Heute in den Feuilletons

Amig@s

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2008. Die Berliner Zeitung berichtet, dass die russische Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zum Mord an Anna Politkowskaja nun aber endgültig als abgeschlossen erachtet. Die FR notiert "sanfte Ekstase" in Berlin über ein noch zu realisierendes architektonisches Meisterwerk im Bahnhofsviertel. In der NZZ rät Daniel Pipes zu alternativen Formen des Islam. In der FAZ äußert John Banville seine Bitterkeit über das irische "Nein". In der Zeit rät der Verleger Christoph Links: Das kapitalistische Verlagswesen soll sich mal ein Beispiel an der Zentralbücherei für Blinde nehmen. Mit Cyd Charisse-Video!

Berliner Zeitung, 19.06.2008

Im Interview mit Jan Brachmann erklärt der Toningenieur der Berliner Staatsoper, Albrecht Krieger, warum in den umstrittenen Saal eine elektroakustische Anlage eingebaut wurde, die einen künstlichen Nachhall erzeugt: "Der Saal hat in seiner natürlichen Akustik eine Nachhallzeit von 0,5 Sekunden, an den besten Plätzen von 0,9 Sekunden. Ein gutes Opernhaus benötigt aber ungefähr 1,6 Sekunden. So ist es etwa in Bayreuth. Der Paulick-Saal wirft durch seine Gestaltung Probleme auf. Es gibt keine Räume, in denen sich der Klang richtig entwickeln kann. Und es gibt zu wenig Reflexionsflächen."

Auf der Medienseite berichtet Frank Herold, dass nach Angaben der russischen Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zum Mord an Anna Politkowskaja zu Putins Geburtstag vor zwei Jahren abgeschlossen seien. Der angebliche Mörder ist angeblich noch flüchtig. Herold zitiert Dmitri Muratow, Chefredakteur der Nowaja Gazeta, wo Politkowskaja arbeitete: "Der Fall ist nicht aufgeklärt. Die Ermittlungen kann man nicht als abgeschlossen ansehen, so lange weder die Auftraggeber des Verbrechens bekannt sind, noch der Mörder gefasst ist."

Außerdem berichtet Ralf Mielke über umstrittene Outsourcing-Pläne bei der Frankfurter Rundschau.

Welt, 19.06.2008

Am 26. Juni eröffnet im Pergamonmuseum Berlin die Ausstellung "Babylon - Mythos und Wahrheit". Thomas Vitzthum schreibt - offenbar von Deutschland aus - über den Zustand der historischen Stätten bei Bagdad, die Saddam Hussein zu einer Art Disneyland zur Feier seiner gloriosen Person hat ausbauen lassen. Uta Baier kommentiert wohlwollend das Projekt, einen privaten Stifter ein Museum beim Berliner Hauptbahnhof bauen zu lassen, um so die peinliche Brache in der Mitte der Stadt zu füllen. Hannes Stein hat den sympathischen Erfinder des Cyberspace, William Gibson, bei einer Lesung in New York erlebt. Thomas Lindemann präsentiert ein Interview, das er mit dem Jazzpianisten Esbjörn Sevnsson führte, kurz bevor dieser bei einem Tauchunfall ums Leben kam. Jacques Schuster schreibt zum Tod des italienischen Autors Mario Rigoni Stern.

Auf der Filmseite wird unter anderem Roger Donaldsons Bankräuberdrama "The Bank Job" besprochen. Rüdiger Sturm unterhält sich auch mit dem Regisseur. Zu guter Letzt schreibt Gerd Midding den Nachruf auf die Hollywood-Schauspielerin und Tänzerin Cyd Charisse.

FR, 19.06.2008

Roland Mischke verzeichnet "sanfte Ekstase" im Politischen Berlin: Mit dem Investor und Kunstsammler Nicolas Berggruen werden über ein Abkommen verhandelt, wonach er das Filetgrundstück am Humboldthafen neben dem Hauptbahnhof bekommt, wenn er dort neben Büros auch ein Museum für die Kunst des 21. Jahrhunderts baut: "Modern und extravagant soll auch die Kunsthalle in zentralster Berliner Lage ausfallen, die ausgefallensten Architektenentwürfe bekommen eine Chance, wenn sie umsetzbar sind. Die Hauptstadt soll ein weiteres architektonisches Meisterwerk von Weltrang bekommen."

Weiteres: Harry Nutt begutachtet die überarbeiteten Formulierungen im nun verabschiedeten Gedenkstättenkonzept. Christian Schlüter widmet sich in der Times Mager dem Wettbewerb um höchste Ämter. Daniel Kothenschulte schreibt den Nachruf auf Musical-Star Cyd Charisse.

