Heute in den Feuilletons

Bürgerliche Karrierebewirtschaftung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2011. Die FR freut sich, dass die Ägypter mit ihrem Despoten auch eine ganze Reihe anderer Autoritäten abschütteln. Die taz betritt mit der Theatermacherin Shermin Langhoff den neuen deutschen Raum. Die SZ blickt auf eine verheerte akademische Landschaft in Deutschland. In der Welt erklärt Wladyslaw Bartoszewski, warum sich Polen 1944 gegenseitig beraubten. In FR und NZZ diskutieren Theologen das Memorandum Kirche 2011. Im Freitag denkt Konstantin Neven DuMont mit Walter Kohl über den Generationenkonflikt der heute 40- bis 50-Jährigen mit ihren Vätern nach.

FR, 25.02.2011

Volker Heins berichtet aus Kairo über die Stimmung unter den jüngeren Ägyptern der Mittelschicht: "Der Revolution ging ein Autoritätsverlust von Eltern und Lehrern voraus, die nicht länger als unbestreitbare Quellen glaubwürdiger Informationen über die Welt betrachtet wurden. An ihre Stelle traten Blogs, der Austausch mit Kommilitonen und Facebook-Freunden oder die Texte des Amerikaners Gene Sharp über gewaltfreien Widerstand."

Weitere Artikel: Die drei Theologen Hans Kessler, Eberhard Schockenhoff und Peter Walter antworten auf die Kritik Kardinal Walter Kaspers am Memorandum "Kirche 2011" und plädieren deutlich für Refomen in der katholischen Kirche, die die Zulassung von Frauen zum Priesteramt einschließt. Nikolaus Bernau besucht die neu präsentierte Antikensammlung im Berliner Alten Museum.

Besprochen werden Mark-Anthony Turnages Oper "Anna Nicole" in London, eine neue CD von Ricky Martin und Erfahrungsberichte deutscher Soldaten in Afghanistan (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 25.02.2011

Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur erklärt, dass der Glaube für die meisten Muslime im Alltag wenig dominant ist und für viele erst in der Fremde zu einer Form der persönlichen Sinnstiftung wird. Das gilt besonders für Deutschland, wo Muslime besonders arrogant behandelt würden. Darum bezeichne sich ihr Vater nach vierzig Jahren in Deutschland immer noch als Iraner. "Heute bin ich mir sicher: Es liegt nicht an ihm. Seine Verwandten, die in die USA immigriert sind, bezeichneten sich nach kürzester Zeit schon als Amerikaner. Dabei halten sie nicht weniger an ihrer iranischen Identität fest, zu der auch der Islam gehört, als mein Vater, doch nimmt man sie in den USA an mit ihrer Doppelidentität - und macht so allertreuste Amerikaner aus ihnen. Dagegen herrscht hier immer noch das Denken vor, Doppelidentitäten könne es nicht geben".

Katrin Bettin Müller porträtiert Shermin Langhoff, die sich im Ballhaus Naunynstraße in Berlin für postmigrantisches Theater stark macht und nun am Sonntag den Kairos-Preis erhält. "Sie hat den Begriff der Postmigration zwar nicht erfunden, aber mit den Stücken, die am Ballhaus inszeniert werden, erhält er eine neue Anschaulichkeit. 'Der postmigrantische Raum ist der eigentlich neue deutsche Raum, das ist der Raum, in dem wir alle leben', sagt sie. Und in diesem Raum geht es um möglichst vielfältige Strategien der Partizipation."

Auf den vorderen Seiten befassen sich zwei Artikel mit der Affäre Guttenberg: Niklas Wirminghaus untersucht die Rolle der Universität Bayreuth, die - mal abgesehen von den Plagiaten - eine Arbeit mit summa cum laude ausgezeichnet habe, die "mittlerweile auch von politisch unverdächtigen Rechtswissenschaftlern als in inhaltlicher Hinsicht allenfalls mittelmäßig eingeschätzt wird". Steffen Grimberg und Gordon Repinski machen darauf aufmerksam, dass die Bild-Zeitung, die Guttenberg verteidigt hat, ab nächsten Monat mit einer schönen Anzeigenkampagne des Verteidigungsministeriums beglückt werden soll.

Besprochen werden das Album "Were new here" von Gil Scott-Heron und Jamie XX, die Alben "Herself" und "When the world will end" von Console und Acid Pauli & Hometrainer, hinter denen des Musikers Martin Gretschmann steht, und das Nachfolgeprojekt MEN der feministischen Elektro-Band Le Tigre, die mit ihrem Album "Talk About Body" auch in Berlin tourt.

Und Tom.

