Heute in den Feuilletons

Gericht muss wohl sein

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2010. In der Welt protestiert Doron Rabinovici gegen die Konzessionen der gemäßigten österreichischen Parteien an die FPÖ: Neuerdings werden in Wien schon achtjährige Kinder mit vorgehaltenem Sturmgewehr in den Kosovo zurückexpediert. In Phase 2 zeigt Oliver Piecha am Beispiel des brasilianischen Präsidenten, wie weit Kulturrelativismus gehen kann. In Esquire singt Philip Roth ein Loblied auf einen "wonderful guy named Larry Cooper". Die NZZ befasst sich nochmal eingehend mit der irischen Rebellion von 1641. Und ganz Indien streitet über Arundhati Roy, der wegen einer Äußerung über Kaschmir eine Klage wegen Volksverhtzung droht.

Welt, 29.10.2010

Doron Rabinovici, Autor des Romans "Andernorts", beschreibt in einem aufrüttelnden Artikel, wie sich die gemäßigten österreichischen Parteien zu Bütteln der FPÖ machen und bereits achtjährige Kinder von Asylbewerber mit vorgehaltenen Sturmgewehren in den Kosovo abschieben: "Das Fremdenrecht verlangt Säuglingen, die in Österreich geboren wurden, aber nicht sogleich mit dem richtigen Pass aus dem Bauch der Mutter purzeln, beinah schon im Kreißsaal, spätestens aber im Laufe des ersten Halbjahres, eine Aufenthaltsgenehmigung ab. Die rassistische Hetze des Populismus und des Boulevards prägt das Land. Die Regierungskoalition von SPÖ und ÖVP wird zum Erfüllungsgehilfen der rechten Scharfmacher."

Weitere Artikel: Die Sopranistin Joyce DiDonato erklärt einem ungläubig staunenden Manuel Brug, warum sie ein (oder "einen", wie es in der Journalistenschaft heißt) Blog betreibt. Peter Praschl plädiert in der Leitglosse gegen Ebooks und Funktionen, die Ebooks und Leserreaktionen vernetzen sollen.

Besprochen werden das Spektakel "Protect me" von Falk Richter und Anouk van Dijk an der Berliner Schaubühne und der Film "Precious Life" über eine israelisch-palästinensische Knochenmarksspendenaktion.

FR, 29.10.2010

Der in Atlanta lehrende Jurist Abdullahi Ahmed An-Na?im macht sich sehr komplizierte Gedanken darüber, ob und wie wie sich die Menschenrechte mit der Scharia besser durchsetzen lassen: "Meiner Meinung kommt es sehr viel mehr darauf an, den Muslimen erklären zu können, dass Menschenrechte vereinbar mit ihrem Glauben, möglicherweise sogar von ihm herzuleiten sind; weniger bedeutsam ist dagegen, sie davon zu überzeugen, die Menschenrechte seien ein politischer oder moralischer Anspruch, der unabhängig von ihren jeweiligen Glaubenspräferenzen universal gültig ist, mithin also auf eine Art und Weise begründet wird, die sie nicht verstehen."

Besprochen werden Bob Dylans "Witmark-Demos" als weiter Meilenstein in der Erschließung seiner Archive, Juan Jose Campanellas Film "In ihren Augen" und Adolf Endlers Erinnerungen "Dies Sirren" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 29.10.2010

(via a piece of monologue) Philip Roth fährt mit Esquire-Autor Scott Raab von NYC nach Weequahic in Newark, wo er aufgewachsen ist. Sie besuchen - mit zwei Polizisten als Eskorte - das Haus in dem Roth aufwuchs und seine Schule. Am Ende unterhalten sie sich über das Schreiben. Ist es einfacher geworden, will Raab wissen. Nur ein bisschen, antwortet Roth. "I have four or five friends who I ask to read my final drafts and to say whatever they want to say to me about it. I put it through that sieve, and they tell me what they think about it, and then I consider it and make changes if it seems appropriate. Often it does. And there's an excellent copy editor at Houghton Mifflin, where I publish, a wonderful guy named Larry Cooper, and he goes over the thing very carefully and makes sure I don't make a schmuck of myself."