Besprochen werden Roger Donaldsons "famoser" Thriller "Bank Job" (der sich laut Michael Kohler mit den "größten Schurkenstücken der Filmgeschichte" messen kann), Erick Zoncas "glückloses" Psychodrama "Julia" mit Tilda Swinton, Udo Maurers Dokumentarfilm "Über Wasser", eine Richard-Serra-Ausstellung im Kunsthaus Bregenz, die neue Dauerausstellung "Vorderer Orient" in Frankfurts Museum für Angewandte Kunst und James Sheehans Europa-Geschichte "Kontinent der Gewalt".

TAZ, 19.06.2008

Ekkehard Knörer präsentiert in seiner Kolumne "dvdesk" King Hus Kampfkunstspektakel "Ein Hauch von Zen" aus dem Jahr 1971: "Es ist der grandioseste aller Wuxia-Filme, also jenes spezifisch chinesischen Genres, das Kampfkunst mit Übersinnlichem kombiniert." Claudia Lenssen bespricht die beiden durch Zeit und Raum reisenden Filme "Rückkehr in die Normandie" von Nicolas Philibert und "Lucie et maintenant", der eine 33 tägige Autobahnreise widerholt, die der Schriftsteller Julio Cortazar und seine Gefährtin Carol Dunlop 1982 von Paris nach Marseille unternommen haben. Rudolf Walther meldet, dass die Europäische Zentralbank auf dem Gelände der Frankfurter Großmarkthalle bauen darf.

In taz zwei kritisiert Cigdem Akyol Rassismus von "selbst ernannten Islamkritikern" auf Internetseiten wie "Politically Incorrect" (PI). Sonja Vogel hörte in Berlin eine Diskussion über "Feminismus (heute) und Gender Studies" und die neuen "Alphamädchen".

Und Tom.

NZZ, 19.06.2008

In der Islamismus-Reihe formuliert Daniel Pipes, Leiter des Middle East Forum, zwei Ziele im Kampf gegen den Islamismus: "Die erste, schwere Aufgabe besteht im Sieg über die gegnerische Ideologie. Wie in den Jahren 1945 und 1991 geht es darum, eine kohärente, attraktive und aggressive ideologische Bewegung so weit zu marginalisieren und zu schwächen, dass sie keine Anhänger mehr anzieht und keine weltweite Bedrohung mehr darstellt... Die zweite Zielsetzung erfordert Unterstützung für diejenigen Muslime, die sich den Absichten der Islamisten entgegenstellen und eine Alternative zu deren Irrlehre schaffen wollen, indem sie den islamischen Glauben mit den besten Errungenschaften der Moderne versöhnen."

Weitere Artikel: Gabriele Detterer porträtiert anlässlich einer Wolfsburger Ausstellung den Architekturfotografen Heinrich Heidersberger. Alfred Zimmerlin schreibt zum Tod des Schweizer Komponisten Robert Suter.

Auf der Filmseite spürt Tobias Hoffmann dem Musenkuss in Laurent Tirards "Moliere" nach, und Geri Krebs ist tief berührt vom Behindertenfilm "El Rey de San Gregorio" des Chilenen Alfonso Gazitua Gaete.

Besprochen werden Bücher: Beatrix Langner bemerkt in Siegfried Lenz' Novelle "Schweigeminute" "eine starke tragische Kraft". Abgehängte und Ausgegrenzte findet Urs Hafner in zwei Büchern des Soziologen Heinz Bude, und Florian Vetsch preist die "hart funkelnden Stücke" im Gedichtband "Letzte Meldungen" aus dem Nachlass Charles Bukowskis (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 19.06.2008

Bitter enttäuscht ist der irische Autor John Banville vom Nein-Votum seines Landes zum Lissabon-Vertrag - ganz ungute Bettgenossen haben da, fürchtet er, zueinandergefunden: "Angefacht wurde die Nein-Kampagne von einer dubiosen Koalition, die das ganze Spektrum umfasste, von rechts außen bis links außen - Nationalisten, fundamentalistische Christen, fragwürdige Kapitalisten, ratlose Grüne, unverbesserliche Sozialisten. Wie das Karnickel, das vom Scheinwerferlicht des herannahenden Zuges erfasst wird, mussten wir wieder an Yeats denken und an die Zeilen aus seinem wunderbaren Gedicht 'The Second Coming', das ebenfalls in einer Krisenzeit im Leben unserer kleinen Nation geschrieben wurde: 'Die Besten sind ohne Überzeugung, während die Schlechtesten / Erfüllt sind von leidenschaftlicher Inbrunst.'"

