Heute in den Feuilletons

2000PutIN, 2012PutOUT

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2012. Die FAZ erzählt, warum Georg Baselitz so schlecht auf Berlin zu sprechen ist. Die FR gelangt nach längerem Nachdenken zur Verneinung eines Tweets von Erika Steinbach. Die NZZ ist begeistert über ein kammermusikalisches "Rheingold" in München. Die Zeit ist sehr aktiv in der Berichterstattung über Acta: Das Abkommen, auf dem die Hoffnungen der Verwerterindustrien beruhen, soll demnächst ratifiziert werden - aber Polen steigt aus. In den Blogs wird unterdes nicht mehr nur über das "geistige", sondern auch über das physische Eigentum diskutiert.

NZZ, 06.02.2012

Mit Begeisterung hat sich Peter Hagmann in München das "Rheingold" angesehen, das Andreas Kriegenburg und Kent Nagano als Menschengeschichte in Szene setzen: "Nie jüngerer Zeit ist so deutlich geworden, was für Vorteile eine kammermusikalische Auffassung des gewaltig beladenen Orchesterparts bringen kann. Nicht nur brauchen die Sänger nicht zu forcieren, nicht nur ist der Text vergleichsweise gut zu verstehen, fassbar wird vor allem die Schönheit der Partitur. Ihr ebenso verhüllter wie expliziter Bau, das Sprachähnliche, der Farbenreichtum."

Weiteres: Franz Zelger feiert die Ausstellung des englischen Tiermalers George Stubbs, des Meister der aristokratischen Sporting Art, in der Münchner Pinakothek. Darun Hintze resümiert das Festival Emergency Entrance, wo das Dokumentartheater das Gebot der Stunde war. Besprochen wird außerdem eine Adaption von Dürrenmatts "Versprechen" im Zürcher Schauspielhaus.

Weitere Medien, 06.02.2012

Die deutsche Regierung hat Acta, das internationale Abkommen, mit dem die Verwerterindustrien recht drastisch gegen Urheberrechtsverletzungen vor allem im Internet vorgehen wollen, noch nicht unterzeichnet, will dies aber bald tun. Darum sind am kommenden Samstag in Deutschland Demonstrationen geplant: Wann und wo in welchen Städten, erfährt man hier. Die Amerikaner, die gerade die Netzsperren-Gesetze Sopa und Pipa verhindert haben, setzen auf uns, berichtet Patrick Beuth auf Zeit online: "'In Ordnung Europa, wir haben Sopa und Pipa aufgehalten und zählen jetzt auf euch, dass ihr Acta stoppt', schreibt Dylan Stoffer aus dem US-Bundesstaat Nebraska bei Twitter. Es gibt dieser Tage viele solcher Tweets aus den USA."

Die Polen haben ihren Teil schon dazu beigetragen. Nachdem letzte Woche Tausende Menschen gegen Acta protestiert hatten, hat Polens Ministerpräsident Donald Tusk jetzt die Ratifizierung des Abkommens ausgesetzt, meldet Zeit online. "'Ich teile die Ansicht derjenigen, die von unvollständigen Beratungen sprechen', sagte Tusk in Warschau. Bei den Beratungen über Polens Unterschrift unter das Abkommen, das Urheberrechtverletzungen im Internet verhindern soll, seien Internetnutzer nicht gehört worden, kritisiert Tusk."

In Polityka erklärt sich (hier auf Deutsch) Edwin Bendyk den Grund für die Proteste in Polen so: Der öffentliche Raum wird immer stärker von Erwachsenen kontrolliert - vom Fußballplatz bis zur Kneipe. "Das Netz ist - so die ethnografische Untersuchung 'Junge Menschen und Medien' - zu einer Dimension des gesellschaftlichen Raumes geworden, wo Internetuser - in Polen per definitionem junge Menschen - selbstständig, außerhalb des Sichtfeldes der Erwachsenen, Lehrer, Polizisten und Politiker über ihr Leben bestimmen: Sie nehmen an Kultur teil, kommunizieren, lösen gemeinsam Probleme, koordinieren ihre realen Aktivitäten." Acta werde hier darum als Bedrohung empfunden.

Mehr Informationen über Acta in der Wikipedia, hier die deutsche Übersetzung des Abkommens und hier viele weiterführende Links zum Thema bei Netzpolitik. Im Blog des Rechtsanwalts Thomas Stadler gibt es eine lebhafte Diskussion darüber, ob Acta für Deutschland relativ unwichtig ist, weil hier eh schon alles verboten ist, was Acta nicht erlaubt. (via neunetz)

Welt, 06.02.2012

Zum Achtzigsten hat Gerhard Richter der Welt am Sonntag eines seiner gar nicht mehr so seltenen Interviews gegeben und kokettiert mit seiner Scheu vor Retrospektiveneröffnung und Feierlichkeiten: "Ja, es ist schrecklich. Mein Freund Kasper König hat schon gesagt, ich solle aufpassen, dass der Wulff nicht zur Eröffnung kommt. Ich habe dann Udo Kittelmann gefragt, den Direktor der Nationalgalerie, aber der sagte, nee, das wüsste er."

