Heute in den Feuilletons

Die Onkels des deutschen Literaturbetriebs

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2009. In der taz fordert die Autorin Jagoda Marinic: Autoren und -innen: emanzipiert euch von den Verlegern (aber auch -innen?) Die FR schildert, wie ein Interview mit Claude Lanzmann fast nicht zustande kam. In der NZZ rechnet Ernst-Wilhelm Händler mit den ökonomischen Kontrollillusionen der Unternehmerschaft ab. Die FAZ fordert akkurate Rekonstruktionen nicht mehr existierender Gebäude.

TAZ, 26.01.2009

"Verleger in die Fresse!" ruft die Schriftstellerin Jagoda Marinic hübsch angriffslustig in einer Polemik gegen den Verleger als fürsorglich-väterliche Gestalt, die Autoren, nicht Geld mit Büchern mache: "Diese erzählte Väterlichkeit hat Folgen: Wo ein Vater, da auch ein Kind. Die Kinderrolle übernehmen Autoren dankbar. Und die Onkels gleich dazu. Die Onkels des deutschen Literaturbetriebs sind die Lektoren. Und ich musste tatsächlich erst wieder auf eine ausländische Autorin und ihre Sicht auf Lektoren treffen, um mir der hierzulande vorherrschenden bewusst zu werden. Nein, der Lektor ist nicht der bessere Autor deines Buches. Und nein, er schützt dich nicht vor dir selbst, er schützt nur sich und seinen Verlag vor dem deutschen Feuilleton. Sie hatte recht."

Auch im neuen Jahr gehen die Proteste in Griechenland weiter. Der griechische Schriftsteller Petros Markaris sieht die Ursache darin, dass sich die griechische Gesellschaft nach dem EU-Beitritt von der "armen, aber solidarischen Gesellschaft eines Balkanlandes" in eine partikulierten Gesellschaft entwickelt hat, in der jede Zelle nur ihre eigenen Interessen vertritt. "Die ganze Bevölkerung ist seit Jahren empört. Die jungen Leute verkörpern diese Empörung viel radikaler, weil sie Angst haben und total verunsichert sind. Sie sehen den Albtraum von Arbeitslosigkeit vor sich und wissen, dass sie sich bestenfalls mit 500-Euro-Gelegenheitsjobs werden begnügen müssen, die zu ihrem jahrelangen Studium in keinerlei Beziehung stehen. Die jungen Leute und vor allem die Studenten sind aber nicht so ganz unschuldig. Sie haben sich jahrelang jedem Ansatz von Reformen im Bildungssystem vehement widersetzt und dafür gekämpft, dass alles beim Alten bleibt. Was ist das aber für ein Aufstand, der für den Status quo kämpft?"

Weiteres: Reiner Wandler berichtet von dem angeblichen Fund baskischer Keramiken, mit denen sich Spaniens Archäologen blamiert haben. Besprochen werden die Inszenierung der "Bettleroper" in Freiburg und James Marshs Dokumentation über den Artisten Philippe Petit, der einst über ein Drahtseil zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers spazierte.

Und noch Tom.

FR, 26.01.2009

Wenig Glück hat Carsten Hueck beim Versuch, Claude Lanzmann zu interviewen, "der König des Dokumentarfilms mag nicht". Und so endet die Sache nach 45 Minuten: "Pourquoi Israel?' 'Auch Pourquoi Israel ist wichtig. Ich liebe diesen Film.' Was für ein Wort. Vielleicht hätten wir mehr über Liebe reden sollen. Über die Kollegin vom Hörfunk, die nebenan wartet. Der ein Interview im Hotelzimmer angeboten worden war. Die freundlich abgelehnt hatte. Zuviel der Ehre, und um Mitternacht könne sie nicht. Nun ist sie da. Claude Lanzmann aber steht auf. Deutet an, dass er Hunger habe. Dass er erwarte, von ihr eingeladen zu werden. Dann könne man weitersehen. Um ihr Interview zu retten, nickt sie und folgt ihm zum Lunch. Monaden, schrieb Leibniz, seien immer tätig und wechselten mechanisch von einer Wahrnehmung zur anderen. Diese Bewegung nannte er 'Appetitus'."