Tagesspiegel, 25.02.2011

Auch die Rolle der Universität Bayreuth in der Guttenberg-Affäre wird immer fragwürdiger. Während der Arbeit an seiner Dissertation hat sich Guttenberg an der Universität Bayreuth über seinen Familienbesitz auch als Sponsor betätigt, berichtet Rainer Woratschka. "Zwischen 1999 und 2006 seien für einen neuen Lehrstuhl an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth insgesamt 747 764,36 Euro überwiesen worden, bestätigte die Rhön-Klinikum AG dem Tagesspiegel. Guttenberg saß von 1996 bis 2002 im Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG, seine Familie hielt dort bis 2002 ein dickes Aktienpaket."

Welt, 25.02.2011

Gerhard Gnauck resümiert die Debatte um das neue Buch des Historikers Jan T. Gross, der den Polen vorwirft, sich am Holocaust bereichert zu haben. Und Ex-Außenminister Wladyslaw Bartoszewski berichtet im Interview von der Lage 1944 in Warschau: "Es kamen Menschen, Bauern, aus der Umgebung mit Pferdewagen, von deutschen Unteroffizieren eskortiert, die sich vermutlich für ein paar Dollar daran beteiligten. Diese Leute sagten den Deutschen, sie wollten ihre Sachen holen. Dann nahmen sie Kleider und Möbel mit. Wer wurde hier beraubt? Polen! Und wer hat geraubt? Polen! Diese Bereicherung hatte keinen rassistischen Hintergrund. Es war ganz einfach Gier."

Hans-Joachim Möller feiert die Frankfurter Ausstellung Eugen Schönebecks, der vor vierzig Jahren - da war er gerade dreißig - äufhörte zu malen: "Einfach so. War sie leid, die Selbstdarstellungszwänge und Durchsetzungskämpfe, die ganze Allüre der bürgerlichen Karrierebewirtschaftung."

Weiteres: Ulf Poschardt staunt zwar, wie ungeheuer zufrieden Kar-Theodor zu Guttenberg mit seiner reumütigen Performance ist, bescheidet aber allzu "schmallippigen" Moralaposteln: "Die Deutschen wollen weniger von Scheinheiligen, denn von normal verschatteten Charakteren regiert werden." Julian Heynen, Kurator der Kunstsammlung NRW, denkt über den Platz des Dokumentarfilms in der Kunst nach. Manuel Brug preist noch einmal Wim Wenders' 3D-Hommage an Pina Bausch. Heimo Schwilk berichtet von einer Berliner Diskussion untr katholiken über den Zölibat. Max Dax unterhält sich mit Bob Geldof über die Strapazen des Vielfliegens und sein neues Album "How to Compose Popular Songs that Will Sell".

Freitag, 25.02.2011

Ist Walter Kohls Buch "Leben oder gelebt werden" eine Abrechnung mit seinem Vater? Eher ist es eine Abrechnung mit der alten Bundesrepublik, meint Konstantin Neven DuMont. "In gewisser Weise kann Kohls Buch als zeitgeschichtliches Dokument der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden. Obwohl - oder gerade weil - seine Geschichte sehr speziell ist, beschreibt er indirekt den Generationenkonflikt vieler heute 40- bis 50-Jährigen mit ihren Eltern. Diese Elterngeneration hat den Zweiten Weltkrieg noch mehr oder weniger hautnah miterlebt. Der Schauspieler Peter Millowitsch drückte diesen Konflikt zehn Jahre nach dem Tod seines Vaters Willi drastisch aus. Er sagte, dass die Söhne dieser Generation von ihren Vätern nicht anerkannt würden, unabhängig davon, ob sie 'auf den Händen laufen' oder 'über Wasser gehen' könnten."

NZZ, 25.02.2011

Ernest Wichner erklärt im Aufmacher, wie schwer es einem gemacht wird, die Akten der Securitate auszuwerten: Gut siebzigtausend Akten werden noch geheim gehalten, und für die restlichen 24 Kilometer Akten wurde die "zentrale Kartei für den Zugang" nicht übergeben, so dass die Erschließung extrem schwierig ist. Der Theologe Jan-Heiner Tück möchte das Memorandum "Kirche 2011", das inzwischen 250 katholischen Theologinnen und Theologen unterzeichnet haben, als "dialogischen Anstoß zu einem Neuaufbruch der Kirche" verstanden wissen und nicht als Aufforderung zum ungeprüften Abwurf von "Traditionsballast".

Besprochen werden die Ausstellung "Jungsteinzeit im Umbruch" im Badischen Landesmuseum Karlsruhe, die neue CD von R.E.M. (Im daneben stehenden Interview erklärt Bassist Mike Mills: "Ich liebe Europa - und mag sogar die Franzosen.") sowie die Sinfonien Franz Schuberts, die gerade von David Zinman und dem Tonhalle-Orchester Zürich auf CD aufgenommen wurden.