Weitere Artikel: Über die französische Diskussion um die Thesen des Historikers Sylvain Gouguenheim, der die Bedeutung der arabischen Kultur für Europa leugnet, informiert der Philosoph Dag Nikolaus Hasse. In der Glosse beschreibt Karen Krüger, wie sehr die EM-Siege der "türkischen Nationalseele" gut tun. Den Schriftsteller und emeritierten Philosophen Peter Bieri (bezehungsweise Pascal Mercier) hat Edo Reents auf seiner Heidelberger Poetikdozentur drei Vorträge halten hören. Gerwin Zohlen hat das Jahrestreffen deutscher Architekten besucht, bei dem es um Pro und Kontra historischer Rekonstruktion ging. Julia Roebke hat sich in lebendigen amerikanischen und sehr viel weniger lebendigen deutschen Internet-Buchcommunitys umgesehen. Oliver Jungen porträtiert Peter Lohmann, der den S. Fischer-Verlag verlässt, um in Hamburg das Literaturfestival "Harbour Front" aufzubauen. Die britische Boulevardzeitung Sun hat, wie Michael Hanfeld kurz berichtet, in einer Fanzone den mutmaßlichen, 95 Jahre alten NS-Verbrecher Milivoj Asner entdeckt und fotografiert, dessen Auslieferung an Kroatien schon lange gefordert wird. Über "amig@s" und andere, nicht nur sprachliche Fortschritte der Emanzipation in Spanien informiert Paul Ingendaay. Michael Knoche schreibt zum Tod der Komparatistin Lea Ritter-Santini. Auf der Medienseite berichtet Michael Martens von einer Ausstellung einheimischer Karikaturisten in Sarajewo.

Auf der Kinoseite stellt Hans-Jörg Rother die durch die Republik ziehende Retrospektive "Im Aufbau. Israelisches Kino" vor. Verena Lueken hat eine im New Yorker veröffentlichte Kurzgeschichte aus dem Nachlass der Schriftstellerin Janet Frame ("Ein Engel an meiner Tafel") gelesen, in der es um einen Kinoversuch in einer Nervenheilanstalt geht. Nachrufe gibt es auf den Spezialeffekte-Künstler Stan Winston und die Schauspielerin Cyd Charisse.

Besprochen werden ein wenig erfreulicher "Fliegender Holländer" in Prag, die Ausstellung "Das Erbe Giottos" in Florenz, die "Typisch München!"-Ausstellung im Münchner Stadtmuseum, die Ausstellung junger deutscher Fotografie mit dem Titel "Gute Aussichten" in Berlin, ein Berliner Foo-Fighters-Konzert, Petra Weisenburgers Jenny-Gröllmann-Film "Ich will da sein", und Bücher, darunter Laszlo Vegels Band "Exterritorium" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 19.06.2008

Anlässlich des irischen Nein gibt es heute ein Pro und Contra zu Volksabstimmungen. Heribert Prantl ist dafür: "Eine Politik, die jedes Plebiszit ablehnt, muss darlegen, dass die Gründe für das grundsätzliche Misstrauen noch immer vorhanden sind. Immerhin haben die Deutschen eine ziemlich lange Zeit der Bewährung hinter sich."

Für Johann Schloemann höhlen Volksabstimmungen dagegen die repräsentative Demokratie aus: "Je mehr Volksabstimmungen über verschiedene Fragen veranstaltet werden, desto mehr muss die Mehrheit der Bürger das Gefühl entwickeln, dass alles, was nicht per Direktabstimmung beraten und beschlossen wird - also alles, was die durch Wahl legitimierten Repräsentanten und die aus ihrer Mehrheit gewählte Regierung sonst die ganze Zeit so treiben - dass all dies noch unwichtiger, noch 'bürgerferner' sei, als es ihnen ohnehin schon zu sein scheint."

Weitere Artikel: 16 "Prominente" wie Wolfgang Thierse, Alfred Biolek, Lothar de Maiziere und Max Raabe fordern ein Veto der Berliner Kulturverwaltung gegen den Umbau der Berliner Lindenoper, berichtet Gerhard Matzig, der sich fragt, ob die heftige Diskussion über Architektur zum mehr Bürgersinn führt oder nur zum "kaum verhohlenen Ressentiment gegen alles, was nach Bagger, Blaupause oder Architekt aussieht". Und Reinhard J. Brembeck bescheinigt den Kritikern des Umbaus ein antiquiertes Opernverständnis, das gesellschaftliche Repräsentation guter Kunst vorzieht. Im Aufmacher berichtet Christian Kortmann, wie Agenturen den Erfolg von Virals - Werbeclips, die ihren Werbecharakter verschleiern - bei YouTube steuern. Lothar Müller stellt das am Mittwoch vom Bundeskabinett beschlossene neue Gedenkstättenkonzept des Bundes vor. Till Briegleb feiert Eigensinn und Originalität bei der Theaterbiennale in Wiesbaden.

