Heute in den Feuilletons

Pflegen Sie noch solche Dichotomien?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2009. In der taz erklärt Thomas Demand, warum er lieber subtil als politisch ist. FR und Welt besuchen die Magdeburger Ausstellung "Aufbruch der Gotik". Die FAZ stellt die fast achtzigjährige spanische Literaturagentin Carmen Balcells vor, die an E-books glaubt. Die SZ lernt von Stanford: das Internet literarisiert in ungeahntem Ausmaß. Und Navid Kermani bekommt nun doch den Hessischen Kulturpreis.

TAZ, 29.08.2009

Brigitte Werneburg unterhält sich mit dem international gefeierten deutschen Fotografen Thomas Demand. Dessen Werk wird ab 18. September in einer "Nationalgalerie" genannten Retrospektive erstmals in Berlin groß ausgestellt. Botho Strauß hat auf Wunsch des Künstlers Texte zu den Bildern geschrieben. Wie, fragt Werneburg, passt ein Konservativer wie Strauß zu Demand? Die Antwort: "Pflegen Sie noch solche Dichotomien? Zuallererst mal ist er ein brillanter Schriftsteller! Ich habe ihn genau deshalb eingeladen. Und wer sagt eigentlich, dass er und ich einer politischer Meinung sein müssten? Solches wird in unserer Ausstellung auch gar nicht verhandelt. Es ist ja auch keine Wahlveranstaltung, und angesichts der Subtilität seiner Gedanken scheint mir so eine Qualifizierung auch eindimensional. Aber selbst der Besucher, der solche Kategorien für ausschlaggebend hielte, kann ein wenig Komplimentarität schon aushalten. Sie vergeben sich wirklich nichts, wenn Sie da ein bisschen herumlesen."

Weitere Artikel: Kurz kommentiert Wiebke Porombka den Umzug des Blumenbar-Verlags von München nach Berlin. In seiner "Leuchten der Menschheit"-Kolumne entnimmt Andreas Fanizadeh einem Reiseführer aus dem Jah r1970 Tipps für eine eventuelle erste Afghanistan-Visite von Gregor Gysi.

Besprochen werden die Rosas-Choreografie "The Song" zum Abschluss des Berliner "Tanz im August"-Festivals und Bücher, darunter Georg Diez' autobiografischer Band "Der Tod meiner Mutter" und Leon de Winters neuer Roman "Das Recht auf Rückkehr" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 29.08.2009

Christian Thomas hat die Magdeburger Ausstellung "Aufbruch der Gotik" besucht und bekennt, dass sie ihn durchaus das Staunen gelehrt hat: "Finsteres Mittelalter? Was für ein moderner Aberglaube! Ihn zu bannen, haben sie in Magdeburg unumwunden aufklärerische Absichten an den Tag gelegt. Denn Magdeburg war ein Ort der 'Kultur der laufenden Neuanpassung', wie man mit Umberto Eco sagen könnte. Nicht zu zählende Neuanpassungen drängen auf den Besucher ein, ein Schatz an Farben und Formen, undenkbar ohne 'permanente Wechselbeziehungen und gegenseitige Anleihen' (Eco), für die die Stadtbefestigung Luft war."

Weitere Artikel: Reichlich "merkwürdig" in jeder Hinsicht findet es Peter Michalzik, dass die Bild-Zeitung bei Benjamin Netanjahus Deutschland-Besuch diesem die Baupläne für Auschwitz als Geschenk überreichte. Hans-Klaus Jungheinrich spricht mit dem Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez über das 20. Jahrhundert und seine Musik, aber auch über die Situation, in der sich die Komponistinnen und Komponisten heute befinden. Judith von Sternburg und Ursula Rüssmann können mitteilen, dass nach einer Aussprache aller Beteiligten die christlich-jüdischen Preisträger keine Einwände mehr gegen die Verleihung des Hessischen Kulturpreises an den muslimischen Publizisten Navid Kermani haben. In einer Times Mager" kritisiert Peter Michalzik aus Anlass der aktuellen Kritikerumfrage von Theater Heute routiniert das Routinierte des deutschen Theaterbetriebs. In ihrer US-Kolumne kann es Marcia Pally nicht recht fassen, dass derzeit Muammar al-Gaddafi mehr Freunde zu haben scheint als Barack Obama.

