Heute in den Feuilletons

Vorher kam der Wind aus Osten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2009. In der FR sind sich Abdourahman A. Waberi und Wole Soyinka einig: Obama hat sich für seine erste Afrika-Reise genau den richtigen Ort ausgewählt. Die NZZ erinnert an die Machenschaften der Schweizer Stasi. In Italien haben Bücher und Blogs die Funktion der kritischen Öffentlichkeit übernommen, berichtet die SZ. Die neue ZDF-Literatursendung "Die Vorleser" ist allgemein nicht so doll angekommen.

FR, 13.07.2009

Der dschibutische Autor Abdourahman A. Waberi ist entzückt, dass Barack Obama ausgerechnet Ghana für seinen ersten Besuch in Afrika wählte. "Mit seiner Entscheidung nach Accra zu kommen, belohnt er die Demokratie. Denn die Menschen in Ghana haben, begierig auf einen Wechsel, einen 64-jährigen Juraprofessor, Herrn John Atta-Mills, zum Präsidenten gewählt und so zum zweiten Mal auf diesem Kontinent einen friedlichen demokratischen Übergang geschafft."

Der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka hat vollstes Verständnis dafür, dass Obama nicht nach Nigeria gefahren ist. Denn wen hätte er dort schon getroffen? "Eine Plage von maßlosen Herrschern, einige in Militäruniformen, einige in Zivil, alle jedoch Klons voneinander, vereinigt in ihrer Hingabe an schamlose Verschwendungssucht, Korruption und, um dem Schaden Hohn hinzuzufügen, einem obsessiven Hang zur Selbst-Perpetuierung. Letzteres setzt eine unverhohlene Verachtung für das Grundrecht der Bürger voraus, eine Stimme bei der Wahl ihrer Anführer zu haben. Ist dies wirklich eine Nation, die Anerkennung oder gar eine Geste des Respekts von einer demokratisch gewählten Regierung der Welt verdient, schon gar von einer mit einer noch nie dagewesenen politischen Bedeutung für den afrikanischen Kontinent?"

Weiteres: In times mager zieht Judith von Sternburg Schlüsse aus einer schottischen Untersuchung über verlorene Brieftaschen. Besprochen werden die Ausstellung "Der Pavillon" im Deutschen Architekturmuseum, einige lokale Ereignisse und Peter Kaedings Biografie des Verlegers Johann Friedrich Cotta (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 13.07.2009

Anlässlich der Rede Barack Obamas in Accra begrüßt Wolf Lepenies auf den Forumsseiten, dass auch afrikanische Historiker mehr und mehr die Mitschuld der Afrikaner an der Sklaverei erforschen: "Die 'einheimische Sklaverei' wurde in der Regel mit Stillschweigen übergangen. Zu übersehen war sie nicht. Als im April 1848 die französische Regierung dekretierte, in allen Kolonien sei die Sklaverei abgeschafft, kam der schärfste Protest dagegen von afrikanischen Sklavenhaltern. Nur die präkoloniale Praxis der Sklavenhaltung, so ihr Argument, sicherte das Überleben der heimischen Wirtschaft. Darüber hinaus nutzte sie angeblich allen Beteiligten. Im Senegal beispielsweise gab es zwei Arten von Sklaven. Bei den Handelssklaven handelte es sich in der Regel um Kriegsgefangene. Sie waren rechtlos und wurden nach Amerika verkauft. Daneben gab es die 'esclaves domestiques', Arbeitssklaven, die an einen Herrn gebunden waren und das Land nicht verließen."

