blogger nicht so gut aussehen: "Die Beziehungen zwischen Bloggern und Journalisten liegen in diesem Fall auf der Hand, eine Berliner Clique tut sich gegenseitig Gutes, es zeigt, wo kommerzielle Blogs und Journalismus heute stehen: ziemlich weit weg von der Qualität, die sie dem jeweils anderen so gerne absprechen." Und Stefan Niggemeier lässt schon mal diskutieren, worüber diskutiert werden soll.

NZZ, 02.04.2008

Ursula Pia Jauch liest mit großem Vergnügen "Le Journal de Leonard", die Tagebücher von Marie-Antoinettes Coiffeur : "Er ist Gascogner, also unerschrocken, ehrgeizig und ein begnadeter Aufschneider."

Weiteres: Jörg Plath erzählt, wie Bernd F. Lunkewitz insgesamt dreimal den Aufbau-Verlag kaufen und siebzehn Jahre lang prozessieren musste, um sich nun endlich Eigentümer nennen zu dürfen. Karin Hellwig berichtet, dass Diego Velazquez' Heimatstadt Sevilla mit der "Heiligen Rufina" nun das dritte Gemälde des Meisters erworben hat. Marc Zitzmann resümiert die Sterbehilfe-Debatte, die durch den Freitod der furchtbar entstellten Chantal Sebire in Frankreich ausgelöst wurde. Rolf Niederer schreibt zum Tod des amerikanischen Filmregisseurs Jules Dassin.

Besprochen werden Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 02.04.2008

Auf der Medienseite schildert Thomas Rogalla die Vollversammlung der Redaktion zur Stasi-Affäre in der eigenen Zeitung. "Nach einer intensiven Debatte erklärte sich bei einer anonymen Abstimmung die große Mehrheit der bei der Vollversammlung anwesenden Redaktionsmitglieder grundsätzlich bereit, bei der Birthler-Behörde einen Antrag auf Aktenauskunft zu stellen - auch als Zeichen an die Leser und die Öffentlichkeit, dass die Redaktion die Mitte der 90er-Jahre begonnene Stasi-Aufarbeitung bei der Berliner Zeitung offensiv fortsetzen will." Es gab allerdings auch "Einwände", so Rogalla. "'Ich sehe nicht ein, warum ich meine Unschuld beweisen muss', sagte ein Redaktionsmitglied. Er sehe sich einem 'Generalverdacht' ausgesetzt, sagte ein aus der DDR stammender Kollege."

Auch die Leser diskutieren die Affäre.
Stichwörter: Stasi, 1990er, 90er

Spiegel Online, 02.04.2008

Felix Disselhoff trägt bestürzende Zahlen zur deutschen Kinokrise zusammen: "Seit 2002 verloren deutsche Kinos ganze 39 Millionen Besucher. Das hat zur Folge, dass immer mehr Spielstätten geschlossen werden - so wie jüngst der Hamburger Grindel-Ufa-Palast. Die Besucher des Hamburger 'Grindel' konnten noch ein Gefühl dafür bekommen, was Kino in den Fünfzigern bedeutete: Säle mit sechshundert Sitzen, Stuck an den Wänden, schwere Samtvorhänge, in denen sich der Staub der Filmgeschichte sammelte. Romy Schneider erschien hier zu Premieren, 'Doktor Schiwago' hatte hier seine Uraufführung. Doch vergangene Woche öffnete sich hier der Vorhang zum letzten Mal. Bald soll über der Leinwand die Abrissbirne schwingen."

Außerdem meldet Spiegel online, dass Günter Grass letztinstanzlich gegen die FAZ gewonnen hat, die einen alten Brief des Autors veröffentlicht hatte, in dem Grass Karl Schiller aufforderte, seine Nazi-Vergangenheit zu gestehen. Leider hatte sie dies ohne Erlaubnis des Autors getan.

FR, 02.04.2008

Im Interview mit Stefan Schickhaus spricht der südafrikanische Tenor Johan Botha über sein Metier und die Vorzüge konzertanter Opern: "Bei einer konzertanten Oper kann jedenfalls nicht das passieren, was bei einer schlechten Inszenierung passiert - nämlich dass die Seele leidet."

Weitere Artikel: In Times Mager verarbeitet Christian Schlüter die Meldung, dass nunmehr nach Angaben des Vatikans die Katholiken mit 17,4 Prozent nicht mehr die Mehrheit der Weltbevölkerung stellen, sondern die Muslime mit 19,2 Prozent. Sandra Danicke freut sich jetzt auch über den Pritzker-Preis für den Architekten Jean Nouvel. Daniel Kothenschulte schreibt den Nachruf auf den Regisseur Jules Dassin.