(via arts and letters daily) Jane Austen war als Schriftstellerin viel experimenteller als man bislang ahnte. Ihre Texte wurden wahrscheinlich von ihrem Lektor William Gifford geglättet, fand jetzt die Literaturwissenschaftlerin Kathryn Sutherland heraus. Das berichten der Telegraph und der Chronicle. Oder hat er nur ihre Grammatik- und Rechtschreibfehler korrigiert? "Amongst Austen's grammatical misdemeanours was an inability to master the 'i before e' rule. Her manuscripts are littered with distant 'veiws' and characters who 'recieve' guests. Elsewhere, she wrote 'tomatoes' as 'tomatas' and 'arraroot' for 'arrowroot' - peculiarities of spelling that reflect Austen's regional accent, Prof Sutherland explained. 'In some of her writing, her Hampshire accent is very strong. She had an Archers-like voice with a definite Hampshire burr.'" (Mehr dazu hier)

Die Schriftstellerin Edith Wharton, lesen wir in Lapham's Quarterly, schrieb um 1919 in Paris ziemlich saftige Erotika. Ob es sich in der folgenden Szene tatsächlich um Sex zwischen Vater und Tochter handelt, wie Jezebel unter Verweis auf diesen Link behauptet, konnten wir heute morgen nicht überprüfen. Hier ein Auszug: "She let herself sink backward among the pillows, and already Mr. Palmato was on his knees at her side, his face close to hers. Again her burning lips were parted by his tongue, and she felt it insinuate itself between her teeth and plunge into the depths of her mouth in a long, searching caress, while at the same moment his hands softly parted the thin folds of her wrapper. One by one they gained her bosom, and she felt her two breasts pointing up to them, the nipples hard as coral, but sensitive as lips to his approaching touch. And now his warm palms were holding each breast as if in a cup, clasping it, modeling it, softly kneading it, as he whispered to her, 'Like the bread of the angels.'"

Auch Thalia hat einen E-Book-Reader entwickelt, schreibt der Schweizer Verleger Ekkehard Faude im Journal21, aber er glaubt nicht dran: "Heitere Gemüter sehen das Ganze als einen schweißgetriebenen Versuch der Marktsicherung; denn Thalia schließt die ersten Filialen in Deutschland und wies im ersten Halbjahr einen Umsatzrückgang aus. Die Filialisten können sich ausrechnen, dass der Umstieg der Leser auf digitalen Stoff einen sicheren Anteil ihrer bisherigen Bestseller-Umsätze vernichten wird. Bei jedem gedruckten dicken Buch von Stieg Larssons Thrillern blieben ihnen (von 23 Euro Ladenpreis) einst 10 Euro. Die E-Book-Version ist nun aber für weniger als 9 Euro zu haben."

NZZ, 29.10.2010

Martin Alioth erklärt in einem sehr lehrreichen Text die Bedeutung einer Quellensammlung, der Depositions, die von der irischen Rebellion 1641 gegen englische Kolonisten berichtet, von beiden Seiten weidlich instrumentalisiert wurde und nun erstmals öffentlich ausgestellt wird: "Die Trinity-Historikerin Jane Ohlmeyer, die treibende Kraft hinter der Erschließung der 'Depositions', vergleicht die Entwicklungen im Gespräch mit dem Flaschengeist, der nur darauf wartet, bis der Korken entfernt wird. In ganz Irland stürzte sich der Mob mit entfesselter Grausamkeit auf protestantische Familien. Sie werden gefoltert, massakriert, ersäuft. Die Zahl der Opfer wird immer ein Rätsel bleiben, aber sie liegt, so Ohlmeyer, bestimmt im fünfstelligen Bereich."

Weiteres: Joachim Schirrmacher hat auf einem Vitra-Symposium zu Bürodesign gelernt, warum es sinnvoller ist, Mitarbeiterpotenziale in angenehm gestalteten Räumen anzuregen als an den Stuhlkosten zu sparen. Martina Sabra schreibt zum hundertsten Geburtstag des spanischen Lyrikers und Franco-Gegners Miguel Hernandez. Besprochen wird Marc-Antoine Mathieus Comic "Gott höchstselbst" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 29.10.2010