SZ, 25.02.2011

Der Guttenberg-Skandal lässt für Thomas Steinfeld - er schreibt auf der Meinungsseite - nicht zuletzt eines zurück: eine "verheerte akademische Landschaft". Auch wenn es immerhin die Universität Bayreuth war, die Guttenbergs Sampler mit einem summa cum laude auszeichnete - Steinfeld kann die Geringschätzung der Wissenschaft kaum fassen, die sich im Umgang der Politik mit der Angelegenheit offenbart: "Die Voraussetzung für solche Lässigkeit ist die Überzeugung, dass die gesellschaftliche Sphäre, in der sich Guttenberg seine Verfehlungen hat zuschulden kommen lassen, insgesamt von untergeordneter Bedeutung ist. Und das heißt nicht nur, dass es in Deutschland Wichtigeres gibt als Wissenschaft. Sondern es heißt auch, dass Wissenschaft so unwichtig ist, dass man dort krumme Touren drehen kann, ohne in den Sphären, die wirklich wichtig sind, Konsequenzen befürchten zu müssen."

So schwierig, findet auch Johan Schloemann im Feuilleton, sollte das eigentlich nicht zu begreifen sein, was in der Causa Guttenberg der Fall ist: "Ein amtierender Bundesminister hat dreimal gelogen. Er hat zuerst die Wissenschaft, dann die Öffentlichkeit und schließlich das Parlament belogen." Eigentlich geht es Schloemann nach diesem Artikeleinstieg aber um die "Provinzialisierung" der deutschen Universitäten und um das Buch, das Reinhardt Brandt ("Wozu noch Universitäten?") gerade zum Thema veröffentlicht hat.

Weitere Artikel: Der Religionspädagoge Albert Biesinger fordert eine Refom der katholischen Kirche nach dem Muster der ersten nachchristlichen Jahrhunderte (hier das Memorandum Kirche 2011): "Dort gab es viele Presbyter und Bischöfe mit zivilen Berufen - verheiratet und ihren Gemeinden nah verbunden. Unsere Kirche müsste sich zu diesen frühen Strukturen bekehren." Über katholische Nachwuchsförderung der wenig zölibatären Art in Paraguay informiert Peter Burghardt. Werner Bloch porträtiert den Architekten Thorsten Deckler und seine Sozialprojekte in Johannesburg. Den ziemlich unehrenhaften Abschied Peter Noevers als Direktor des Wiener Museums für Angewandte Kunst kommentiert Michael Frank. Über die Schwierigkeiten, in denen die London School of Economics aufgrund ihrer engen Verbandelung mit dem libyschen Regime steckt, informiert Sonja Zekri: Die Hochschule, an der auch Gaddafis Sohn Saif studiert hat, "hatte enge Beziehungen zu Tripolis unterhalten und Stipendien in Höhe von 350.000 Euro aus der Kasse Gaddafis angenommen".

Besprochen werden ein Konzert des Quatuor Ebene mit Menahem Pressler in München, eine Jean-Marc-Reiser Ausstellung im Caricatura Museum Frankfurt, das Album "The Bird and the Beat" der Münchner Disco-Band Munk, Wim Wenders' dreidimensionale Hommage an "Pina" und Bücher, darunter Paul Murrays Roman "Skippy stirbt" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 25.02.2011

Jürg Altwegg porträtiert den monarchistisch gesinnten französischen Autor Jean Raspail, der in seinem 1973 erschienenen Roman "Das Heerlager der Heiligen: eine Vision" die Armen der Welt in Europa einfallen sah. Den US-Drehbuchautor Aaron Sorkin, dem ein Oscar für "Social Network" fast sicher ist, hat Verena Lueken in London getroffen. Über eingetretene und ausbleibende Erfolge von Frauenquoten in Spitzenpositionen der Wirtschaft in skandinavischen Ländern informiert Matthias Hannemann. In osteuropäischen Zeitschriften liest Joseph Croitoru wenig Ermutigendes zur Lage in Weißrussland.

Schlimm fände es Andreas Kilb nicht, wenn die im Pergamonmuseum befindliche Sphinx von Hattuscha ("keine Nofretete") an die Türkei zurückgegeben werden müsste (mehr dazu hier) - die Drohungen des türkischen Kulturministers, im anderen Fall die aktuellen Ausgrabungen deutscher Archäologen in Hattuscha zu unterbinden, hält er allerdings nicht für einen feinen Zug. Außerdem begrüßt Kilb die Antikensammlung zurück im Alten Museum, wo sie nun den ihr gebührenden Platz habe. Gunnar Heinsohn liest aus den vorliegenden demografischen Zahlen eine erfreuliche Zukunft für Libyen heraus.

Besprochen werden ein Berliner Konzert des Pianisten Grigorij Sokolow, eine Amsterdamer Aufführung von Peter-Jan Wagemans Oper "Legende", die Ausstellung "Freedom of Speech" im Hamburger Kunstverein und Bücher, darunter Tanja Dückers' Roman "Hausers Zimmer" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).