Weitere Artikel im nurmehr zweiseitigen Feuilleton: Manuel Brug beobachtet eher amüsiert, wie Katharina Wagner auf Gran Canaria mit einem "Tannhäuser" ringt. In der Randglosse plädiert Elmar Krekeler dafür, den Preis für den kuriosesten Buchtitel lieber wieder ganz abzuschaffen als eine harmlose Version beizubehalten. Rüdiger Sturm unterhält sich mit dem Filmproduzenten George Stevens Jr., der zuletzt allerdings die Amtseinführung von Barack Obama inszenierte

Besprochen werden der neue und sechste Harry-Potter-Film "Der Halbblutprinz" (den Elmar Krekeler durchaus mochte, auch wenn er deutlich stärker am Geschmack des globalen Zwölfjährigen ausgerichtet ist als der Vorgänger) und Hanns Christian Löhrs Studie zu Hermann Göring und dem System des NS-Kunstraubs "Der eiserne Sammler".

Aus den Blogs, 13.07.2009

Wie Michael Jackson aussieht, wenn er in den Himmel kommt, weiß Gawker.

(Via New York Times) Rob Walker stellt im Magazine Sheena Matheikens Uniform-Project vor. Matheiken hat ein schwarzes Kleid entworfen, das man auch mit der Rückseite nach vorn tragen kann. Das ist die Uniform, die jeden Tag mit Accessoires u.a. verändert und fotografiert wird. Ein Jahr lang.

Wenig Freude hatte Andrea Diener an der neuen Literatursendung "Die Vorleser" mit Ijoma Mangold und Amelie Fried: "Bücher werden in die Kamera gehalten, kurze Abrisse der Handlung, der Figuren, die Kinder, der abwesende Vater, die poetische Sprache: nichts, was wesentlich über Klappentext hinausginge. Hier und da eine Rüge, das mit den Soldaten war mir zu lang, da hätte das Lektorat, nein, genau das würde ich vermissen, also Empfehlung mit Einschränkung für alle, denen Soldatenabschnitte gern mal zu lang sind."

Markus Beckdahl äußert sich in Netzpolitik kritisch zur Siebentage-Regel für die Netzveröffentlichungen von Öffentlich-Rechtlichen: "Wie die Zahl '7' zustande kam, weiß ich nicht mehr. Die Verleger-Lobby hat sie mal in die Welt gesetzt, um klar das Öffentlich-Rechtliche Angebot zu beschränken. Das ist aber nicht im Interesse der Zuschauer und Zuhörer. Warum sollte man nicht noch nach sieben Tage einen Video-Clip oder eine Radiosendung hören dürfen? Also kippt die 7-Tage Regelung und öffnet die Archive. Unser mitfinanziertes kulturelles Erbe sollte öffentlich zugänglich sein!"

(Via Andrew Sullivan) Mark Gimein stellt in Slate die (zumindest für ihre Erfinder) geniale Auktionsseite Swoopo vor, wo man ein neues Apple-Notebook für 35 Dollar ersteigern kann - allerdings für jedes Gebot 60 Cent blechen muss, so dass man am Ende vielleicht 50 Dollar ausgegeben hat, ohne zum Zuge zu kommen. Und das Geld geht an die Bank! "The fact that you have already bid 200 times does not mean that your chance of winning on the 201st bid is any higher than it was at the very beginning. A new bidder can come in at any time and at the cost of a mere 60 cents jump into the auction in which you've already spent more than 100 bucks. The money you've put in has gotten you no closer to the goal than a losing raffle ticket."

TAZ, 13.07.2009

Für die Kulturseiten flaniert Ronald Berg über die Ausstellung zum geplanten Humboldt-Forum im wiederaufzubauenden Berliner Schloss und sinniert: "Dieses Gebäude ist - ob gewollt oder nicht - ein Siegesdenkmal: Sieg über die Moderne, über den Kommunismus und über eine Kultur von unten, die sich in der Ruine des ausgeweideten Palastes prächtig entwickelte - solange man sie ließ."

Weitere Artikel: Heide Oestreich verfolgte eine Gender-Studies-Tagung in Berlin. Bianca Schroeder berichtet über amerikanische Kontroversen über den kommenden Disney-Film "The Princess and the Frog", in dem die Prinzessin erstmals schwarz ist.

Besprochen werden außerdem Claude Chabrols neuer Film "Kommissar Bellamy" und Wolfgang Ullrichs Studie "Raffinierte Kunst - Übung vor Reproduktionen".