Besprochen wird die deutsche Erstaufführung von Jordi Savalls musikalischer Recherche zum Religionstrialog "Jerusalem - Die Stadt der zwei Frieden" bei der Ruhrtriennale.

Welt, 29.08.2009

In der Literarischen Welt erinnert Hamburgs früherer Bürgermeister Klaus von Dohnanyi im Interview mit Thomas Schmid an Wolfgang Borchert und widerspricht dem Eindruck, dass es in der Nachkriegszeit nur "ums Fressen und ein warmes Zimmer" ging: "Wenn Sie heute die vielen Zeitschriften lesen, die damals erschienen, dann spüren sie, welchen Hunger nach Auseinandersetzung, Orientierung und Sinn es damals gab. Man kann wirklich nicht sagen, das sei eine öde Zeit der Restauration oder nur des Überlebens gewesen."

Weiteres: Jochen Schimmang blickt auf einige Ereignisse seines bundesrepublikanischen Lebens zurück. Besprochen werden unter anderem Claus Stephanis Roman "Blumenkind" und Konrad Schullers historische Reportage über die Vernichtung eines polnischen Dorfes im zweiten Weltkriegs "Der letzte Tag von Borow".

Auf der Feuilletonseite spricht Bernd Scherer im kurzen Interview mit Gabriele Walde über die mögliche Zukunft des Hauses der Kulturen der Welt im Humboldt-Forum. Manuel Brug gratuliert Wolfgang Wagner, "Kleinkrämer und Mäzen, Sturkopf und Weltmann" zum Neunzigsten. Uta Baier besichtigt die Ausstellung "Aufbruch in die Gotik" in Magdeburg.

Aus den Blogs, 29.08.2009

(Via Bewegliche Lettern). Sony mischt sich nach Amazon und Microsoft nun auch in den Streit um das Google Book Settlement ein, aber auf Seiten von Google, meldet Wired: "Sony, which markets an e-book reader struggling to keep up with Amazon's Kindle device, sees a benefit for its device in having Google sell millions of e-books, according to a letter (.pdf) filed with the court Wednesday."

Berliner Zeitung, 29.08.2009

Der Filmregisseur Andreas Dresen bekennt im Interview, dass er gern für etwas mehr Bosheit begabt wäre: "Das ärgert mich manchmal auch an mir - dass meinen Geschichten ein bisschen die Bosheit abgeht. Einen Kinoerzähler wie Luis Bunuel finde ich großartig, weil er sich von allen möglichen Konstellationen immer die allergemeinste raussucht. Und er wählt auch immer das allergemeinste Ende. Und dennoch sind seine Filme tief und wahrhaftig. Sie spiegeln den Zustand unserer Welt. Ich wünschte, ich könnte so erzählen. Dem steht meine Herkunft ein wenig im Weg. Aber ich versuche zu lernen."

Außerdem: Boris Herrmann porträtiert Menschen um die dreißig, getrieben von einer "Zukunftsangst, die nicht daher rührt, das Falsche zu tun. Sondern daher, etwas Besseres zu verpassen".

NZZ, 29.08.2009

Im Feuilleton meint Joachim Güntner über Hape Kerkelings "Horst Schlämmer" und den Wahlkampf in Deutschland: "Als treffende Karikatur eines entkernten deutschen Wahlkampfes aber geht der Film sehr wohl durch. Die wirklich harten Themen (der Krieg in Afghanistan, die enorme Staatsverschuldung, nötige Steuererhöhungen, die defizitäre Bildungspolitik) kommen hier wie dort nicht vor." In der Kolumne "Mein Stil" schreibt Heinz Spoerli über Tanzstile.