Außerdem in der Welt am Sonntag: Richard Kämmerlings bespricht Christian Krachts neuen Roman "Imperium", der von dem historischen Aussteiger August Engelhardt handelt.

Für die heutige Welt porträtiert Christina Hoffmann die russisch-deutsche Autorin Olga Grjasnowa, die mit ihrem ersten Roman "Der Russe ist einer, der Birken liebt", Aufmerksamkeit erregt. Manuel Brug erzählt mit Vergnügen den einen oder anderen Skandal aus der Welt des klassischen Tanzes nach.

Besprochen werden das "Rheingold" unter Andreas Kriegenburg und Kent Nagano in München, Alvis Hermanis' Inszenierung von Maxim Gorkis "Wassa" an den Münchner Kammerspielen sowie (in der selben Besprechung) Roland Schimmelpfennigs Spektakel "Das fliegende Kind" in Wien und eine Ausstellung über die Zeichensprache der Macht im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Tagesspiegel, 06.02.2012

Ach nee, der existiert noch? Der Tagesspiegel bringt einen Auszug aus dem neuen Buch des einst so einflussreichen Polemikers Wolfgang Pohrt, "Kapitalismus Forever". Hier nimmt er unter anderem den Islam in Schutz: "Als Mordmaschine war das Christentum effizienter. Die Indianer in Südamerika und später in Nordamerika plattgemacht, im 30-jährigen Krieg einander verhackstückt, die Scheiterhaufen, die Folterkammern und die beiden Weltkriege mit an die 70 Millionen Toten - waren das etwa keine Christen? Und Auschwitz? Waren das die Moslems?"

Aus den Blogs, 06.02.2012

Ansgar Heveling hat es hingekriegt, dass sich nach seinem fundamentalistischen Artikel gegen das Netz und für das "Geistige Eigentum" noch eine wesentlich differenziertere Debatte entspinnt: die um den Begrif des "Eigentums" selbst. Das Internet, konstatiert Michael Seemann in seinem Blog mspr0.de verflüssigt auch physisches Eigentum, wie sich an Plattformen zeigt, die es ermöglichen die eigene Wohnung wie ein Hotelzimmer zu vermieten: "Das Internet und die begleitenden Technologien sind gerade auch dabei einen anderen Markt zu einem Mietmarkt umzugestalten. Ein Auto war immer etwas, was man selbst besaß. In den Städten können wir aber sehen, dass immer mehr Carsharing-Dienste auftauchen.... Wir sehen also, dass in unserem Leben das Ressourcen-Verteilungsmodell über Eigentum immer mehr an - zumindest funktionaler - Bedeutung verliert." Auf diesen Artikel antwortet Matthias Schwenk in seinem Blog bwl zwei null.

Daniel Vernet erinnert in slate.fr an eine Episode aus der Zeit als der Sozialist Lionel Jospin in Frankreich regierte und der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder zu Besuch in Paris war. "Er kommt aus dem Büro des damaligen Wirtschafts- und Finanzministers Dominique Strauss-Kahn. 'Ich hoffe, dass Frankreich die 35-Stundenwoche einführt. Das wird der deutschen Industrie guttun', erklärt dieser Sozialdemokrat in einem halb amüsierten, halb zynischen Sprüchlein. Er orientiert sich mehr an Tony Blairs drittem Weg als am französischen Colbertismus."

FR/Berliner, 06.02.2012

Christian Thomas schreibt ernstlich einen ausgreifenden Essay über diesen Tweet der CDU-Abgeordneten Erika Steinbach: "Die NAZIS waren eine linke Partei. Vergessen? NationalSOZIALISTISCHE deutsche ARBEITERPARTEi...", der von der Linkspartei aber auch erfolgreich abgewehrt wurde: "absolute frechheit! absurd! nix begriffen! ich glaub es hackt." Zur allgemeinen Erleichterung holt Thomas dann noch ein universitäres Gutachten ein: "Die NSDAP, so der Historiker Heinrich August Winkler den Gedanken Steinbachs kommentierend, war 'das organisierte und extremste Nein zu allem war, wofür linke Parteien standen.'"

Besprochen wird Hans Falladas "Trinker" in der Regie Sebastian Hartmanns am Berliner Gorki-Theater.

