Heute in den Feuilletons

Klemmheimer im lila Cordanzug

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2010. Wolfgang Wagner wallt zur Wiege. Christoph Schlingensief schildert in der Welt die Sternstunden der Musikausbildung, die er in Bayreuth erleben durfte. Auch die Debatte um den sexuellen Missbrauch geht weiter: Christopher Hitchens erklärt in Slate seinen Abscheu vor einer Organisation, die Kinder foltert und nichts dabei findet. Der Sozialpädagoge Martin Kutz erzählt in der SZ die schauerliche Geschichte katholischer Erziehung. Und Tilman Jens erinnert sich für den Spiegel an die Odenwaldschule. Die Blogs beschäftigen sich mit Googles Rückzug aus China.

Welt, 23.03.2010

Christoph Schlingensief erinnert sich an seine supertolle Zeit mit Wolfgang Wagner in Bayreuth: "Alleine in den ersten zwei Jahren Pierre Boulez erleben und von ihm lernen zu dürfen, dann zu sehen was passiert, wenn der neue Parsifalsänger plötzlich anfängt zu leben, ein wirklicher Mensch zu sein, oder im dritten Jahr zu lernen, wie einige Sänger nicht mehr über eine Verlängerung informiert wurden, weil sie sich kritisch über das Haus geäußert hatten und deshalb plötzlich umbesetzt wurden... das waren Sternstunden der Musikausbildung!"

Außerdem: Manuel Brug schreibt einen Nachruf auf Wolfgang Wagner. Tilman Krause erinnert sich an dessen letzten öffentlichen Auftritt. Es gab nicht nur Suhrkamp in Frankfurt, sondern auch Jazz - daran erinnert Uwe Wittstock, der das Archiv des Posaunisten Albert Mangelsdorff würdigt.

Besprochen werden die Ausstellung "Das schönste Museum der Welt" im Essener Museum Folkwang und die Ausstellung "Jagd und Macht" im Jagdschloss Groß Schönebeck in der Schorfheide.

Aus den Blogs, 23.03.2010

Google zieht sich weitgehend nach Hongkong zurück (und dazu führt der Guardian glatt ein Liveblog). Markus Beckedahl kommentiert in Netzpolitik: "Nachdem Google nun seine Ankündigungen wohl Taten folgen lässt, kann man ja mal die Frage stellen: Was machen eigentlich Microsoft und Yahoo - Werden diese weiterhin mit den Behörden in China kollaborieren und ihre Suchmaschinen zensieren?" Mehr dazu auch im offiziellen Google Blog. Gizmodo zitiert die Reaktion der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua: "The Chinese government regulates the Internet according to laws and will improve its regulation step by step according to its own needs. It is a pure internal affair."

Auf der Achse des Guten kommentiert Richard Wagner den Rückzug von Google nach Hongkong: "Beide, Konzern wie Diktatur, kommen um die Imagefrage nicht herum. Gerade die Imagefrage bringt den Großstaat China immer wieder in Verlegenheit. Anders als das ehemalige Sowjet-Imperium, das mit seinem Zerfall auch seine ideologisch verordnete Gesellschaftsstruktur aufgegeben hat, versucht die chinesische Nomenklatura bis heute eine Transformation der Ökonomie zu erreichen, ohne die damit verbundenen gesellschaftlichen Umschichtungen zu akzeptieren."

Herta Müller setzt sich für kubanische Dissidenten ein, meldet das Blog Orlando Zapata Tamayo zum Gedächtnis an den kubanischen Dissidenten, der nach mehr als achtzig Tagen Hungerstreik gestorben ist: "Die Nobelpreisträgerin Herta Müller hat mit ihrer Unterschrift die Kampagne #OZT: Yo acuso al Gobierno cubano unterstützt, die die sofortige und bedingungslose Freilassung der politischen Gefangenen in Kuba fordert."

Für Homosexualität oder Scheidung hält die katholische Kirche drastische Strafen bereit, schreibt Christopher Hitchens in Slate, "aber bei Vergewaltigung und Folter wehrloser Kinder werden Interpretationsspielräume und mildernde Umstände angemahnt. Was kann man über eine Kirche sagen, die bei einem so abscheulichen Verbrechen eine solche Weitherzigkeit an den Tag legt?"