In Weißrussland verwirklicht Alexander Lukaschenko den Traum auch vieler deutscher Journalisten und Politiker: Er hat, Frank Nienhuysen auf der Medienseite berichtet, "das repressivste Gesetz in ganz Europa" ausgearbeitet, um das Internet unter Staatskontrolle zu stellen.

Besprochen werden Terry Georges Filmmelodram "Ein einziger Augenblick", Roger Donaldsons Thriller "Bank Job" (dazu gibt's ein Porträt des Regisseurs), Udo Maurers Dokumentarfilm "Über Wasser", die Verfilmung von Wendy Orrs Jugendroman "Insel der Abenteuer" mit Jodie Foster und Bücher, darunter György Dragomans Roman "Der weiße König" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Fritz Göttler schreibt in einem kurzen Nachruf auf die Tänzerin Cyd Charisse: "In der berüchtigten 'Girl Hunt'-Nummer in 'Band Wagon' stolpert Fred Astaire naiv in einen Nachtclub, da hockt ein Mädel an der Bar, die Beine breit, von einem unförmig-grauen Mantel bedeckt. Sie schaut ihn an, die Zeit dehnt sich, schon meint man, er könnte davonkommen, und wir mit ihm - da schlägt sie den Mantel zur Seite und enthüllt ein rotglitzerndes Kleid, nun ist kein Halten mehr, lustvoller American Dream geboren aus den Feuern der puritanischen Hölle."

Hier die Szene im Video:

Zeit, 19.06.2008

Der zum Thema "Umgestaltung der ostdeutschen Verlagslandschaft" frisch promovierte Verleger Christoph Links schreibt einmal generell über die "Verlagszerstörungspolitik" der Treuhand, für die das Aufbau-Drama nur das "letzte und bitterste Beispiel" sei. Gewiss habe es auch interne Probleme der alten DDR-Verlage gegeben, die wären aber zu verkraften gewesen. Nicht jedoch die Privatisierungen: "Die Resultate sprechen für sich. Die 50 privatwirtschaftlich veräußerten Verlage produzieren heute zusammen weniger Titel als jene fünf Verlage, die vom Staat, von Kirchen oder Parteien übernommen worden sind - der sorbische Domowina-Verlag, die Edition der Zentralbücherei für Blinde, die Evangelische Verlagsanstalt, der katholische St. Benno-Verlag und der Karl Dietz Verlag."

Weiteres: Thomas Groß besucht die Popakademie Mannheim, in der man "Rockstar" studieren kann - genauer gesagt: Popmusikdesign und Musikbusiness. Thomas Assheuer nimmt erleichtert zur Kenntnis, dass der amerikanische Supreme Court gegen Guantanamo geurteilt und damit Giorgio Agamben widerlegt, wonach das Lager das Wesen der Moderne sei. Eva Schweitzer unterhält sich mit dem britisch-sudanesischen Schauspieler Alexander Siddig, der den Antihelden in der neuesten "24"-Staffel geben darf.

Besprochen werden Dieter Dorns zweifache "Idomeneo"-Inszenierung zur Wiedereröffnung des Münchner Cuvilliestheaters, eine Cy Twombly-Ausstellung in der Tate Modern, James Bennings Film "RR - Railroad" (in dem in 43 verschiedenen Einstellungen Züge ins Bild fahren und wieder daraus hinaus).

Im Literaturteil versichert Iris Radisch, dass Josef Winkler den gleichen Büchner-Preis bekommt wie im vorigen Jahr Martin Mosebach: "Hier schreiben zwei Verlorene und aus der Zeit Gefallene, jeder auf seinem Stern. So kommen wir nach der letztjährigen Feier der akkurat gebügelten und eleganten Sprachgebilde eines in der Gegenwart schlecht beheimateten Autors aus Frankfurt nun in den Genuss, eine wilde, todessüchtige, bilderbesoffene, obszöne, stinkende und ganz und gar unökonomische Schreibweise eines Provinzautors aus Klagenfurt zu preisen."