Heute in den Feuilletons

Um Gewalt gut sichtbar zu machen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2008. Die SZ fragt, warum Rainald Goetz lieber fürs Netz schreibt als auf Papier. In der SZ erklärt Daniel Libeskind außerdem, warum er nicht in Diktaturen baut. Die Berliner Zeitung befasst sich mit Doping in der klassischen Musik. In der Welt offenbart der Archäologe Hans-Joachim Gehrke seine sehnlichsten Archäologenträume. Die FAZ eröffnet eine Kampagne gegen die Wagner-Schwestern als neue Leiterinnen von Bayreuth.

Berliner Zeitung, 28.05.2008

Franka Nagel unterhält sich mit dem Musikmediziner Helmut Möller über Doping in der klassischen Musik: "Die Begriffe Drogen und Doping treffen nicht ganz zu. Aber Tabletten- und Alkoholmissbrauch sind definitiv Probleme unter Berufsmusikern. Meiner Erfahrung nach nehmen 25 bis 30 Prozent der Musiker regelmäßig Tabletten oder Alkohol gegen Auftrittsängste zu sich."
Stichwörter: Alkohol, Drogen, Klassische Musik

NZZ, 28.05.2008

Susanne Ostwald verabschiedet den verstorbenen Star-Regisseur Sydney Pollack. Martin Meyer schreibt zum hundertsten Geburtstag des James-Bond-Erfinders Ian Fleming. Peter Hagmann bilanziert recht zufrieden die Arbeit des deutschen Dirigenten Marek Janowski mit dem eigentlich auf französische Musik ausgerichteten Orchestre de la Suisse Romande.

Besprochen werden Bücher, darunter Georg Kreis' Studie zu Schweizer Denkmälern, "Zeitzeichen für die Ewigkeit", Gregoire Bouilliers Roman "Der Überraschungsgast" und Gergely Peterfys "todestrunkener" Roman "Baggersee" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

Welt, 28.05.2008

Der Archäologe Hans-Joachim Gehrke erzählt im Interview über "Indiana Jones", was er gern entdecken würde. "Es ist merkwürdig, aber es bewegt einen schon besonders, Gold zu finden. Doch von so etwas träume ich nicht. Zur Zeit forsche ich über die Anfänge von Olympia. Bei der Beantwortung der Frage weiterzukommen, wie dieses zentrale Heiligtum wurde, was es war, wäre ein schöner Erfolg. Denn dabei lernen wir auch etwas darüber, wie die Griechen eigentlich zu Griechen wurden." Und dann sagt er noch, was die Varusschlacht vor 2000 Jahren nicht war: "Nicht die Geburtsstunde der deutschen Nation, sondern ein schönes Beispiel für römische Machtpolitik und ihr Scheitern."

Weitere Artikel: In der Leitglosse freut sich Eckhard Fuhr über Angela Merkels Entscheidung, die Ausstellung zur Varusschlacht persönlich zu eröffnen. Harald Schmidt wird festes Mitglied im Ensemble des Stuttgarter Schauspiels, und Matthias Heine fragt sich, ob er damit den Rückzug vom Fernsehen einleitet. Dankwart Guratzsch kritisiert die Verkehrsplanung für die Waldschlösschenbrücke. Genau fünf Tage und Nächte kann man sich Paul Klees Aquarellzeichnung "Angelus Novus" (Benjamins "Engel der Geschichte") in Bern anschauen, dann geht sie wieder nach Israel zurück, berichtet Uta Baier. Peter Dittmar erinnert an 1858 zwischen Russland und China unterzeichneten Vertrag von Aigun. Holger Kreitling schreibt zum Tod des Hollywood-Regisseurs Sydney Pollack. Wieland Freud schreibt zum 100. von Ian Fleming.