Auf den Tagesthemenseiten bloggt Anonyma aus Teheran: "Es ist unheimlich, was für eine Rolle das Wetter bei den jüngsten Ereignissen gespielt hat. Interessanterweise hat die Windrichtung seit dem Ersticken der Proteste gewechselt. Vorher kam der Wind aus Osten und brachte Gewitter, Regen und kühle Luft, jetzt weht er aus Westen und bringt Staub und Dreck." Und Bahman Nirumand zitiert Chamenei-kritische Äußerungen des Ajatollah Ali Montazeri.

Tom.

NZZ, 13.07.2009

Roman Bucheli erinnert an die vor zwanzig Jahren ans Licht gekommene Fichen-Affären: Über Jahre hatte die Schweizer Bundesanwaltschaft Hunderttausende politisch engagierte Bürger überwacht. Bucheli hat die Akten eingesehen, etwa die bizarren Einträge zu Max Frisch: "Unter dem 30. Dezember 1970 liest man die Kurzfassung einer Telefonabhörung: 'aus TAB 8635: BRETSCHER Walter 38 verlangt F. und unterhält sich mit ihm über die autonome Zürcher Jugend, sowie über das Ultimatum des Stadtrates betr. Schließung des Bunkers'. Vier Jahre später ein weiterer Eintrag aus einer Telefonabhörung: 'PINKUS Theodor 09 teilt den Eheleuten F. mit, dass sich MARCUSE Herbert 98 gerne mit ihnen treffen möchte. Er weilt bei PINKUS zu Besuch.'"

Weiteres: Auf eine "goldene Ära" blickt Marc Zitzmann zum Abschied Gerard Mortiers zurück, der fünf Jahre die Pariser Nationaloper leitete und ihr erstmals Aufführung von Beat Furrer, Wolfgang Rihm und Salvatore Sciarrino beschert hatte. Besprochen werden eine Dreifach-Ausstellung zur Varusschlacht in Kalkriese und Detmold, die Auftritte von Kanye West und Kid Cudi beim Open Air Frauenfeld, ein Konzert von Keith Jarretts Trio in Luzern.

SZ, 13.07.2009

Eine Welle regierungskritischer Bücher und Internetblogs haben in Italien die Funktion der kritischen Öffentlichkeit übernommen, berichtet Henning Klüver. Auch große Verlage wie Rizzoli profilieren sich: "Der erfolgreichste Titel verkaufte sich bislang rund 1,2 Million Mal: Sergio Rizzo und Gian Antonio Stella trafen mit ihrer Analyse der 'unantastbaren politischen Klasse' Italiens ('La casta') offenbar den Nerv der Leser. Man bohre, so der RCSHerausgeber Ottavio Di Brizzi, dort weiter, wo das Fernsehen und die Zeitungen nachzufragen aufhörten. Gerade Jugendliche seien an alternativen Informationsquellen interessiert."

Weitere Artikel: In den Nachrichten aus dem Netz greift Alex Rühle einen Artikel des spanischen Philosophen Joaquin Rodriguez Lapez aus dem Nouvel Obs auf, der Sokrates' Kritik an der Schrift mit der heutigen Kritik am Internet parallelisiert (unser Resümee in der Magazinrundschau). Christopher Schmidt kommentiert die Berufung von Sven-Eric Bechtolf zum neuen Schauspielchef von Salzburg. Nachgedruckt wird ein Essay des überaus selten schreibenden Patrick Süskind über den französischen Cartoonisten Sempe, der als Vorwort zu einer Sempe-Ausgabe erschien ("Es gibt gewiss keine bessere kulturelle, soziologische und ästhetische Landeskunde Frankreichs als das Oeuvre von Sempe.") Auf der Medienseite findet die neue ZDF-Literatursendung "Die Vorleser" mit dem ehemaligen SZ-Kritiker Ijoma Mangold eher laue Aufnahme.