Besprochen werden eine Ausstellung zur Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts im Kunstmuseum Bern, die Ausstellung "Super Contemporary" im Londoner Design-Museum und das Buch "Angriff auf die Freiheit" von Ilija Trojanow und Juli Zeh (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Literatur und Kunst schreibt Peter Bürger über Sebastiano del Piombos Bild "Geißelung Christi" und die Auswirkungen, die die Eroberung Roms durch die Truppen Kaiser Karls V. 1527 auf Piombos Malerei hatte. Jan-Christoph Hauschild erzählt, wie er eine verloren geglaubte Detektivgeschichte von B. Traven in einem Berliner Archiv entdeckte. Urs Widmer betrachtet Pablo Picassos "Deux femmes courant sur la plage".

FAZ, 29.08.2009

Selbst in der Welt der Literaturagenten gibt es Menschen, die das digitale Buch begrüßen. Paul Ingendaay stellt die 1930 geborene Carmen Balcells vor, die unter anderem das Werk von vier Nobelpreisträgern, darunter Gabriel Garcia Marquez, vertritt und jetzt - unter Umgehung aller spanischen Verlage - eine Kooperation mit dem Download-Dienst Leer E vereinbart hat. (Für fünf Euro kann man jetzt 120 Klassiker wie Marquez' "Hundert Jahre Einsamkeit" herunterladen, mehr hier und hier). "'Die Bücher, die ich ausgewählt hatte, befanden sich doch sowieso im Netz. Es will sie nur keiner ausdrucken, weil das Papier dafür viel teurer ist als das Buch selbst.' Sie wolle nicht warten, bis der Markt mächtig sei, sondern von Anfang an dabei sein, sagt die Agentin."

Weitere Artikel: Michael Hanfeld berichtet über die Fernsehspielchefin des NDR, Doris Heinze, die ihren Ehemann unter falschem Namen Drehbücher für den NDR hat schreiben lassen. In der Leitglosse paart Oliver Jungen Goethe mit Bohlen. Jürgen Dollase möchte, dass wir erst konsequent unsere Geschmacksnerven trainieren, bevor wir uns an den Herd wagen. Ralf-Peter Märtin stellt Überlegungen zur Entdeckung einer zertrümmerten Reiterstatue im hessischen Waldgirmes an. Auf der letzten Seite beschreiben Korrespondenten in einem kurzen Absatz die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in verschiedenen Ländern. Im Leitartikel auf der Seite 1 verkündet Patrick Bahners, dass er die Ideen des im Berliner Stadtschloss geplanten "Humboldt-Forums" veraltet findet. Eine Meldung informiert uns, dass Navid Kermani nun doch mit dem Hessischen Kulturpreis ausgezeichnet werden soll: Dies hätten die anderen Preisträger, Karl Kardinal Lehmann, der frühere Kirchenpräsident Peter Steinacker und der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Salomon Korn, nach einem Treffen mit Kermani bekanntgegeben.

Besprochen werden Choreographien von Cesc Gelabert und Christian Spuck beim Edinburgh International Festival sowie einige CDs, darunter die Preludes des russisch-jüdischen Komponisten und Gulag-Häftlings Wsewolod Saderatzki, die von dem Pianisten Jascha Nemtsov eingespielt wurden, und eine CD des Rappers und Schauspielers Mos Def.

Für Bilder und Zeiten betrachtet Dieter Bartetzko die "zerfledderte Stadtmitte" Lübecks. Thomas Speckmann fragt, warum Frankreich und Großbritannien den Zweiten Weltkrieg nicht gleich 1939 beendet haben. Oliver Jungen hat einen Ortstermin mit Chinas Bestseller-Autorin Chun Sue in Peking. Besprochen werden Bücher, darunter Stephan Thomes Debütroman "Grenzgang" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Uwe Wittstock ein Gedicht von Walter Helmut Fritz vor:

"Ach, die lappländische Reise

Da, hallo, im Schatten Linne,
wie er seine Stiefel zur Seite stellt
und sein Notizbuch verwahrt.
..."