TAZ, 28.05.2008

Im Interview auf tazzwei erklärt der Informatikprofessor Andreas Pfitzmann im Interview, warum Onlinedurchsuchungen nicht nur die Privatsphäre, sondern auch den Körper verletzen. "Als es in Karlsruhe darum ging, die Zulässigkeit der heimlichen Onlinedurchsuchung zu klären, wollte ich als sachkundige Auskunftsperson den Richtern erläutern, was diese Maßnahme eigentlich bedeutet. Innenminister Wolfgang Schäuble und die Vertreter des Bundeskriminalamtes vergleichen diese gern mit einer Wohnungsdurchsuchung. Das ignoriert den grundlegenden Unterschied, dass diese Durchsuchungen offene Maßnahmen sind, während Onlinedurchsuchungen verdeckte Maßnahmen sein sollen. Dazu kommt, dass ein immer größerer Teil unseres Lebens in Computern und im Internet abgebildet wird. Bei vielen Menschen schon heute weit mehr als in ihrer Wohnung. Außerdem werden wir unsere körperlichen Fähigkeiten künftig mehr und mehr mit Computern ergänzen."

Auf der Meinungsseite denkt Renee Zucker über die Telekomabhöraffäre und die ansteigende Akzeptanz des transparenten Bürgers nach. "Wer als Kind keine Gottesfurcht kannte, wird sich doch als Erwachsener über ein paar Kameras mehr oder weniger nicht aufregen. Andererseits könnte für denjenigen, der Gottesfurcht gehabt hat, auch der Umkehrschluss gelten: Schon damals, als Gott immer zugeguckt hat, ist nichts passiert, wenn ich Böses tat - warum sollte ich mich da vor Kameras fürchten?"

Auf den Kulturseiten unterhält sich Jenny Schlenzka mit dem kanadischen Künstler Terence Koh über dessen Ausstellung "Captain Buddha" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle: "Ich habe Moby Dick gelesen und bin in der ersten Zeile hängen geblieben: 'Nennt mich Ismael'. Ein wunderschöner Satz. Zur gleichen Zeit hab ich mich viel mit dem Buddhismus beschäftigt und das Gefühl bekommen, dass es zwischen den beiden Themen eine Verbindung gibt." Unzählige Banalitäten später: "ich hab das Buch ja nie gelesen. Wie gesagt, ich bin an der ersten Zeile hängengeblieben." Nathalie Bloch macht in den acht Inszenierungen neuer Theatertexte bei den Mülheimer Theatertagen einen Hang zur Düsternis aus. Ekkehard Knoerer würdigt im Nachruf Sydney Pollack als einen Regisseur, der mit seinen Filmen bewiesen habe, wie intelligent Mainstream sein kann.

Und Tom.

FR, 28.05.2008

Mit großer Freude hat Hans-Klaus Jungeheinrich die von der Oper Zürich aus der Versenkung geholte Oper "Clari" von Jacques Fromental Halevy gehört: "Dafür sorgte die quirlig behände Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier in den lebhaft kolorierenden Dekorationen von Christian Fenouillat, die toll herumspektakelte in einer Sphäre von aktuellem Parvenu-Pomp und betonscheunenhaft bleckenden Insignien schweizerisch-gebirglerischer Ländlichkeit. Der Mittelakt gar war in ein Klinikinterieur versetzt, was gewaltige Schwankungen zwischen Groteske und makabrer Ernsthaftigkeit evozierte. Was dicht am Absturz ins überdreht Banale balancierte, behielt doch immer die Schwebe adrett servierter, wohlkalkulierter Geschmacklosigkeiten... Ein Wunder geradezu, mit welch durchwärmter Eleganz, ja Glut Cecilia Bartoli auch das noch mit Leben erfüllte."

Weiteres: Christian Schlüter nutzt den Raum von Times Mager, um auf die comic-Zeichnungen hinzuweisen, in denen die Künstlerin Coco Wang von Chinas Erdbebenkatastrophe erzählt (und die Paul Gavrett hier ins Netz gestellt hat). Carsten Dippel erinnert an die Sprengung der von Martin Luther geweihten Leipziger Universitätskirche St. Pauli vor vierzig Jahren. Im Interview mit Sandra Danicke spricht die Frankfurter Kuratorin Chus Martinez über die mühselige Arbeit der Kunstvereine.