(Via Lizas Welt) "Achtung katholische Schule!" Im Zuge der Missbrauchsdebatte reagieren nun auch die Straßenverkehrsbehörden:



Spiegel Online, 23.03.2010

Im Grunde war ja jeder aus einigermaßen prominentem Hause dabei und informiert. Jetzt schreibt also auch Tilman Jens im Spiegel über seine Zeit in der Odenwaldschule: "Auch ich wusste über eine gute Freundin, die im selben Haus wie (der Reformpädagoge Gerold) Becker lebte, um dessen Duschorgien mit seinen ihm anvertrauten Knaben. Und allgemein bekannt war auch, dass unter dem Dach ebendieses Herder-Hauses der homosexuelle Musiklehrer H., ein Klemmheimer im lila Cordanzug, mit vier erwählten Jungs in einer abgeriegelten Wohngemeinschaft lebte."

FR, 23.03.2010

Der Islamwissenschaftler Stefan Wild beschreibt in einem sehr instruktiven Text die Schwierigkeiten der Koran-Übersetzung und lobt die neue Übertragung Hartmut Bobzin als "unaufdringlich und respektvoll", allerdings "eher auf die 'gebildeten Stände' von Nicht-Muslimen als auf den deutschen muslimischen" Leser ausgerichtet.

Hans-Klaus Jungheinrich schreibt zum Tod Wolfgang Wagners, den er als knorrig-bodenständigen, humanitären Patriarchen beschreibt: "Wolfgang Wagner strahlte nie die Gebügeltheit eines metropolitanen Musikmanagers aus." Daniel Kothenschulte rühmt noch einmal den japanischen Regisseur Akira Kurosawa, der heute hundert Jahre alt geworden wäre, für seine Sorgfalt und Hingabe. Besprochen wird Sibylle Bergs Stück "Hauptsache Arbeit" in Stuttgart.

Auf der Medienseite proträtiert Ulrike Simon sehr freundlich SZ-Chefredakteur Hans Werner Kilz, für den die neuen Stuttgarter Eigentümer einen geschmeidigen Nachfolger suchen (Online steht der Artikel bei der Berliner Zeitung).

NZZ, 23.03.2010

Marianne Zelger-Vogt schreibt den Nachruf auf Wolfgang Wagner. Patricia Grzonka besichtigt Ludwig Mies van der Rohes Villa Tugendhat in Brünn, die nun restauriert wird. Brigitte Kramer berichtet, wie sich Argentinien auf seinen Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse vorbereitet.

Besprochen werden ein Konzert von Andras Schiff in der Zürcher Tonhalle, Eric Bergkrauts Porträt des Schriftstellers Peter Bichsel "Zimmer 202", Georg Kleins "Roman unserer Kindheit", der, wie Roman Bucheli befindet, absolut verdient den Leipziger Buchpreis bekommen hat, und Tomasz Rozyckis Poem "Zwölf Stationen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 23.03.2010

Isolde Charim grübelt über die Bedeutung der Protestaktion, bei der thailändische Oppositionelle ihr Blut verschüttet haben. Toni Keppeler erinnert an den morgen vor 30 Jahren erschossenen salvadorianischen Erzbischof Oscar Arnulfo Romero. Joachim Lange zeichnet kurz den Lebensweg des Bayreuth-Chefs Wolfgang Wagner nach, dessen Leben Katrin Bettina Müller würdigt.

Auf den vorderen Seiten schlägt der Politologe Mounir Azzaoui, von 2001 bis 2006 Pressesprecher des Zentralrats der Muslime in Deutschland, vor, dass die Bundesrepublik die Islamkonferenz aufgibt, an der auch unabhängige Einzelpersonen teilnehmen, und statt dessen direkt mit den Moscheen und Moscheevereinen verhandelt.

Besprochen werden die Ausstellung "Early Years" mit Werken von 17 jungen polnischen Künstlern in den Berliner Kunst-Werken, die Uraufführung von Sibylle Bergs Auftragsstück "Hauptsache Arbeit!" inszeniert von Hasko Weber in Stuttgart und der Roman "Nahe Null", der angeblich aus der Feder des Kreml-Chefideologen Wladislaw Surkow stammt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

SZ, 23.03.2010

Joachim Kaiser höchstselbst schreibt den Nachruf auf den Herrn vom Hügel: "Hält man sich Bayreuths Geschichte, wie Wolfgang sie seit 1966 jahrzehntelang geprägt hat, vor Augen, dann ermisst man schwerlich, wie kühn manche seiner Entscheidungen gewesen sind, die sich nur eben später als Erfolge herausstellten." In einem zweiten Artikel äußert sich Reinhard J. Brembeck optimistisch, dass in Bayreuth mutige Inszenierungen möglich bleiben. Außerdem werden Stimmen aus dem Umkreis gesammelt - ausführlich erinnern sich Christoph Schlingensief und Jürgen Flimm.