Riesenärger bereitet eine Äußerung von Arundhati Roy: "Kashmir has never been an integral part of India." Nun droht ihr eine Klage wegen Volksverhetzung. Und sie hat eine Riesendebatte ausgelöst. Das Asian Windows zitiert Stimmen zu ihren Äußerungen, unter anderem dieses Editorial aus The Hindu, das auf John Stuart Mill rekurriert: "It is to this powerful libertarian mid-19th century principle that we owe the idea that free speech cannot be proscribed merely because we find it disagreeable, and that curbs may be imposed only if such expression constitutes a direct, explicit, and unequivocal incitement to violence. There is no such nexus in Ms Roy's statements on Kashmir, which are shaped around the theme of gross human rights violations and (as she points out in a statement: 'Pity the Nation that has to silence its writers? ) 'fundamentally a call for justice.' It is tragi-comic that there is talk of 'sedition' at a time when it is regarded as obsolete in many countries." Mehr dazu im Guardian.

Berliner Zeitung, 29.10.2010

Kordula Doerfler unterhält sich mit dem italienischen Historiker Galli della Loggia über sein deprimierendes Vaterland: "Mit dem Skandal Mani Pulite brach das Parteiensystem der Nachkriegszeit zusammen, und es entstand ein riesiges Vakuum, das bis heute nicht gefüllt ist. Italien ist ein Land in einer tiefen strukturellen Krise, und das seit fast 20 Jahren. Es ist ein Land im Niedergang."

Aus den Blogs, 29.10.2010

Wie weit der Kulturrelativismus der gemäßigten Linken gehen kann, demonstriert Oliver M. Piecha in einer Polemik in der Zeitschrift Phase 2 gegen westliche Kritiker des Westens am Beispiel des brasilianischen Präsidenten: "Lula Da Silva hat sich nach einigem Druck angeboten, (die zur Steinigung verurteilte Iranerin) Sakineh Mohammadi-Ashtiani aufzunehmen, schließlich sucht er seit geraumer Zeit ganz freiwillig die Nähe Teherans. Die Ablehnung der Offerte durch das iranische Regime trug er stoisch: 'Jedes Land hat seine Gesetze und Religionen. Und wir müssen lernen diese zu respektieren, ob wir mit ihnen einverstanden sind oder nicht.'"

TAZ, 29.10.2010

Klaus Hillenbrand und Christian Semler unterhalten sich mit Egon Bahr über den Bericht "Das Amt und die Vergangenheit" darüber, was die Politiker der Nachkriegszeit wirklich wussten und ob und was sie der Versöhnung opferten. Bahr, 1960 Planungschef im Auswärtigen Amt, erklärt: "Wir waren doch keine Toren. Wir wussten, dass es keine Institution im Dritten Reich gegeben hat, die nicht dem Regime gedient hat und in das Nazisystem eingeschmolzen worden ist. Aber 1966 sollte eine Regierung zur Versöhnung des Landes gebildet werden."

Ergänzend berichtet in tazzwei Matthias Lore von der öffentlichen Übergabe der Historikerstudie in Berlin, bei der Außenminister Guido Westerwelle ausnahmsweise mal das "richtige Maß" gefunden habe.

Besprochen werden das Album "Everything in Between" der Band No Age aus Los Angeles, die damit jetzt auf Europatournee ist und das Tanztheaterprojekt "Protect me" von Falk Richter und Anouk van Dijk in der Schaubühne Berlin.

In tazzwei erfahren wir außerdem etwas über eine Geschäftsidee von Helmut Markwort: die Seite stayalive.come, eine Art Online-Friedhof, auf der man erfahren kann, wo jemand tatsächlich begraben ist, sowie spenden und virtuelle Kerzen anzünden.

Und Tom.

SZ, 29.10.2010

Als einen, der in der hysterisierten amerikanischen Medienlandschaft seinen kritischen Verstand behält, porträtieren Tobias Moorstedt und Jan Füchtjohann den Comedian und politischen Kommentator Jon Stewart. Seine "'Daily Show' ist so etwas wie die Ruhe im Auge des 'Shitstorm', wie man den Medienhype in Amerika gerne nennt. Darum gilt Stewart in den USA längst als einer der vertrauenswürdigsten Medienarbeiter."