Daniel Kothenschulte schreibt den Nachruf auf Regisseur Sydney Pollack. Nicht wirklich verteidigen kann Michael Kohler den morgen anlaufenden Serienfilm "Sex and the City", gegen den Sibylle Berg in der NZZ vorgebracht hat, "dass vor allem homosexuelle Autoren den 'Sex and the City'-Damen lästerliches Getue und groteske Fummel auf den Leib geschneidert haben". Christoph Schröder hat Caroline Emcke aus ihrem RAF-Buch "Stumme Gewalt" lesen hören.

SZ, 28.05.2008

Burkhard Müller bespricht Rainald Goetz' Blog und entwickelt auch eine Theorie, warum Goetz fürs Netz schreibt und nicht in anderen Formaten: "Der Roman besteht nur noch aus Knochen und Fett, sprich einem ausgedachten Plot, an den sich Massen schwerfälliger Details hängen. Und auch die Formate der Zeitungen beargwöhnt Goetz: Dass die Plätze so starr sind, gibt dem Gefäß Vorrang vor dem Inhalt; dass Raum aber dabei auch so knapp ist, macht alle böse in der Konkurrenz. 'Print macht Druck, Internet entwickelt Sog und Anziehungseffekte mit der Zeit.' Zeitungsleute, sagt Goetz, leiden 'an der Gewalttätigkeit ihrer Produktionsgewissheiten.'"

Im Gespräch mit Jörg Häntzschel erklärt Daniel Libeskind, warum er nicht in Diktaturen wie China bauen würde: "Bauwerke sind keine autonomen, abstrakten Objekte. Sie sind Teil des Lebens, Teil eines Kontexts. Wir können das Kolosseum in Rom bewundern, weil wir es aus dem Kontext der Gladiatorenkämpfe lösen, in denen Menschen ermordet wurden. Aber wenn Sie den Kontext mit einbeziehen, denken Sie über so ein Bauwerk ein wenig anders. Es wurde gebaut, um Gewalt möglichst gut sichtbar zu machen."

Weitere Artikel: Fritz Göttler schreibt zum Tod des großen Regisseurs Sydney Pollack. Gemeldet wird, dass Jean Nouvel in Paris den Wettbewerb für den "Signalturm" im Geschäftsviertel La Defense gewonnen hat. Johannes Willms sieht den Gewinnerfilm aus Cannes, Laurent Cantets "Entre les murs", als eine Würdigung der republikanischen Zentralgestalt des Lehrers. In der Reihe "Kaisers Geburtstag" erinnert sich der seit sechzig Jahren aktive Kritiker Joachim Kaiser an eine historische Aufführung von Brechts "Johanna" unter Gründgens und die mit Wildheit geführten ideologischen Debatten um Brecht in den fünfziger Jahren ("Doch hätte ich Brecht gewiss nicht als Schriftsteller von Rang, als Dichter verehrt, falls seine Stücke wirklich so eindeutig wären, wie die Thesen, auf die sie hinauslaufen..."). Reinhard J. Brembeck fragt, ob Riccardo Chailly die Leipziger Oper verlassen wird. Tobias Lehmkuhl resümiert eine Diskussion, wo es um Naturwissenschaften, Literatur, Marcel Beyer und Vogelgesang ging.

Besprochen werden Gert Jonkes neues Stück "Freier Fall" in Wien, das filmische Remake der Serie "Sex And The City" und Bücher, darunter Wolfgang Hilbigs gesammelte Gedichte.

Aus den Blogs, 28.05.2008

Am Beispiel des Irans analysiert Matthias Künzel in einem Artikel für das Wall Street Journal, den er deutsch in seinem Blog präsentiert, den Unterschied zwischen der weichen Linie Steinmeiers und der harten Linie Angela Merkels: "Berlin steht vor einem Richtungsentscheid. Zwischen Merkels Versprechen und dem geopolitischen Ansatz ihrer Kontrahenten liegt eine unüberbrückbare Kluft. Während die Befürworter harter Sanktionen das Bündnis mit dem Westen suchen, um dem Terror des Islamismus entgegenzutreten, läuft der 'Partner'-Vorschlag auf ein strategisches Bündnis mit dem Islamismus und auf die Verschlechterung der Beziehungen zu Israel und den USA hinaus."

