Heute in den Feuilletons

Perlt dabei so wunderschön

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2009. Die FR erklärt die Dialektik heutiger Kapitalismuskritik in deutschen Stadttheatern. Man kann Klimaskeptiker sein und trotzdem kein Geld haben, antwortet Novo auf Attacken der FAZ. Im Iran sind zwölf Schwule zum Tode verurteilt worden - aber es entsteht auch eine Schwulenbewegung, melden die Gay City News. In der FAZ schreibt Andreas Maier eine Hommage auf Parastou Forouhar.

FR, 15.12.2009

Tobi Müller lässt sich bei den Proben zu Brechts Theaterstück "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" von Regisseur Nicolas Stemann eine Lektion in Dialektik erteilen: "Was Stemann sieht, ist weniger die einfache Anklage als die Reflexion der eigenen Rolle. 'Brecht ist das ja alles bewusst', sagt Stemann, 'wir stehen im bürgerlichen Theaterrahmen und fordern den Umsturz der Verhältnisse, die diesen Theaterabend erst ermöglichen.' (...) Auf den Proben sieht man deutlich, was Stemann damit meint. Zu Beginn tragen alle weiße, glitzernde Abendgarderobe und trinken Champagner. Alle: Der Kapitalist Mauler sowie Johanna Dark, die Heilsarmistin mit dem guten Willen. Kapitalismuskritik ist salonfähig und perlt dabei so wunderschön."

Weitere Artikel: Für Oleg Jurjew zeugt es von Humorlosigkeit, wenn man Dmitri Nabokov dafür kritisiert, dass er gegen den erklärten Willen seines Vaters die Karteikarten zu "Modell für Laura" veröffentlicht hat. Übersetzt ist eine Bustina von Umberto Eco, der den Katalog "Livres Curieux et Bizarres" durchblättert.

Besprochen werden das Frankfurter Auftaktkonzert zur Tournee von Jochen Distelmeyer, Richard Strauss' Oper "Frau ohne Schatten" in Zürich (bisschen "etepetete", meint Hans-Klaus Jungheinrich), die Ausstellung "Taswir - Islamische Bildwelten und Moderne" im Berliner Martin-Gropius-Bau ("Islamische Kunst" ist eine Erfindung westlicher Orientalisten, lernt Jasmin Schülke) und Bücher, darunter ein Gedichtband von Daniela Danz (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 15.12.2009

Eine klimaskeptische Position wie die des Magazins Novo oder der Achse des Guten könne nur von Großkonzernen ferngesteuert sein, suggerierte Lorenz Jäger, Redakteur der industriefernen FAZ, letzte Woche. Heute antwortet Thomas Deichmann in Novo: "Wie der Zufall es will, haben wir zeitglich zur Tirade in der FAZ eine Unterstützerkampagne lanciert, um Novo im Jahr 2010 am Leben erhalten und seine Präsenz hoffentlich ausbauen zu können. Das komplette Ausgabenbudget des Verlags samt Redaktion, Produktion und symbolischen Aufwandentschädigungen für Mitarbeiter liegt derzeit für das Jahr 2010 bei etwa 70 Tausend Euro. Das ist wahrscheinlich weniger als das gewiss verdiente Jahresgehalt der genannten Redakteure. Das soll uns erst mal einer nachmachen!"

"Heute findet in Karlsruhe die mündliche Anhörung zur Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung statt", meldet Netzpolitik und liefert eine Menge Links zu Hintergrundinformationen.

(Via Achse des Guten) Zwölf Homosexuelle sind im Iran zum Tod verurteilt worden, berichtet Doug Ireland in einer ausführlichen Recherche in den Gay City News. Hier berichtet er auch über die Entstehung einer iranischen Schwulenbewegung und zitiert aus einem Aufruf der "Queer Students of the Iranian Universities": "Considering that a considerable number of students are sexual minorities and the fact that many queer activists are either students or alumni of Iranian Universities, on the eve of this year?s Student Day we should embrace a more thorough meaning of human rights values that includes the rights of queers."