Arno Widmann schlägt vor, bei der Bewältigung der Finanzkrise noch mal ganz von vorn anzufangen: "Als vor inzwischen mehr als einem Monat die Politik die Rettung der Hypo Real Estate als ihre vordringliche Aufgabe bezeichnete, da war das entscheidende Argument, die Bank sei systemrelevant. Inzwischen ist das Unternehmen an der Börse noch 400 Millionen Euro wert. Der Staat garantiert allein bei dieser Bank inzwischen für 42 Milliarden Euro. Dazu kommen die 50 Milliarden Euro, die der Staat vergangenen Herbst dem Unternehmen überwies. Wenn Hypo Real Estate systemrelevant ist, dann ist etwas faul am System. Am stabilsten ist das System, das ganz auf systemrelevante Teile verzichten kann."

Besprochen werden Urs Trollers Inszenierung des "Kirschgartens" am Frankfurter Schauspiel und die Ausstellung "Embedded Art" in der Berliner Akademie der Künste.

NZZ, 26.01.2009

Der Schriftsteller und Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler erinnert sich daran, wie sein Vater seine Firma durch die Ölkrise manövrierte, und stellt für die jetzige Finanzkrise fest: "Die kurzfristige Gewinnmaximierung ist weniger eine Frage der Gier als vielmehr eine Form der ökonomischen Kontrollillusion. Das Gewinnziel ist ein überlegenes Planungsinstrument, weil es zugleich umfassend und detailfähig ist. Aber das gilt lediglich für die kurze Frist. Die Akteure meinen, sie könnten längere Zeiträume planen, indem sie kurze Zeiträume aneinanderstückeln. Funktioniert das nicht, geben sie sich überrascht, und sie sprechen von Strukturbrüchen."

Der Autor Martin Pollack hat mit Entsetzen festgestellt, dass er bei Ebay Fotografien ersteigern konnte, die deutsche Soldaten während des Zweiten Krieges machten: "Neben Sehenswürdigkeiten und Kameraden, Kriegsgerät und Kriegsschauplätzen knipsten die Landser auch Verbrechen, Szenen der Gewalt und Erniedrigung von Menschen, die sie als 'Gegner' betrachteten, voran Juden und Zigeunern. Gerade solche Bilder wurden lange Zeit weggesperrt. Doch nun werden sie hervorgeholt aus Schachteln und Schubladen, werden aus Alben gelöst und zu Geld gemacht. Von den Kindern und Enkelkindern, die keine Strafe mehr befürchten müssen. Und die offenbar auch keine Scham mehr empfinden."

Christoph Egger beendet die Solothurner Filmtage. Besprochen wird die Uraufführung von Philippe Boesmans' "Yvonne" an der Pariser Oper.

Welt, 26.01.2009

Sven Felix Kellerhoff erinnert an eines der größten Fernsehereignisse in Deutschland, die TV-Serie "Holocaust", die vor genau 30 Jahren in den zusammengeschalteten Dritten Programmen lief. In der Leitglosse mokiert sich Thomas Lindemann über einen Lehrer, der den Film "American Beauty" aus moralischen Erwägungen aus dem Abiturprogramm für das Fach Englisch entfernen will. Eckhard Fuhr bespricht ein sechsteiliges Hörbuch mit Tierlauten aus allen Kontinenten. Auf der DVD-Seite unterhält sich Hanns-Georg Rodek mit Tom Tykwer, dessen Lebenswerk schon im Alter von 43 Jahren als DVD-Box erscheint.

Besprochen werden ein "Holländer" in der Regie von Philipp Stölzl in Basel, "Maß für Maß" in der Inszenierung Stefan Puchers in München und einige DVDs.