Besprochen werden die Bettina-Rheims-Ausstellung in Berlin (die Arno Widman auch gefiel, weil so gar "kein Kunstgewese um die Aufnahmen ist"), eine Aufführung von Goethes "Wahlverwandtschaften" in Mainz und Mordecai Richlers Roman von 1968 "Cocksure" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 02.04.2008

Annabel Dillig porträtiert die junge Münchner Schauspielerin Brigitte Hobmeier, eine der besten ihrer Generation: "Ihr Studium finanzierte sie sich als Herzerlverkäuferin auf dem Münchner Oktoberfest - das klingt nach Horvath-Stück, ist aber Teil der Hobmeier-Story. Kein Wunder, dass sie ihren bislang größten Erfolg als Elisabeth in Horvaths 'Glaube, Liebe, Hoffnung' feierte, als jene 'Glücksritterin', die Regisseur Stefan Kimmig in der Figur sehen wollte. Eine, die immer wieder aufsteht, wenn sie auf der glitschig-nassen Bühne des Lebens hinfällt und sich mit Karacho in den Tod tanzt."

Weitere Artikel: Hendrik Werner kritisiert, dass sich die ARD erst jetzt entschloss, eine "Tatort"-Folge aus Ludwigshafen auszusenden, in der es um Ehrenmord geht - die Ausstrahlung war nach dem Brand in einem Ludwigshafener Haus abgesetzt worden. Gemeldet wird, dass nun vielleicht doch noch ein Papier-Brockhaus aufgelegt werden soll. Gerhard Midding schreibt zum Tod des Regisseurs Jules Dassin. Harro Zimmermann berichtet über ein Kolloquium der neu gegründeten Friedrich-Schlegel-Gesellschaft. Matthias Heine gratuliert dem Schauspieler Hans Michael Rehberg zum Siebzigsten. Manuel Brug annonciert ein No-Festival an der Oper von Lyon. Und Steffen Rüth unterhält sich mit Paul Anka, der auf Deutschland-Tournee geht.

Besprochen wird Michel Gondrys Film "Abgedreht".

TAZ, 02.04.2008

Auf den Kulturseiten beschreibt James Redfield, der als Aushilfsenglischlehrer Feldforschung an einer Neuköllner Grundschule betreibt, wie sich 12-jährige Rapper mit Täterposen gegen die alltägliche Diffamierung als Opfer wehren. Anneli Klostermeier stellt ein Projekt des Belfaster Dramatikers Gary Mitchell vor, der ein Stück über den berüchtigten nordirischen Pfarrer Ian Paisley, 81-jähriger Chef der radikalen protestantischen Partei DUP (Democratic Unionist Party) und religiöser Hardliner, schreibt. Besprochen wird eine Ausstellung von Zeichnungen und Gemälden von Matthias Grünewald im Berliner Kupferstichkabinett.

Die geplante Kooperation von Süddeutscher Zeitung und ZDF im Internet ist geplatzt, meldet die Medienseite. In tazzwei ist ein Interview mit Barbara und Winfried Junge über den letzten Teil ihres Langzeitprojekt "Die Kinder von Golzow" zu lesen, "Und wenn sie nicht gestorben sind - dann leben sie noch heute. Das Ende der unendlichen Geschichte".

Schließlich Tom.

SZ, 02.04.2008

Wenn Berlusconi bei den Wahlen gewinnt, erklärt der italienische Philosoph Paolo Flores d'Arcais im Interview, "wird er Regierungschef für fünf Jahre, und dann wird er sich am Ende der Legislaturperiode zum Staatspräsidenten mit weiteren sieben Jahren Amtszeit wählen lassen. Zwölf Jahre Berlusconi-Kur - danach dürfte die italienische Demokratie ungefähr so aussehen wie die russische."

Thüringens Kultus-Staatssekretär Walter Bauer-Wabnegg hat seinem Ärger über Ingo Schulze Luft gemacht, der sich in seiner Dankesrede für den Thüringer Literaturpreis gewünscht hatte, nicht Eon, sondern der Staat würde das Preisgeld bezahlen (mehr hier). Thomas Steinfeld ist entsetzt über den Ton Bauer-Wabneggs: "ironisch, süffisant, herablassend, so als habe er es nicht nur mit einem ungezogenen Menschen..., sondern auch mit einem uneinsichtigen, ja dummen Menschen zu tun." (Eine Attitüde, die Feuilletonredakteuren ganz und gar fremd ist.)

