Heute in den Feuilletons

Containergerechtigkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2011. Die NZZ schlendert durch die Welthauptstadt des Designs und stellt Paola Ivana Suhonen und andere Newcomer vor. Die Welt fragt: sollen Amerikaner beschnitten werden? Die FAZ ist höchst beeindruckt von Messiaens Mysterienspiel "Saint Fracois d'Assise" in der Münchner Inszenierung Hermann Nitschs. In der taz schimpft Richard Stallman auf die Verwerterindustrien. Außerdem: Hoffnung für Eichborn.

NZZ, 04.07.2011

Helsinki ist 2012 "Welthauptstadt des Design". Andrea Eschbach schlendert durch die Stadt und stellt uns interessante Designer vor: "Die Kreationen der jungen Modemacherin [Paola Ivana Suhonen] sind charakteristisch für das neue finnische Design. Es bewegt sich weg von seiner Randstellung in Richtung Europas. Vorreiter waren hier die Designergruppen Valvomo [links im Bild ihr Netsurfer Computer Divan] und Snowcrash. Sie traten in den neunziger Jahren an, frischen Wind in das finnische Design zu bringen. Mit Entwürfen wie dem Airbag-Sessel oder der Globlow-Lampe, die sich beim Anknipsen aufplustert, zeigten sie, dass finnisches Design voller Witz sein kann. Snowcrash-Mitbegründer Ilkka Suppanen zählt längst zu den Arrivierten - ebenso wie Harri Koskinen, Timo Ripatti, Antti Kotilainen, Mikko Laakkonen und Terhi Tuominen, um nur einige zu nennen. Allen gemeinsam ist, dass sie an große Namen wie Alvar Aalto, Kaj Franck oder Tapio Wirkkala anknüpfen, ohne sehnsüchtig zurückblicken zu wollen. Die nächste Generation steht bereits am Start. Sie wird von Pekka Timonen gefördert, dem Direktor der Welt-Designhauptstadt Helsinki 2012. So erhielt die junge Gruppe Kokoro & Moi den Auftrag, das Corporate Design für das Großereignis zu gestalten."

Wie man Container als Architekturbausteine nutzen kann, erfuhr Peter Andres in einer Ausstellung im NRW-Forum Düsseldorf. Neben Branding-Architektur und Kunst gab es auch Projekte, die wirklich Architektur sein wollten. Zum Beispiel von Han Slawik, der schon in den 80ern mit Containern arbeitete. Er prägte "den Begriff der 'Containergerechtigkeit'. Damit ist gemeint, dass der Container möglichst nur entsprechend seiner Bau- und Stapelweise eingesetzt werden soll. Zusätzliche Ertüchtigungen, die sich durch eine Herausnahme von Elementen oder eine unkonventionelle Stapelweise ergeben, gilt es zu vermeiden, nicht zuletzt um den Low-Budget-Charakter sicherzustellen." (Bild: Luc Deleus "Hoorn Bridge")

Außerdem: Markus Ganz berichtet vom 45. Montreux Jazz Festival, Jürg Huber von den St. Galler Festspielen.

Berliner Zeitung, 04.07.2011

Sabine Vogel begutachtet vorsichtig die neue Wellnessreligion Yoga, die Ravi Shankar am Samstag im Berliner Olympia-Stadion zelebrierte: "Zum multikulturellen Festauftakt wurde im Olympiastadion die Nationalhymne gesungen. 300 Polinnen und Polen führten ihre Volkspolka 'Orbete' auf, 2000 Bulgaren in Folkloretracht formierten sich zu einem Reigen, kanadische Indianer machten auf eingeboren, und argentinische Tangotänzerinnen strauchelten mit ihren Stilettos im Rasensumpf, Ballerinen aus Petersburg glitschten beim Schwanensee-Ballett aus - und erhielten Beifall fürs Weitermachen, 800 Yogis legten ihre Matten in schnurgerade Reihen und grüßten die Sonne als esoterische Synchrongymnastik. Das hätte sich Leni Riefenstahl so nicht träumen lassen."

TAZ, 04.07.2011

Es besteht noch Hoffnung für den Eichborn Verlag, berichtet Christoph Schröder aus Frankfurt. Er hat auch mit dem Insovenzverwalter Holger Lessing gesprochen. Vorerst aber sind selbst die Autoren Gläubiger: "Der Fall der Autorin Katja Kullmann, die in ihrem vor wenigen Tagen erschienenen Buch 'Echtleben' von ihrer geheimen Existenz als Hartz-IV-Empfängerin berichtet und die nun erst einmal auf den Rest ihres Honorars warten muss, erscheint in diesem Zusammenhang wie eine bittere Zuspitzung der Gesamtsituation."