Aus den Blogs, 26.01.2009

Via Boing Boing. Funfever stellt ein Restaurant in Riga vor, Hospitalis. Und so sieht es auch aus: wie ein Krankenhaus. Das Essen wird auf Operationstischen serviert, die Sitzbänke sehen aus wie umgebaute Krankenhausbetten, und die Bedienung trägt Schwesterntracht.
Stichwörter: Krankenhaus, Riga

FAZ, 26.01.2009

Den Fall des seiner Wiederauferstehung entgegengehenden Potsdamer Stadtschlosses nimmt Dieter Bartetzko zum Anlass, über gedankenlose Reproduktionen und sorgfältige Rekonstruktionen in der Baukunst nachzudenken: "Nicht die exakte, sondern die ungefähre, auf Grobreize beschränkte Reproduktion setzt sich durch. Ihr ist das Original nur Verfügungsmasse, aus der sie bedarfsweise auswählt, verkürzt, vergrößert oder zerstückelt. Wer käme auf die Idee, beim Kopieren der Mona Lisa deren Haaransatz zu verändern, die Wangen zu verschmälern oder die lächelnden Lippen üppiger zu malen? "

Weitere Artikel: Lorenz Jäger meldet erfreut, dass Papst Benedikt die Exkommunikation der erzkonservativen Lefebvristen aufgehoben hat und findet allenfalls die muntere Leugnung des Holocaust durch Marcel Lefebvres ebenfalls ex-ex-kommunizierten Schützling Richard Williamson "taktlos". (Hier ein aktuelles Interview mit dem schwedischen Fensehen, in dem Williamson an seiner Leugnung festhält.) Außerdem ist Jäger in seiner Sternzeichen-Serie beim Wassermann angelangt. Jan Brachmann berichtet vom Eröffnungswochenende des Berliner Ultraschall-Festivals, dessen Schwerpunkt in diesem Jahr auf der Neuen Musik in der DDR liegt. Die Geburtstagsglückwünsche der Woche gehen an die feministische Literaturwissenschaftlerin Germaine Greer (70), den Physik-Nobelpreisträger Rudolf Mößbauer (80, hier als gabunesisches Briefmarkenmotiv), den Archäologen Nikolaus Himmelmann (80), den Künstler Claes Oldenburg (80) und die Schauspielerin Jean Simmons (80). Knapp schreibt Gerhard Stadelmaier zum Tod des Schauspielers Manfred Steffen.

Besprochen werden die von Luc Bondy inszenierte Pariser Uraufführung von Philippe Boesmans' Gombrowicz-Oper "Yvonne, princesse de Bourgogne", die Osnabrücker Uraufführung von Rebekka Kricheldorfs neuem Stück "Kopf des Biographen", die Hermann-Burger-Ausstellung "Nachlass zu Todeszeiten" in Zürich, der Disney-Animationsfilm "Bolt", und Bücher, darunter Franz Schuhs nicht ganz bei ihrer Genrebehauptung zu nehmende "Memoiren" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 26.01.2009

Im Aufmacher erklärt Marc Felix Serrao, warum er das bayerische Verbot einer Zeitschrift mit Zeitungsfaksimiles aus der Nazizeit für unsinnig hält. In den "Nachrichten aus dem Netz" erzählt Jean-Michel Berg, wie Microsoft die Surfer hat anstehen lassen, um eine kostenlose Testversion des Betriebssystems Windows 7 herunterzuladen. Helmut Mauro unterhält sich mit dem Pianisten Pianist Evgeny Kissin, der am Mittwoch in München gastiert. Gottfried Knapp gratuliert dem Karikaturisten Ivan Steiger zum Siebzigsten. Auf der Literaturseite berichtet Verena Mayer, dass nach dem Erfolg der "Feuchtgebiete" Mädchensexbücher in Mode kommen - so will zum Beispiel der Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf eine Reihe namens "Anais" herausbringen.

Besprochen werden Marcia Haydees "Schwanensee"-Choreografie in Antwerpen, eine Ausstellung des Fotografen Paul Graham in Essen, eine von Philippe Boesmans und Luc Bondy verantwortete Oper nach Witold Gombrowicz' "Yvonne, Prinzessin von Burgund" in Paris, ein Film von Dror Zahavi über einen Palästinenser, der die Liebe dem Tod vorzieht (er läuft zur Zeit auf der Palästina/Israel Filmwoche in München).

Auf der Medienseite schreibt Angelika Slavik über den Niedergang des ORF unter seinem Chef Alexander Wrabetz. Und Wolfgang Koydl berichtet über die umstrittene Entscheidung der BBC, einen Spendenaufruf für die Bewohner des Gaza-Streifens nicht auszustrahlen.