Weitere Artikel: Willi Winkler bereitet uns darauf vor, dass Inge Jens mit ihrem Interview im morgigen Stern keinesweigs das Leiden ihres demenzkranken Mannes zu Markte trägt, sondern eindrucksvoll den Schrecken des Alters beschwört (hier der Hinweis im Stern). Marco Siebertz fragt sich, ob man Auszeichnungen wie "Welthauptstadt des Designs" braucht. Gerhard Matzig erinnert an den vor 40 Jahren entworfenen Sitzsack "Sacco". Wilfried Nippel schreibt zum Tod des Marburger Althistorikers Karl Christ. Susan Vahabzadeh schreibt zum Tod des Filmemachers Jules Dassin. Christine Dössel gratuliert dem Schauspieler Hans Michael Rehberg zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Constanze von Bullion vom Weitergang der Stasi-Affäre in der Berliner Zeitung: der Leitende Redakteur Christian Bommarius kritisierte die Verlagsspitze aus den Anfangsjahren um Erich Böhme umd Michael Maier, die sich für die Vergangenheit nicht interessiert hätten. Thomas "IM Gregor" Leinkauf selbst nahm die Sache wohl recht gelassen: "Leinkaufs Funktionen in der Redaktion ruhen nun, er ist aber nach wie vor im Haus. Nach einer Versammlung der Redakteure soll er einfach auf seinem Stuhl sitzen geblieben sein - um dann an der Planung für den nächsten Tag teilzunehmen. Eine peinliche Szene, fand einer, der dabei war."

Besprochen werden eine Compilation mit Dancemusic aus Großbritannien 1984-2008, zwei Aufführungen am Schauspiel Essen: Sophokles' "Antigone" in der Inszenierung von David Bösch und Jan Neumanns "Schmelzpunkt" in der Inszenierung von Henning Bock, Claudia Bauers Inszenierung eines neuen Stücks der Brüder Presnjakow, "Vor der Sintflut", am Schauspiel Stuttgart, eine von Marsianern kuratierte Ausstellung zeitgenössischer Kunst in der Londoner Barbican Art Gallery und Bücher, nämlich Lorraine Dastons und Peter Galisons Geschichte der Objektivität sowie Laura Doermers Roman "Trappentreu" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 02.04.2008

Hubert Spiegel erklärt noch einmal ganz genau die juristisch komplizierte Situation um Treuhand, Aufbau Verlag und Bernd F. Lunkewitz. Mehr dazu online in der SZ vom Freitag. Die Kreml-kritische russische Journalistin Elena Tregubowa, vor deren Haustür in Moskau im Jahr 2004 eine Bombe explodierte, erhält nun, wie sie im Interview berichtet, als erste Russin überhaupt offiziell Asyl in Großbritannien. Außerdem erzählt sie noch einen guten Witz zum neuen Präsidenten Medwedew: "Putin geht mit Medwedew ins Restaurant. Sagt zum Kellner: 'Ich hätte gerne das Steak.' Fragt der Kellner: 'Und was ist mit dem Gemüse?' Antwortet Putin: 'Mr. Medwedew nimmt auch ein Steak.'" Patrick Bahners kommentiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das einem Vater das Recht zubilligt, seinen Sohn nicht sehen zu müssen. Andrea Jeska hat das "Kigali Memorial Center" (Website) in Ruanda besucht, das an den Völkermord erinnert.

In der Glosse würdigt Paul Ingendaay die Lebensleistung des nun verstorbenen Pedro Zaragoza Orts, der als Bürgermeister von Benidorm den modernen spanischen Tourismus erfand. Andreas Platthaus berichtet, dass Li Yings Film "Yasukuni" über den Tokioter Schrein der Kriegstoten in Japan aus Angst vor Ausschreitungen wohl nicht im Kino zu sehen sein wird. Wolfgang Sandner berichtet vom Budapester Frühlingsfestival. Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Schauspieler Hans-Michael Rehberg zum Siebzigsten. Michael Althen schreibt zum Tod des Regisseurs Jules Dassin. Auf der Medienseite erkennt Michael Hanfeld in den jüngsten Äußerungen Kurt Becks einen Freibrief für den Online-Journalismus von ARD und ZDF.

Auf der DVD-Seite ist gleichfalls Michael Althen hellauf begeistert von der japanischen Frauengefängnis-Filmserie "Sasori". Andreas Kilb empfiehlt neue DVDs mit Filmen von Francois Truffaut und (weniger enthusiastisch) Claude Chabrol, Thomas Scholz freut sich über die DVD-Edition von Tom di Cillos Film "Box of Moonlight". Verena Lueken gedenkt des kambodschanischen Journalisten Dith Pran, dessen Geschichte in Roland Joffes Film "Killing Fields" erzählt wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Pflanzen - Dinge - Ruhrgebiet" mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch in Paderborn, Martin Scorseses Stones-Film "Shine a Light" (unsere Berlinale-Kritik) und Bücher, darunter Uros Zupans Gedichte "Immer bleibt das Andere" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).