SZ, 29.08.2009

Thomas Steinfeld referiert eine Studie der Universität Stanford, die nach fünf Jahren Untersuchungszeit zum Ergebnis kommt, dass die Studierenden von heute durch das Internet in ungekanntem Maß literarisiert werden; allerdings auf recht spezifische Art: "Ein großer Teil dieser Texte ... wird nicht nur für den Dozenten und damit letztlich für den Papierkorb geschrieben, sondern für eine potentiell unendlich große Leserschaft, die ihrerseits auf diese Texte antwortet, wobei oft eine präzise und schnelle Reaktion erwünscht ist. Diese aber muss vorbereitet, sie muss provoziert werden. Außerdem geht es im hohen Maße um Selbstdarstellung, und das bedeutet, dass die Texte nach rhetorischen, wenn nicht sogar ästhetischen Kriterien gestaltet werden. Ja, mehr noch: Unter dem Druck, wahrgenommen werden zu müssen, haben junge Leute - und auch viele ältere - längst angefangen, sich selbst wie ein Unternehmen, als eine Art Privatsender ihrer selbst zu behandeln."

Weitere Artikel: Gemeldet wird erstens, dass die EU-Wettbewerbskommissarin die Digitalisierungsaktion von Google Books für segensreich hält und dass zweitens Google Books jetzt neun Millionen seiner rechtefreien Bücher im offenen epub-Format anbietet. Till Briegleb schildert Ursachen und Folgen der friedlichen Besetzung des Hamburger Gängeviertels durch 200 Künstler - und erkennt darin eine echte Herausforderung für den schwarz-grünen Senat, auf dessen Linie die Forderungen der Besetzer eigentlich liegen. Reinhard J. Brembeck verabschiedet den Dirigenten und Countertenor Rene Jacobs von den Innsbrucker Festspielen, die dieser nach 33 Jahren verlässt. Die neue Theater-heute-Ausgabe mit der traditionellen Umfrage zu Theater, Regisseur, Darstellern des Jahres liest Christine Dössel. Helmut Mauro kommentiert aktuelle Klagen über das "Aussterben der Chorkultur". Susan Vahabzadeh gratuliert dem Filmregisseur Joel Schumacher zum Siebzigsten. Joachim Kaiser hat für die Bayreuther Institution Wolfgang Wagner Glückwünsche zum Neunzigsten.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende erinnert sich Oliver Storz an den Tag des deutschen Einmarschs in Polen vor siebzig Jahren. Für die Reihe "Die letzten Augenzeugen" hat Joachim Käppner mit dem 95jährigen Peter von Butler gesprochen, der als Panzeroffizier beim Einmarsch dabei war. Mirijam Günter berichtet über ihre langjährigen Erfahrungen mit Literaturwerkstätten in Jugendgefängnissen. Den tschechischen Filmregisseur Bohdan Slama ("Der Dorflehrer") porträtiert Verena Krebs. Willi Winkler fragt sich, warum Bob Dylan der Menschheit nun ausgerechnet als Navi-Stimme Orientierung geben will. Im Interview spricht Willi Winkler mit Alexander Kluge über die Revolution, über Minderheiten, die Mehrheiten sind, das Internet und den Markt: "Auch wenn der Markt nach Magerschweinen verlangt, muss es möglich sein, dicke Tiere zu erhalten."

Besprochen werden der US-Überraschungserfolgsfilm "District 9" von Neill Blomkamp (Fritz Göttler staunt: "Das Genrekino als soziologisches Modell, Science-Fiction direkt auf die Straßen von Johannesburg gepflanzt") und Bücher, darunter Mirca Cartarescus Erzählungsband "Nostalgia" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).