Rainald Goetz schreibt über eine ebenfalls im Internet publizierende Kollegin: "Ein Fernrohr hatte sich von Klage auf den Neid gerichtet, ich wollte anhand diverser Fehler von Frau Jelinek diverse Richtigkeiten vorschlagen, war dann aber von ihren Negativitätsexzessen so abgestoßen, dass mir das Negative komplett sinnlos vor-kam, ein Umschlag in Vernunft also vielleicht."

FAZ, 28.05.2008

Julia Spinola erklärt noch einmal, warum die erfolgte Quasi-Berufung von Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier gegen die Bayreuther Satzung verstößt. Und sie macht klar, dass die FAZ eine Gegenkampagne in die Wege zu leiten gedenkt, in Form einer Serie, in der prominente Vertreter des Musikbetriebs eigene Visionen für Bayreuth entwickeln. Den Anfang macht Ioan Holender, Direktor der Wiener Staatsoper, dessen "Vision" allerdings so gar nicht in die Zukunft gerichtet klingt: "Schließlich sollten professionelle Regisseure inszenieren und nicht Quereinsteiger, aus welcher Branche sie auch immer kommen mögen. Man sollte nicht vergessen, dass Opernregisseur ein Beruf ist, der auch Handwerkliches voraussetzt. Das sogenannte Experimentelle ist höchstens für einige Journalisten von Interesse, jedoch kaum für die Sache selbst. Außergewöhnliche, sensationelle Engagements von Regisseuren, die zuvor noch nie und nirgends inszeniert haben, sind schlicht unseriös."

Weitere Artikel: In der Glosse erläutert Edo Reents, wie man Lügner an ihrer Sprache erkennt - neben Walter Ulbricht und Uwe Barschel figuriert beispielshalber auch Kurt Beck mit seiner Versicherung, dass die Entscheidung für Gesine Schwan keine für eine rot-rote Koalition darstellt. Aus Moskau berichtet Kerstin Holm, dass Andrej Jerofejew, Kurator der Tretjakow-Galerie, jetzt angeklagt wurde, weil er mit einer Ausstellung "religiöse Zwietracht" gesät habe. Hellmut Seemann, der Präsident der Stiftung Weimarer Klassik, versichert, dass die Untersuchung der Schädel, die sich als nicht diejenigen Schillers erwiesen, sehr wohl im Interesse der Öffentlichkeit lag. Oliver Tolmein kommentiert die Handreichung einer Ethik-Kommission zum Thema "Begrenzung lebenserhaltender Therapie im Kindes- und Jugendalter". Jordan Mejias nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch Manhattans in einem "Gentrifizierungs"-Prozess befindliche Lower East Side. Reiner Hermann stellt den einst maoistischen, heute erzliberalen türkischen Denker und Publizisten Sahin Alpay vor. Über eine "hitzige Debatte über die richtige Art des Kochens" unter spanischen Köchen informiert Paul Ingendaay. Camilla Blechen schreibt zum Tod des ehemaligen Generaldirektors der Berliner Staatlichen Museen Stephan Waetzoldt. Den Nachruf auf den Hollywood-Regisseur Sydney Pollack hat Verena Lueken verfasst. Auf der Medienseite resümiert Michael Hanfeld den aktuellen Stand der Debatte um die Internet-Auftritte der Öffentlich-Rechtlichen - und zitiert ausführlich den Justitiar des Burda-Verlags, der die "Pressefreiheit" gefährdet sieht.

Besprochen werden Ausstellungen mit Werken von Terence Koh (hier) und Michael Sailstorfer (hier) in Frankfurt (Julia Voss apodiktisch: "Terence Koh ... ist der größte Unsinn, mit dem wir seit langem behelligt worden sind"), Michael Hanekes getreues Auto-Remake "Funny Games U.S." und Bücher, darunter Antonio Lobo Antunes' Briefe aus dem Krieg "Leben, auf Papier beschrieben" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).