Weitere Artikel: Sehr alarmiert zeigt sich Johan Schloemann von bayerischen Kürzungsplänen für die Universitäten; da scheint ihm eine ehrwürdige Tradition, die den Freistaat zur "großzügigen Freistatt für Bildung und Wissenschaft" machte, in Gefahr. Rudolph Chimelli beschreibt, wie Beirut durch den nicht an der Tradition, sondern am Geld interessierten Wiederaufbau Seele und Herz verloren hat. Heilfroh ist Till Briegleb, dass die vom Kultursenator Reinhard Stuth forsch verkündeten Hamburger Sparideen für die Kultur nach einem Machtwort von Bürgermeister Christoph Ahlhaus nun weitgehend vom Tisch sind. Von einer Passauer Diskussion zur Frage, wie die katholische Kirche die Jugend (wieder) für sich gewinnen kann, berichtet Rudolf Neumaier. 

Besprochen werden Uraufführungen von neuen Stücken der Dramatikerin Rebekka Kricheldorf in Kassel und Jena, Barrie Koskys Essener "Götterdämmerung"-Inszenierung ("ein Finale ohne Genialität, aber mit eigener Theaterhandschrift", befindet Michael Struck-Schloen), eine Ausstellung der Porträts der niederländischen Malerin Marlene Dumas, die im Münchner Haus der Kunst mit Porträtskizzen alter Meister konfrontiert werden (im Gespräch mit Catrin Lorch beschreibt die Künstlerin detailgenau ihr vom abstrakten Expressionismus beeinflusstes Vorgehen), Luca Guadagninos Melo "I Am Love" mit Tilda Swinton, und Bücher, darunter "Das weisse Buch" des freien Gestalters von Regalen sowie seiner Biografie Rafael Horzon (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und noch eine Spitzenleistung. Oben heißt es auf dieser Sonderseite der Süddeutschen Zeitung streng objektiv: "Während der 'Scharfen Wochen' in der Fränkischen Schweiz dreht sich in vielen Gasthäusern alles um den Kren". Unten wirbt unabhängig davon ein Milchkonzern für einen Brotaufstich mit Kren.

FAZ, 29.10.2010

Vorabgedruckt wird ein Auszug aus Malte Herwigs Handke-Biografie. Sie bestätigt, dass Handke im 1996 den bosnischen Kriegsverbrechener Radovan Karadzic im bosnischen Pale besuchte. "Der Dichter wollte Auskünfte über das Schicksal von Bosniern aus Srebrenica." (Norbert Gstrein warf Handke diesen Besuch 2008 in einem Interview mit der Zeitschrift Volltext vor).

In ihrer "Aus dem Maschinenraum"-Kolumne sieht es Constanze Kurz kommen, dass die geschlossenen Abteilungen der Apple-App-Welt jetzt auch auf den PC-Bereich übergreifen: "Apple will die Idee des 'ummauerten Gartens' offensichtlich auf Personal Computer ausdehnen. Der App-Store ist demnächst auch für normale Apple-Computer eröffnet. Wann die Installation von Software, die nicht über Apples Handelsplattform geht, zumindest erschwert oder wegen vorgeblicher Sicherheitsbedenken mit abschreckenden Warnmeldungen belegt wird, ist wohl nur noch eine Frage der Zeit. Die vollständige Gängelung des Käufers rückt dann nahe."

Weitere Artikel: In der Glosse geht es darum, dass die Wahrheit über das Auswärtige Amt keineswegs "in der Mitte" liegt - und um das einzig existierende Protokoll der Wannseekonferenz. Vom Münchner Festival "Dance 2010" berichtet Wiebke Hüster. Beim "Blick in osteuropäische Zeitschriften" liest Joseph Croitoru vor allem Aufsätze zur Umsetzung westlicher Rechtsmodelle in Osteuropa. Aus Hamburg kann Volker Corsten das nunmehr doch gesicherte Überleben des Altonaer Museums vermelden. Paul Ingendaay sammelt Stimmen argentinischer Schriftsteller zum Tod des Ex-Präsidenten Nestor Kirchner

Besprochen werden die Ausstellung von Karl Friedrich Schinkels Bildern von seiner Italienischen Reise in der Berliner Alten Nationalgalerie, die Ausstellung "Shifting the Gaze. Painting and Feminism" im Jewish Museum New York, Wolfgang Panzers Thomas-Hürlimann-Verfilmung "Der Große Kater" (mehr), und Thomas Willmanns Romandebüt "Das finstere Tal" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).