TAZ, 15.12.2009

Der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck erklärt im Interview, warum die Bundesrepublik im Verfahren gegen argentinische Militärs in Chile Nebenklägerin ist. Der amerikanische Jazzposaunist Curtis Fuller erzählt im Interview von seiner Zusammenarbeit mit Dizzy Gillespie, John Coltrane, Art Blakey, Count Basie oder Miles Davis. Charles Saatchis Castingshow scheint nicht zur Kunsterziehung des Fernsehpublikums beizutragen, liest man den leicht angeekelten Bericht von Julia Grosse. Christiane Müller-Lobeck findet die Auseinandersetzung über die Verhinderung der Aufführung von Claude Lanzmanns Film "Warum Israel!" in Hamburg total unwichtig. Rene Hammann sah "Die Himmelfahrt Radioshow" in Berlin.

In taz zwei berichtet Karin Schädler über gläubige Musliminnen, die mit dem Koran für Gleichberechtigung argumentieren.

Und Tom.

NZZ, 15.12.2009

Andrea Köhler berichtet, dass das Pentagon die New Yorker Theatergruppe Philoctetes Project sponsort, die traumatisierten Kriegsveteranen mit Sophokles ermutigen soll, endlich zum Therapeuten zu gehen: "Erklärtes Ziel ist es, Soldaten und ihren Familien dabei zu helfen, Vorurteile gegenüber den emotionalen Folgeschäden des Krieges zu überwinden. Auf dem Programm stehen die Dramen 'Philoktet' und 'Ajax'."

Besprochen werden eine Inszenierung von Strauss' Oper "Die Frau ohne Schatten" am Opernhaus Zürich (laut Peter Hagmann "von herrlicher Überzeugungskraft"), die Ausstellung "Warhol Wool Newman" im Kunsthaus Graz, Atiq Rahimis preisgekrönter Roman "Stein der Geduld", Durs Grünbeins Essay "Die Bars von Atlantis" und Gunnar Gunnarssons Krimi "Schwarze Vögel" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 15.12.2009

Volker Lösch hat Döblins "Berlin Alexanderplatz" mit Wucht, Poesie und echten "Mördern, Räubern, Kindsverderbern" inszeniert, Ulrich Weinzierl ist begeistert: "Das stärkste, ein unvergessliches Bild des Abends: der Alexanderplatz in Entenhausen am Main. Naturgemäß hat das Logo auf den Säcken nichts mit jenem der Deutschen Bank zu tun, da sei Gott vor, oder wie der Vorstandsvorsitzende sonst heißen mag!"

Weiteres: In den USA wird heftig über Heidegger gestritten, berichtet Hannes Stein: Carlin Romano hat die Debatte vor zwei Monaten im Chronicles of Higher Education unter Berufung Emmanuel Fayes Buch "Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie" mit einer heftigen Attacke gegen den "prätentiösen alten Schwätzer aus dem Schwarzwald" eröffnet. Im Interview mit Michael Loesl spricht die noch immer kreuzbrave Norah Jones über ihr neues Album "The Fall": "Es ist meine Ihr-könnt-mich-mal-Platte geworden, ohne dass ich ein einziges Mal das F-Wort bemühe." Thomas Lindemann freut sich über eine Wiederbelebung des postapokalyptischen Thrillers, zumindest außerhalb Deutschlands. Paul Jandl hat sich in Wien Matthias Langhoffs Version von Brechts "Dickicht der Städte" angesehen.

SZ, 15.12.2009

Jürgen Trabant, Professor of European Plurilingualism an der Jacobs University in Bremen, kritisiert die Tendenz der neuen deutschen Eliten, ihre Kinder von vornherein auf eine englischsprachige Privatschule zu schicken: "Sie ist die Agentur zum Erwerb der (höheren) Globalsprache und damit zur Herabstufung der alten Nationalsprache zu einer Vernakularsprache. Wie im 18. Jahrhundert verabschiedet sich hier und heute eine Aristokratie aus der Sprach- und Kulturgemeinschaft. Das ist damals bekanntlich der Nation politisch und kulturell nicht bekommen."