Weitere Artikel: Christian Jostmann verfolgte eine Wiener Diskussion über die Zukunft der Universitäten mit einer äußerst pessimistisch gestimmten Marlene Streeruwitz. Der Schriftsteller und ehemalige Sozialpädagoge Martin Z. Schröder fragt in einem angenehm sachlichen Artikel was genau eigentlich unter sexuellem Missbrauch zu verstehen sei. Fritz Göttler erinnert an Akira Kurosawa, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Harald Eggebrecht auch. Thomas Steinfeld liest einen nachgelasenen kritischen
Essay W.G. Sebalds über Jurek Becker.

Besprochen werden die Ausstellung "Elles@centrepompidou" in Paris und der Beginn einer Serie mit Stücken über die "Zehn Gebote" im Wiener Schauspielhaus.

Höchst eindringlich und schauerlich beschreibt der Sozialhistoriker Martin Kutz auf Seite 2 der SZ das im 17. Jahrhundert entstandene katholische Erziehungssystem für Knaben: "Die Diskussion zum Kindesmissbrauch tut so, als seien einzelne pädophile Priester und Erzieher das Problem. Möglich wurden die Taten jedoch auf der Basis eines Erziehungssystems, das religiös begründet und historisch gewachsen ist. Das, was heute den Abscheu einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft hervorruft, wurde im 17. und 18. Jahrhundert aus religiösen Gründen erfunden."

In der SZ-Online-Serie "Wozu noch Journalismus?" kommt Alphajournalist Hans-Ulrich Jörges zu einer eindringlichen Analyse der Probleme mit dem Internet: "Und nun zu den Online-Medien. Deren Geburtsfehler war, das bedarf keiner weiteren Erörterung, die kostenlose Verbreitung teurer journalistischer Inhalte." (Zwar sind die SZ, die FAZ, die Zeit, der Spiegel, der Stern seit langem nicht kostenlos im Netz zu haben, aber warum auf Fakten Rücksicht nehmen, wenn man den Schuldigen schon identifiziert hat?)

FAZ, 23.03.2010

Eleonore Büning schreibt im Nachruf auf Wolfgang Wagner: "So konservativ als Künstler - so kreativ und liberal war Wolfgang Wagner als Kunstermöglicher. Es gab Zeiten, da brachte er sogar die Wagnerverbände gegen sich auf mit seiner wagemutigen Besetzungspolitik." Außerdem hat die FAZ Stimmen zu Wagners Tod gesammelt, unter anderem von Hans Neuenfels und Pierre Boulez.

Weitere Artikel: Von einer Kunstfarce in Hamburg berichtet Peter Richter: Dort hatten die Jungen Liberalen Einspruch gegen die Aufstellung einer Che-Guevara-Statue auf dem dortigen Rathausmarkt protestiert - in Unkenntnis der Tatsache, dass es sich bei dem Werk des Künstlers Christian Jankowski nicht eigentlich um eine Darstellung Che Guevaras sondern um eine Darstellung eines Che Guevara-Darstellers handelt (ist ja aber auch kompliziert). Der Schriftsteller Dietmar Dath berichtet von seinem Ärger mit der NPD, die seine jüngst erschienene Rosa Luxemburg-Biografie verbieten lassen will. Andreas Platthaus hat aus einer Diskussion zwischen Günter Grass und dem ehemaligen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes und Stasi-Zuträger Hermann Kant den Eindruck mitgenommen, dass sich beide "wechselseitig für Totengräber des Sozialismus" halten. Josef Oehrlein berichtet, dass die kurz nach Jean-Paul Sartres Tod geraubte Grabplatte des Philosophen wieder aufgetaucht ist - im Nachlass des kolumbianischen Dichters Arnulfo Valencia, der sie einst "aus tiefster Verehrung" mitgehen ließ.

Besprochen werden Dieter Giesings Inszenierung von Thomas Vinterbergs und Mogens Rukovs "Das Fest" in Köln, eine Ausstellung mit Gemälden des japanischen Filmregisseurs Beat Takeshi Kitano in Paris eine Tanzperformance von Cesc Gelabert nach einer Choreografie von Gerhard Bohner in Wien, Simon Stephens "Punk Rock" in einer Inszenierung von Daniel Wahl am Hamburger Schauspielhaus und Bücher, darunter Johannes Willms' Stendhal-Biografie und ein Gedichtband von Andre Rudolph (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau).