Heute in den Feuilletons

Die Grundlage für die Bilanzierungstricks

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2008. In der taz macht der Keynes-Biograf Reinhard Blomert Ronald Reagan und den Neoliberalismus für die Finanzkrise verantwortlich. Im Observer prangert Orlando Figes die russische Razzia  bei Memorial und den Diebstahl von Dokumenten an. In der Welt erinnert Victor Zaslavsky an die 15.000 "lokalen Aktivisten", ohne die das Massaker von Katyn nicht möglich gewesen wäre. Die FR verteidigt die Berliner Tagung "Feindbild Muslim - Feindbild Jude", die nach der Verwandtschaft von Antisemitismus und "Islamophobie" fragt.

TAZ, 08.12.2008

Nils Michaelis unterhält sich mit dem Keynes-Biografen Reinhard Blomert über die Finanzkrise. für ihn ist die "neokonservative Revolution" Ronald Reagans an allem schuld: "Er hat die Gesetzgebung geändert, die Marktmacht der Banken vergrößert und die Transparenz vermindert. Unter der Präsidentschaft George Bush senior wurde das Energiegesetz abgeschafft, wonach die Aufspaltung von Konzernen in undurchsichtige Holdings, also selbstständige Tochterunternehmen, wieder möglich wurde. Dies schuf die Grundlage für die Bilanzierungstricks, die zur Enron-Pleite geführt haben. Die Politik der Deregulierung wurde bis zu Clinton fortgesetzt. Sein Finanzminister Robert Rubin - der jetzt zum Team Obamas gehört - ermöglichte den Besitz von Geschäftsbanken durch Investmentbanken, womit er das Trennbankengesetz auflöste. Dies hat viel zur momentanen Krise beigetragen."

Weitere Artikel: Ulrich Gutmair verfolgte eine Tagung über "Die Bibel als Literatur" in Berlin. Und Jörg Taszman informiert über die Verleihung der Europäischen Filmpreise.

Schließlich Tom.

Weitere Medien, 08.12.2008

Via Achse des Guten. Der Historiker Orlando Figes hat die russischen Behörden beschuldigt, sie versuchten 'das stalinistische Regime zu rehabilitieren' nachdem bewaffnete Polizei ein ganzes Archiv beschlagnahmt hatte, das Unterlagen über die Repression in der Sowjet Union enthielt", berichtete gestern der britische Observer. Figes "verurteilte die Razzia bei Memorial, einer russischen Menschenrechtsorganisation. Er sagte, dass die Polizei auch alles Material mitgenommen habe, das er für sein letztes Buch, 'Die Flüsterer', benutzt habe. Dieses Material gibt Auskunft über das Familienleben in Stalins Russland. Am Donnerstag waren bewaffnete und maskierte Männer einer Spezialeinheit der Staatswaltschaft in das St. Petersburger Büro vom Memorial gestürmt. Nach einer mehrere Stunden dauernden Durchsuchung konfiszierten sie das gesamte Archiv - Erinnerungen, Fotografien, Interviews und andere einzigartige Dokumente, die die Geschichte des Gulag dokumentieren und die Namen vieler Opfer."

Aus den Blogs, 08.12.2008

Mit Google läuft es gar nicht so doll, wie immer behauptet wird, meint Don Alphonso. Niemand interessiert sich für den Browser Google Chrome. Und "dass Google noch immer mit der Vermarktung von Youtube nicht in die Puschen kommt, die Übernahme von Yahoo abgeblasen hat und eine Reihe anderer Angebote ebenfalls nicht richtig auf dem Markt platzieren kann, ist sicher kein Spaß in einer Zeit, da weltweit mit einem Einbruch bei der Werbeausgaben gerechnet wird. Fehlt eigentlich nur noch, dass jemand eine gute Idee bei der Internetsuche hat..."

NZZ, 08.12.2008

Matthias Messmer erzählt die Geschichte des ungarischen Architekten Laszlo Hudec, der in den 30er Jahren in Schanghai einige der imposantesten Art-deco-Bauten schuf: "Als junger Offizier der Habsburgermonarchie wurde er 1916 von den Russen gefangen genommen und nach Sibirien verbannt. Nach zwei Jahren gelang ihm die Flucht, zuerst nach Wladiwostok, dann nach Harbin. Schließlich fand er den Weg nach Schanghai."

Weiteres: Urs Heftrich begrüßt die Fertigstellung des Lexikons der tschechischen Literatur. Angela Schader berichtet jetzt auch vom Sieben-Sterne-Gipfel deutscher und arabischer Intellektueller in Dubai. Dazu gibt es ein Interview mit Suleiman al-Hattlan, Vorstandsmitglied der Mohammed bin Rashid al-Maktoum Foundation über die Arbeit der Kulturstiftung.

Besprochen werden die Matisse-Schau "Menschen, Masken, Modelle" in der Staatsgalerie Stuttgart und die Ausstellung "Strahlungen" über Atom und Literatur im Literaturmuseum der Moderne in Marbach.

SZ, 08.12.2008

Sensation! Sämtliche Artikel der SZ stehen frei online. Man muss nur die Zeitung kaufen und die Artikelanfänge googeln.

Im Aufmacher des Feuilletons bekennen Luise Lauerer und der Politologe Dirk Lüddecke ihre Skepsis vor Patientenverfügungen: "Die beabsichtigte Stärkung des Patientenwillens hat einen schalen Beigeschmack." In den "Nachrichten aus dem Netz" stellt Niklas Hofmann die Website des Nobelkomitees vor, wo man die Reden sämtlicher Preisträger per Video verfolgen darf (hier die Nobelpreisrede von Le Clezio, vorerst aber nur als Text). Der Kabarettist Alfred Dorfer kommentiert die neuerliche Große Koalition in Österreich als missliche Angelegenheit, die die notwendigen Reformen im Land verhindert. Javier Caceres meldet einen Fall von politisch motivierter Zensur in Nicaragua. Stefan Koldehoff berichtet, dass die Kunsthistorikerin Marion Ackermann zur Kunstsammlung NRW in Düsseldorf wechselt. Auf der Medienseite wird gemeldet, dass der regimekritische und seit 2003 eingesperrte kubanische Journalist Ricardo Gonzalez Alfonso von Reporter ohne Grenzen als "Journalist des Jahres" ausgezeichnet wird.

Besprochen werden Strindbergs "Traumspiel" Berliner Szeneclub Berghain, zwei Mantegna-Ausstellungen in Paris und Stuttgart, Anton Dvoraks Oper "Rusalka" in Brüssel und Bücher.

Auf Seite 2 des politischen Teils schreibt Andreas Zielcke zum 60. Geburtstag der UN-Menschenrechtserklärung (hier ist sie). In einem zweiten Artikel setzt Thomas Avenarius auf den zivilisierenden Einfluss der Globalisierung, um auch in den islamischen Ländern einen modernen Menschenrechtsbegriff zu ermöglichen.

Und - last but not least - erscheint heute die weihnachtliche Literaturbeilage.

Welt, 08.12.2008

Das Forum druckt die Festrede des Soziologen Victor Zaslavsky zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises ab. Zaslavsky sprach über das Massaker von Katyn - die gemeinsamen Merkmale von Kommunismus und Nationalsozialismus (hier der Rassenmord, dort der Klassenmord) und die Mitläufer. "In den 20 Monaten bis zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion wurden in Ostpolen mehr als 400.000 Menschen inhaftiert, deportiert oder erschossen. Die Deportationen waren bis ins letzte Detail geplant. Jede Operation wurde im Laufe einer einzigen Nacht ausgeführt, sodass sich die Nachricht nicht verbreiten und die Betroffenen nicht fliehen oder sich verstecken konnten. Zusammen mit Tausenden von NKWD-Agenten und Milizionären kamen Kommunisten und Mitglieder von regionalen kommunistischen Jugendorganisationen wie auch sogenannte lokale Aktivisten bei der Identifizierung, Überwachung und Festnahme der Zielgruppen zum Einsatz. So berichtete der NKWD-Hauptverantwortliche für die Deportation, dass die polnischen Kommunisten der Region mit großer persönlicher Hingabe ihrer Aufgabe nachgingen und auf die Hilfe von 15.000 'lokalen Aktivisten' zählen konnten. Sie waren außerdem ohne Frage motiviert durch die Tatsache, dass sie sich den Besitz der Deportierten aneignen konnten."

Georg Heuberger, Repräsentant der Jewish Claims Conference in Deutschland erklärt im Interview, wie er sich eine faire Restitution vorstellt. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Museen sich ihrer Geschichte stellen: "Ich glaube, fast jede gesellschaftliche Gruppe hat heute ihre NS-Vergangenheit aufgearbeitet. Die Zahnärzte, die Steuerberater, die Apotheker, die Rechtsanwälte... Doch wo ist die Museumsgeschichte von 1933 bis 1945? Was geschah mit den jüdischen Mitarbeitern und den damaligen Direktoren? Viele Museen haben sich bis heute ihrer historischen Rolle als Mittäter nicht gestellt. Das ist auch ein Grund, weshalb die Provenienzforschung im Argen liegt."

Weitere Artikel: Matteo Garrones Mafia-Film "Gomorrha" wurde in Kopenhagen mit fünf Europäischen Filmpreisen ausgezeichnet, berichtet Hanns-Georg Rodek, der sich auch fragt, warum man die ausgezeichneten Filme oft erst Jahre später oder nie bei uns im Kino sehen kann und warum die Verleihung nicht live im Fernsehen übertragen wird. Dankwart Guratzsch informiert uns über die Erweiterung der Saalburg im Taunus.

Besprochen werden die Verfilmung von Cornelia Funkes "Tintenherz" ("Tintenkotau" nennt ihn Elmar Krekeler), Claus Peymanns Inszenierung von Wedekinds "Frühlingserwachen" am Berliner Ensemble, Stefan Herheims Inszenierung von Dvoraks Oper "Rusalka" in Brüssel, die Aufführung von Esa-Pekka Salonens Klavierkonzert mit Yefim Bronfmann und Salonen in Hamburg ("es erspielte sich, selten bei ienem Werk der Moderne, einen geradezu ohrenbetäubenden Erfolg", schreibt der entzückte Klaus Geitel) und "Der Schuh des Manitu" als Musical im Theater des Westens.