Weitere Artikel: Andrian Kreye verfolgte eine Diskussion von Künstlern und Autoren über den Klimawandel in Kopenhagen. Julia Amalia Heyer resümiert ein Berliner Streitgespräch über den Inhalt des Humboldt-Forums in der geplanten Stadtschlossreplik. Holger Liebs schreibt zum Tod des Fotografen Larry Sultan. Franziska Augstein berichtet über einen Streit um Vermeers Gemälde "Malkunst", das heute in Wien hängt und von der böhmischen Adelsfamilie Czernin an Hitler verkauft worden war - nun will die Familie es zurück, weil es angeblich verkauft wurde um die "halbjüdische" Frau des damaligen Grafen zu schützen.Der emeritierte Rechtsprofessor Michael Bothe fragt: "Was darf die Bundeswehr in Afghanistan?"

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass die Auflagen der britischen Zeitungen zurückgehen, besonders drastisch - 15 Prozent in einem Jahr - beim Guardian.

Besprochen werden Volker Löschs "Berlin Alexanderplatz" nach dem Roman von Alfred Döblin an der Berliner Schaubühne, Strauss' "Frau ohne Schatten" unter Franz Welser-Möst und Michael Volle in Zürich, Ruben Fleischers Film "Zombieland" und Bücher, darunter ein Gedichtband von Freidrich Ani (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 15.12.2009

Der Romanautor Andreas Maier schreibt über die in Deutschland lebende iranische Künstlerin Parastou Forouhar, die derzeit im Iran festgehalten wird, weil sie, wie jedes Jahr, dort ihrer ermordeten Eltern gedenken wollte. Er ist eine Art Hymne auf eine Frau, die er seit einigen Jahren kennt und bewundert: "Mit der Zeit begriff ich, dass sich Parastou Forouhar von allen anderen Menschen, die ich kenne, unterscheidet. Ich meine nicht diesen Willen, mit Freude zu leben, als wäre jeder Tag ein Fest; ich meine auch nicht diese Ernsthaftigkeit im Handeln und Selbstsicherheit und Geradlinigkeit im Tun, die, auch wenn sie von der Ermordung ihrer Eltern herrührt, einen künstlerisch manchmal geradezu neidisch machen kann. Nein, ich meine die Kraft, die all das kostet. Vielleicht begriff ich damals zum ersten Mal, welche Kräfte einem zuwachsen müssen, wenn es die Umstände erfordern."

Weitere Artikel: Patrick Bahners kratzt sich ob widersprüchlicher Aussagen Karl Theodor zu Guttenbergs am Kopf. Kerstin Holm gibt Auskünfte aus dem Archiv des russischen Geheimdienstes FSB weiter, darunter die, dass die Asche von Adolf Hitler und Eva Braun wirklich in die Biederitz gestreut wurde. In der Glosse informiert Jürg Altwegg über Johnny Hallydays künstliches Koma und das Darumherum. Andreas Platthaus bereitet die Leserschaft auf Kat Menschiks heute startenden Fortsetzungs-Comic "Das variable Kalendarium" vor. "Rh" hat einen Nachruf auf den Kirchenhistoriker Günter Wirth verfasst.

Besprochen werden Volker Löschs "Berlin Alexanderplatz"-Inszenierung an der Berliner Schaubühne und, in derselben Kritik, Armin Petras' "Verschnitt" von Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" in Dresden, Werner Pichlers Wuppertaler "Cabaret"-Inszenierung, die Ausstellung "Die Kunst der Holzkonstruktion" in der Münchner Pinakothek der Moderne, die Ausstellung Erich Kuby zum 100. im Literaturarchiv Monacensia und Bücher, darunter Bernard Stieglers Studie "Von der Biopolitik zur Psychomacht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).