Besprochen werden einige DVDs mit Filmen und Dokumentationen aus dem Kongo, ein Stück des israelischen Augors Nir de Volff, das in der ehemaligen Hauptsynagoge Berlins in der Oranienburger Straße uraufgegührt wurde, eine "Tannhäuser"-Inszenierung Katharina Wagners auf Las Palmas, für die die SZ eigens den Kritiker Egbert Tholl einflog , die Ausstellung "1968 - Die Große Unschuld" in Bielefeld und Bücher, darunter Joe Dunthornes Roman "Ich, Oliver Tate" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Der Fall Marwa ist inzwischen auf Seite 3 der Süddeutschen aufgestiegen, wo Jens Schneider die Atmosphäre bei der Dresdner Trauerfeier schildert. In der SZ Online wird gemeldet, dass der angeschlagene iranische Präsident Achmadinedschad sich des Falls bemächtigt hat und eine Bestrafung Deutschlands durch die UNO fordert.

FAZ, 13.07.2009

Hannes Hegen, Künstler und Schöpfer des immens erfolgreichen DDR-Comics um die Digedags, stiftet sein Werk dem Haus der Geschichte in Leipzig. Andreas Platthaus erklärt, warum es ein Schatz ist, der da gehoben - und hoffentlich nicht gleich wieder im Archiv versenkt - wird: "In Reiseimpressionen aus dem sozialistischen Bulgarien der siebziger Jahre zeigt sich ein grandioser satirischer Blick auf das Verhältnis von alter Bauernkultur und modernistischen Neubauten. Es gibt Szenen aus den Kneipen und Konzertsälen Ost-Berlins und auch ein großes Konvolut Theaterzeichnungen, die der passionierte Bühnenfreund Hegenbarth während Vorstellungen im Berliner Ensemble und im Deutschen Theater anfertigte: ganze Zyklen mit virtuosen Skizzen der berühmten Inszenierungen der fünfziger und sechziger Jahre, ein ungehobener Schatz der deutschen Theatergeschichte."

Weitere Artikel: Dirk Schümer erläutert die von der Lega Nord betriebene Verschärfung der italienischen Einwanderer-Gesetzgebung, die viele halb geduldete "clandestini" zu unmittelbar von der Abschiebung bedrohten Illegalen macht. In der Glosse schildert Kerstin Holm, wie in Russland Unternehmergeschichte mit der Politik kollidiert. Oliver Tolmein kommentiert das Gesetz zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung. Im Glossar der Krise geht es um die "Abwrackprämie". Wiebke Hüster berichtet, wie der Gast-Choreograf Paul Chalmer sich in Rom unter den schwierigen Bedingungen "mafioser Tanzpersonalpolitik" schlägt. Irmela Spelsberg berichtet über Bemühungen, das Schloss im masurischen Steinort/Sztynort zu erhalten.

Hingewiesen wird auf eine Veranstaltung des Frankfurter Literaturhauses zum Thema "Autorschaft als Werkherrschaft in digitaler Zeit", bei der neben der Fraktion um Roland Reuß (hier sein FAZ-Artikel) auch Annabella Weisl von Google Books zu Wort kommt. Auf der Medienseite erklärt Sandra Kegel, warum die neue ZDF-Buchsendung "Die Vorleser" bei ihrer Premiere nicht funktioniert hat.

Die allwöchentlichen Gesamtgeburtstagsglückwunschartikel gehen diesmal an die Philosophen Günter Figal (60, mehr) und Axel Honneth (60, mehr), die Musikerin Milva (70) und den Rock-Musiker Dion DiMucci (70) sowie an den Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie (80).

Besprochen werden Katharina Wagners "Tannhäuser"-Inszenierung auf Gran Canaria (Eleonore Büning findet, dass die Regisseurin "zwingende Bilder" gefunden hat), eine Ausstellung mit Werken von Sergej Jensen in den Berliner Kunst-Werken, der diesjährige Sommer-Pavillon der Londoner Serpentine Gallery, den Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa entworfen haben, und Bücher, darunter Silvio Blatters neuer Roman "Zwei Affen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).