Berliner Zeitung, 08.12.2008

Michael G. Meyer stellt die stiftungsfinanzierte amerikanische Website propublica.org vor, die sich dem investigativen Journalismus verschrieben hat: "Drei Hauptaufgaben hat sich die Redaktion von Pro Publica gestellt: Sie durchforstet alle wichtigen Medien der USA nach gut recherchierten politischen Geschichten, stellt diese gesammelt auf ihre Website propublica.org und gibt eigene Kommentare und Recherchen dazu. Die wichtigste Aufgabe ist jedoch, selbstrecherchierte Geschichten zu erstellen. Wie etwa die über jene US-Finanzfirmen, die in Washington strengere Kontrollgesetze zu verhindern versuchten - also genau solche Gesetze, die die jetzige Finanzkrise möglicherweise verhindert hätten. Die meisten Artikel und Beiträge handeln aber von Korruption, Amtsmissbrauch oder anderen Verfehlungen."

FAZ, 08.12.2008

Martina Lenzen-Schulte schildert den Streit um die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs, deren grundsätzliche Effektivität nicht in Frage steht - umstritten sind vielmehr unbelegte Zahlen der Pharmaindustrie zu ihrer Wirksamkeit. In der Glosse beschreibt Kerstin Holm, wie die orthodoxe Kirche in Russland zu besserem Verhalten im Straßenverkehr beiträgt. Mechthild Küpper referiert mit eindeutig pro-religiöser Tendenz Berliner Diskussionen um die Fächer Religion und Ethik an Berliner Schulen. In deutschen Zeitschriften liest Ingeborg Harms Texte über Sowjetisches und Postsowjetisches. Jan Wiele meldet, dass das US-Nationalarchiv Telefonmitschnitte und Dokumente aus der Amtszeit Richard Nixons freigegeben hat. Martin Otto beschreibt, wie es kam, das Würzburgs Generalmusikdirektor, der Leonard-Bernstein-Schüler Jin Wang, wegen des Vorwurfs sexueller Belästigung gefeuert wurde. Gerhard Rohde porträtiert Hans Landesmann, der, längst im Rentenalter, nun die Salzburger Biennale für Neue Musik gegründet hat. Andreas Rossmann informiert über die Krise in der Theater-Ehe zwischen Krefeld und Mönchengladbach. Edo Reents gratuliert dem Germanisten Eckhard Heftrich zum Achtzigsten. Julia Voss schreibt zum Tod des Fluxus-Künstlers George Brecht. Auf der Medienseite zitiert Patrick Bahners genüsslich aus einem Gerichtsurteil, das besagt, dass Evelyn Hecht-Galinski Henryk M. Broder einen "Pornoverfasser" nennen darf.

Besprochen werden Barry Koskys Inszenierung von Strindbergs "Traumspiel", die im Berliner Techno-Club Berghain zur Aufführung kam, Stefan Herheims Brüsseler Version von Antonin Dvoraks Oper "Rusalka", Benedikt von Peters Frankfurter Inszenierung von Verdis "I Masnadieri", und Bücher, darunter Alban Lefrancs Doku-Roman "Angriffe" um Fassbinder, Vesper, Nico und Michael Bubacks Protokoll eines "Staatsskandals" - so Nils Minkmar - "Der zweite Tod meines Vaters" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 08.12.2008

In Times mager nimmt Christian Schlüter den Berliner Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz in Schutz, der für seine Konferenz "Feindbild Muslim - Feindbild Jude" heftig kritisiert worden ist. "Als Wissenschaftler unterliegt er der Beweispflicht, ansonsten aber keinen weiteren Beschränkungen. Dass er damit all jene stört, die sich mit dem Postulat der historischen Einmaligkeit des Holocaust längst angewöhnt haben, sich das leidige Thema ganz vom Hals zu schaffen, und auf diese Weise die bedrückende Gegenwart schönfärben - davon sollte er sich nun wirklich nicht aufhalten lassen. Judenfeindschaft gibt es nicht nur unter Muslimen, und antimuslimische Ressentiments sind keine Erfindung der Juden."

Sandra Danicke schreibt einen Nachruf auf den 82-jährig verstorbenen Fluxus-Gründers George Brecht. Per Meldung wird die Verleihung der Europäischen Filmpreise abgefeiert.

Besprochen werden die beiden Inszenierungen von Wedekinds "Frühlings Erwachen" durch Sebastian Schug am Staatstheater Kassel und Claus Peymann am Berliner Ensemble, eine Aufführung von Schillers "Don Carlos" am Essener Grillo-Theater, eine Inszenierung von Dvoraks "Rusalka" an der Brüsseler Oper La Monnaie, Charles Aznavours neues Album "Duos" und Ulrike Draesners Gedichtband "berührte orte".