Im Interview mit Meike Laaff findet der Internetaktivist Richard Stallman ("Wir alle sind auf dem Weg nach Tycho") deutliche Worte für die Kulturindustrie: "Sharing ist eine gute Sache. Statt nach Wegen zu suchen, wie man die Leute davon abhalten kann, sollten Regierungen es legalisieren. Es sind einzig private Interessen, die das stoppen wollen, nämlich die Urheberrechtsindustrie. Große Unternehmen und die Copyright-Industrie haben sich widerlicher Verbrechen schuldig gemacht."

Im Kulturteil berichtet Cord Riechelmann außerdem von einem Auftritt des Philosophen Alain Badiou in Berlin. Rudolf Walther verfolgte einen Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema Demokratie, Wissenschaft und Politik. Und "CAK" geißelt eine antisemitische Anzeigenkampagne in der linken Schweizer WOZ.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten des Schweizer Modeillustrators François Berthoud in Zürich, ein Opernspektakel des Münchner Projekts 80*81 und Konzerte eines Folkmusik-Festivals in Rudolstadt.

Und Tom.

FR, 04.07.2011

Jens Balzer untersucht die "Retromania" im Pop. Robert Kaltenbrunner plädiert für Kleinteiligkeit, Durchmischung und Kompaktheit unserer Großstädte. Auf der Medienseite berichtet Ulrike Simon über finanzielle Unregelmäßigkeiten beim Journalistenverein Netzwerk Recherche: "Es gibt keinen Hinweis, dass sich jemand persönlich bereichert hat." Simon berichtet auch, das der zweite Vorsitzende des Vereins, SZ-Journalist Hans Leyendecker, gedroht hat, er werde zurücktreten, falls Thomas Leif nicht zurücktritt.

Besprochen werden Hermann Nitschs Inszenierung von Olivier Messiaens Mysterienspiel "St. Francois d?Assise" bei den Münchner Opernfestspielen, Martin Schläpfers Choreografie zu Brahms' "Deutschem Requiem" an der Deutschen Oper am Rhein und Tagebücher von Erich Mühsam, die der Verbrecher Verlag - mit Anmerkungen des Herausgeber Chris Hirte und Conrad Plens - frei zugänglich ins Netz gestellt hat.

Welt, 04.07.2011

Klaus Kalchschmid ist anders als andere Kritiker von Hermann Nitschs Münchner Inszenierung des "Saint-Francois d'Assise" nicht so begeistert: "Während der halbstündigen Vogelpredigt des Heiligen explodierten Hunderte von bunten Piepmätzen auf riesiger Leinwand und raubten dem Zuseher den letzten Nerv."

In den USA grassiert eine von antisemitischen Tönen nicht ganz freie Debatte um Beschneidung, berichtet Hannes Stein. Bei dieser Gelegenheit erfährt man: "Amerika ist das einzige kulturell christlich geprägte Land, in dem die Mehrheit der männlichen Säuglinge als Teil einer Routine beschnitten wird. Manche Kulturhistoriker führen dies darauf zurück, dass sich in Großbritannien am Ende des 19. Jahrhunderts die Legende verbreitet habe, Beschneidung beuge der Masturbation vor, die damals als entsetzliches Laster angesehen wurde"

Weitere Artikel: Thomas Kielinger geißelt in der Leitglosse die Undankbarkeit der Deutschen die, anders als osteuropäische Länder, Ronald Reagans hundertsten Geburtstag schweigend übergehen. Manuel Brug feiert Martha Argerich, die ihre siebzigsten Geburtstag bei ihrem Festival in Lugano mit einer Tango-Nacht auf der Piazza beging. Michael Pilz nimmt eine neue Platte Brian Enos zum Anlass, das Werk des Pop-Avantgardisten zu würdigen. Stefan Koldehoff greift eine Recherche des Magazins Artnews auf, das die Meldung von der Entdeckung eines Bildes von Leonardo lancierte - sie sollte erst anlässlich einer großen Leonardo-Schau in London bekanntgegeben werden. Es handelt sich um einen der Mona Lisa erstaunlich ähnlich sehenden Christus in der Pose des "Salvator Mundi". Cosima Lutz resümert das Münchner Filmfestival.