TAZ, 06.02.2012

Die Bitterfelder Solarfirma Q-Cells steht vor der Pleite. Im Interview beklagt Monika Maron, die über das Unternehmen in ihrem Buch "Bitterfelder Bogen" berichtet hat, eine völlig absurde Subventionspolitik und das Ende dieses Gründerzeitwunders: "Wenn es eine begeisternde Ost-West-Geschichte gibt, dann ist es diese. Leute, die sich gleichrangig begegnet sind. Die einen hatten keine Arbeit, die anderen kein Geld. Zusammen hatten alle, was sie brauchten."

Weiteres: Philipp Goll war in Siegen auf einer Tagung über die Boheme, der Übles droht: "Bohemisierung von oben muss man es nennen, wenn prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse auf Dauer gestellt sind und nicht mehr als Wahlmöglichkeit offenstehen." Ulrich Gutmair besucht im Berliner HBC eine Ausstellung der Fotos von Hans Martin Sewcz und Ben de Biel, die Mitte kurz vor und nach der Wende zeigen. Andreas Klaeui hat sich Lukas Bärfuss' neues Stück "20.000 Seiten" im Zürcher Schauspielhaus angesehen.

Und Tom.

SZ, 06.02.2012

Dirk von Gehlen fasst die Positionen zur Urheberrechtsverschärfung SOPA der Musiker Duff McKagan (dafür) und Jonathan Coulton (dagegen) zusammen und wünscht sich eine Versöhnung beider Standpunkte. Alexander Menden informiert über Alain de Bottons Vorhaben, in London einen Tempel für Atheisten zu bauen (mehr). In den "Nachrichten aus dem Netz" bietet Michael Moorstedt einen Überblick über die Formen des Protests gegen SOPA. Henning Klüver informiert, dass Umberto Eco in Italien eine überarbeitete Fassung von "Der Name der Rose" ohne Kürbisse, Paprika und Violinen herausgebracht hat. Fritz Göttler erinnert im Nachruf an den großen Schauspieler Ben Gazzara - hier legt er in einer umwerfenden Szene aus Vincent Gallos "Buffallo '66" eine Platte auf:



Auf der Medienseite stellt Stefan Fischer den Hörspielpark vor, wo man ausgesuchte Radiohörspiele entgeltlich herunterladen kann.

Besprochen werden das "Rheingold" an der Bayerischen Staatsoper, dessen Regisseur Andreas Kriegenburg laut Reinhold Brembeck "auffallend wenig mit den mythologischen Elementen des Stücks anfangen" kann, eine Ausstellung zu Mario Adorf in der Berliner Akademie der Künste, eine Ausstellung mit archäologischen Artefakten aus Saudi-Arabien im Museum für islamische Kunst in Berlin, Alvis Hermanis Inszenierung von Maxim Gorkis "Wassa" an den Münchner Kammerspielen, Gerhard Richters in der Dresdner Kunsthalle im Lipsiusbau ausgestellte Monumental-Collage "Atlas" und Bücher, darunter Philippe Claudels Kriminalroman "Die Untersuchung" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 06.02.2012

An der Berliner Peripherie, in der Villa Schöningen, stellt Georg Baselitz seine Werke aus der Berliner Zeit aus - einige davon waren noch nie zu sehen, obwohl er sie zu seinen wichtigsten zählt. Lisa Zeitz erklärt, warum man zu Baselitz so weit reisen muss: "Sein Verhältnis zu Berlin als gespalten zu bezeichnen, wäre zu wohlmeinend - er hat eine aggressive Wut auf die Berliner Museumslandschaft, auf die westdeutschen Museumsleute, die sich damals nicht um Ankäufe der wichtigen deutschen Künstler gekümmert haben, nicht um seine, aber auch nicht um Richter, Polke, Kiefer... 'Die Nationalgalerie verdient den Namen Nationalgalerie nicht, weil sie ihrer kulturellen Verpflichtung nicht nachgekommen ist, im Gegensatz zur Nationalgalerie-Ost. Jetzt hat die Nationalgalerie große Konvolute von Ostkünstlern wie Tübke, Matheuer und Sitte - nichts aber von Westkünstlern. Das ist doch jetzt eine Gruselkammer!'"

Weitere Artikel: Die unermüdliche, tapfere und kälteresistente Kerstin Holm hat die Moskauer Demokratiebewegung bei minus zwanzig Grad zur Demo begleitet und ein wunderbares Transparent gesehen: "2000PutIN, 2012PutOUT". Dirk Schümer schildert die italienische Trübsal über den Weltruhm des "Selbstevakuierers von der 'Costa Concordia'", Käpt'n Schettino. Andreas Kilb schreibt zum Tod von Ben Gazzara.

Besprochen werden Alvis Hermanis' Inszenierung von Maxim Gorkis "Wassa" in den Münchner Kammerspielen, der Film "Underworld: Awakening", das "Rheingold" unter Andreas Kriegenburg und Kent Nagano in München und Bücher Heinrich Meiers Rousseau-Studie "Über das Glück des philosophischen Lebens" (mehr in unserer Bucherschau ab 14 Uhr).