SZ, 04.07.2011

Beim Netzwerk Recherche, das sch stets für Transparenz ausspricht, kam es zu Unregelmäßigkeiten, der Vorsitzende Thomas Leif ist bei der Jubiläumsversammlung spektakulär abgegangen, berichtet Ralf Wiegand: "Aller Wahrscheinlichkeit nach sind Zuschüsse für die NR-Jahrestreffen in einer Gesamtsumme von bis zu 75.000 Euro, verteilt über vier Jahre, von der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) an Netzwerk Recherche geflossen, die nie hätten bezahlt werden dürfen. Denn die Behörde unterstützt solche Veranstaltungen nur dann, wenn diese Verlust machen. Ein Defizit haben die NR-Tagungen offenbar nie erwirtschaftet - in den Förderanträgen an die BPB aber ausgewiesen."

Im Feuilleton ist auf Seite 1 Günter Grass' Eröffnungsrede zum Treffen des Netzwerks Recherche abgedruckt - Grass wirft den Journalisten vor, die Wiedervereinigung nicht ausreichend als Einverleibung des Ostens durch den Westen dargestellt und den entfesselten Kapitalismus nicht deutlich genug benannt und bekämpft zu haben. Jens Bisky resümiert ein Protesttreffen von Wissenschaftlern aus dem Umfeld des "Heidelberger Appells" gegen die Deutsche Forschungsgemeinschaft - unter anderem wurde bemängelt, dass die DFG Open Access fördert (was den im übrigen mit dem Treffen sympathisierenden Jens Bisky zu dem Kommentar veranlasst: "Nun ist es etwas albern, sich gegen die digitale Revolution zu stellen. Wenn die DFG dafür sorgt, dass Digitalisierung und Internet-Publikationen mit mehr bibliothekarischem Sachverstand erstellt werden, als dies die Analphabeten von Google tun, kann sich der Leser nur freuen.") Niklas Hofmann verfolgte in London ein Gespräch das Schwadroneurs Slavoj Zizek und des Verschwörers Julian Assange (hier ein Video der Veranstaltung).

Besprochen werden Tom Hanks' Film "Larry Crowne" (mehr hier), Herbert Fritschs Inszenierung der Farce "Die spanische Fliege" an der Berliner Volksbühne, Messiaens Oper 'Saint François d"Assise' unter Kent Nagano und Hermann Nitsch in München, neue DVDs und eine Zürcher Ausstellung zum 100. Geburtstag von Max Frisch.

FAZ, 04.07.2011

Eine äußerst beeindruckende Aufführung hat Gerhard R. Koch bei den Münchner Opernfestspielen erlebt. Die Inszenierung von Olivier Messiaens "Franziskus"-Oper befand sich zu seiner Freude inszenatorisch (am Werk war der Blut- und Aktionskünstler Hermann Nitsch) wie musikalisch (Dirigent: Kent Nagano) auf höchstem Niveau: "Insgesamt wandert man von Blutrot über die weiße, immer dichter mit Blutbahnen überzogene Riesenleinwand zum Sonnengelb, bis zum schockierenden, wahrhaft blendend weißen Lichtwunder der das Publikum blendenden Scheinwerfer. Insgesamt entsprach die Deutungsvielfalt der Nitsch-Konzeption Messiaens Vielschichtigkeit, gerade weil es, Gott sei Dank, noch keine irgend verbindliche Aufführungstradition gibt und er die Blut- und Schmerz-Dimension des Stoffes unmittelbar ernst nimmt."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus berichtet begeistert vom Besuch der neuen Tropenhalle des Leipziger Zoos namens "Gondwanaland", in der die Tiere artgerecht gehalten, auf spektakuläre Effekte dennoch nicht verzichtet wird: Jetzt muss nur eines Tages das scheue Tapier noch aus dem Gebüsch kommen. Nur zu gut versteht Andreas Rossmann den Bonner Generalintendanten Klaus Weise, der aufgrund jüngster Kürzungsbeschlüsse für das Theater seinen Vertrag nicht verlängern will. Das Moskauer Filmfestival hat Kerstin Holm besucht: Dabei flohen aus dem Science-Fiction-Film "Die Zielscheibe" nach Drehbuch von Wladimir Sorokin die Zuschauer in Scharen. Zwar will er mit der Sprache nicht klar heraus, jedoch hört man leisen Spott in Martin Ottos Bericht über die recht gründlich entnazifizierenden Straßennamen-Umbenennungen in Celle. Dirk Schümer war beim Barock-Festival in Versailles. Außerdem schreibt er eine Glosse über Friseurladennamen von "Haarlekin" bis "Haaresbreite" und wartet nur noch auf "Haartz 4".

Besprochen werden Bücher, darunter das von Martin Warnke und anderen herausgegebene "Handbuch der Ikonographie" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).